Das erste Mal, als ich bewusst über Verkehr und Sprache nachdachte, war 2006. Ich nahm als Journalist an einem sehr merkwürdigen Prozess teil. Vor dem Richter stand ein zur «Tatzeit» nicht ganz achtjähriges Mädchen, das sich von einem Auto hatte anfahren lassen.
Das Mädchen wollte auf seinem Schulweg die Straße überqueren, als ein Auto es anfuhr und verletzte. Die Polizei befragte Kind und Fahrer. Der Fahrer gab an, korrekt gefahren zu sein, der Staatsanwalt stellte das Verfahren ein (Messungen der Bremsspuren durch die Familie des Mädchens zeigten, dass das Auto zu schnell gefahren war – aber Polizei und Staatsanwaltschaft hatten auf solche Messungen verzichtet).
Die Eltern fochten den Entscheid an und bekamen vor Gericht – selbstverständlich – Recht. Als Beobachter fiel mir aber eine Aussage der Jugendanwältin auf. Sie sprach davon, dass sich an der Stelle, wo das Auto das Kind anfuhr, normalerweise ein Fußgängerstreifen befinde, der nun aber wegen Belagsarbeiten entfernt worden war. An seiner Stelle gab es zu diesem Zeitpunkt nur Kreidemarkierungen. Die Jugendanwältin sagte in ihrem Plädoyer:
«Für Verkehrsteilnehmer war diese Vormarkierung auf der Strasse schlecht erkennbar.»
«Verkehrsteilnehmer» vs. Verkehrshindernis
Das ist interessant: «Verkehrsteilnehmer» ist im Verständnis der Jugendanwältin offenbar nur, wer so schnell unterwegs ist, dass er Kreidestriche auf der Fahrbahn schlecht erkennen kann. Da ereignet sich ein Zwischenfall zwischen zwei Menschen im Verkehr – aber nur einer der beiden Menschen ist aus der Sicht der Jugendanwältin ein «Verkehrsteilnehmer». Das Kind muss etwas anderes sein.
Man könnte vermuten, dass dies einfach die Sicht einer Person sei, die die Welt nur aus Autofahrerinnenperspektive wahrnimmt. Nun, ich kenne diese Frau nicht. Aber die Ungeheuerlichkeit ihrer Aussage war selbst dem Vertreter der Familie des Mädchens entgangen. Es ist offenbar normal, mit «Verkehrsteilnehmer» nicht alle Menschen im Verkehr zu meinen.
Das bestätigt nolens volens auch die Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich, die gewillt ist, etwas für Velos zu tun: Sie will laut Medienmitteilung die «Bedingungen für den Veloverkehr verbessern». Aber wie nennt sie das Projekt? «Verkehrsarme Langstrasse»! Offenbar ist der Verkehr, der da gefördert werden soll, nicht so richtig Verkehr.
Oder das Bundesamt für Straßen: Der Bundesrat will die Einführung von Tempo 30 (statt 50) erleichtern, hat er letzte Woche mitgeteilt. Allerdings nur auf «siedlungsorientierten Straßen». Auf den «verkehrsorientierten Straßen» soll weiterhin grundsätzlich Tempo 50 gelten.
Eine interessante Unterscheidung! Offenbar gibt es Straßen, die dienen dem Verkehr – und Straßen, die dienen irgendwas Anderem. Das Unterscheidungskriterium ist die Geschwindigkeit. Und normal ist die hohe Geschwindigkeit: Die geringere – Tempo 30 – muss von den Behörden verfügt werden; heute braucht es dazu sogar ein Gutachten. Tempo 50 gilt ohne Verfügung.
(Interessanterweise nennt man beim Bundesamt für Straßen Velo- und Fußverkehr «Langsamverkehr». Das ist, wenn man Geschindigkeit als Kriterium dafür nimmt, was überhaupt Verkehr sei, natürlich ein Oxymoron. «Langsamverkehr» ist sowas wie eine «Veggiewurst», die eigentlich keine Wurst ist.)
Das führt mich zu einem Zwischenfazit: Es gibt zwei Arten von Subjekten, die auf den Straßen unterwegs sind: Verkehr – und anderes. Der Verkehr, das ist der eigentliche Zweck der Straße, zumindest der «verkehrsorientierten». Das Unterscheidungsmerkmal ist die Geschwindigkeit. Das Andere, das sind zum Beispiel Kinder, «Langsamverkehr» (Fußgänger:innen, Velofahrer:innen) oder Tiere. Das Andere gehört eigentlich nicht auf die Strasse, es muss die Straße «überschreiten» (Straßenverkehrsgesetz), überqueren: Es ist quer zu dem, wofür die Straße eigentlich ist: zum Verkehr. Es ist das, was stört.
Das ist eine radikale Umwertung.
Eines der ersten Straßenverkehrsgesetze der Welt war der Locomotives on Roads Act von 1861. Mit «Locomotives» bezeichnete man damals Motorfahrzeuge, in erster Linie landwirtschaftliche Dampfmaschinen – Lokomotiven eben, die aber nicht auf Schienen fuhren. In seiner überarbeiteten Fassung von 1865 verlangte das Gesetz, dass jedes Fahrzeug von drei Personen begleitet werde, wovon einer mit einer roten Flagge oder nachts mit einer Laterne mindestens sechzig Schritt vor dem Fahrzeug hergehen musste (man nannte das Gesetz auch Red Flag Act). Was war der Sinn davon? Den Verkehr zu warnen:
« … one of such Persons (…) shall procede such Locomotive on Foot by not less than Sixty Yards, and shall carry a Red Flag constantly displayed, and shall warn the Riders and Drivers of Horses of the Approach of such Locomotives (…) the Drivers of such Locomotives shall give as much Space as possible for the passing of other Traffic (…) »
«Traffic»: Damit waren hier die « Riders and Drivers of Horses» gemeint. Die Fußgänger:innen wurden schon damals unterschlagen, aber natürlich machten sie die Hauptsache des Verkehrs auf den Straßen aus, und die Richtgeschwindigkeit war die eines zu Fuß (vor dem Fahrzeug her-)gehenden Menschen.
Die Idee, dass die Straße in erster Linie für Autos da sei, existierte vor dem zweiten Weltkrieg noch nicht. Das illustriert auch ein Gerichtsurteil des Aargauer Obergerichts, in dem es heißt,
«dass ein Fussgänger auf der Strasse völlig frei ist, wo er gehen will, dass ferner nicht nur normalhörige, sondern auch schwerhörige Personen, ja sogar Taubstumme und Leute mit schweren Holzschuhen die Strasse betreten dürfen. (…) Die Fussgänger nämlich gefährden andere nicht; das Gefahrenmoment aber schafft das Automobil, das mit bedeutend grösserer Schnelligkeit als der Fussgänger sich fortbewegt.»
Das Wort «Verkehr» fehlt hier, aber klar ist: Fußgänger haben ihr Recht auf die Straße! Interessant auch: Ein Fußgänger durfte die Straße «betreten» und sich dann darauf aufhalten, « wo er gehen will»; er (oder sie) musste sie noch nicht «überschreiten», und zwar «möglichst auf einem Fußgängerstreifen», um sie schnellstmöglich wieder zu verlassen. Die Fußgänger:innen waren Verkehr; das «Automobil» war es, das diesen Verkehr stört respektive gefährdet.
(Ein kleiner Exkurs: Heute scheinen Fußgängerstreifen etwas Fußgängerfreundliches zu sein, denn sie sagen: Hier darfst du. Aber in einer Zeit, als es ein selbstverständliches Recht der Fußgänger:innen war, sich auf der Straße aufzuhalten, lautete die Botschaft der Streifen: Überall sonst darfst du nicht mehr. Entsprechend lehnte die zu Fuß Gehenden die gelben Streifen bei ihrer Einführung ab.)
Tötungsdelikt vs. «Kann ja mal passieren»
Zurück in die Gegenwart.
Am 28. Mai 2021 berichtet die SDA:
«Velofahrer bei Kollision mit Motorrad getötet – Ein 72-jähriger Velofahrer ist am Mittwochnachmittag auf der Strasse zwischen Aigle und Le Sépey im Kanton Waadt von einem Motorradfahrer angefahren worden. Der Deutschschweizer stürzte schwer und starb noch an der Unfallstelle.»
Ein Velofahrer wird angefahren, stürzt, stirbt – so berichtet es die Agenturmeldung.
Der Velofahrer war Hanspeter Guggenbühl; ein Berufskollege. Er war regelkonform gefahren; der Motorradfahrer hatte überholt und Hanspeter auf dessen Spur frontal gerammt. Ich twitterte:
«Hanspeter, einer der besten, kritischsten Journalisten zu Energie und Klima der deutschen Schweiz, ist tot. Umgebracht auf dem Velo von einem Töfffahrer. Wie traurig. Wie sinnlos.»
Ich bekam darauf zwei Antworten:
«Das ist wirklich traurig. Aber dem 21-jährigen Motorradfahrer quasi vorsätzliche Tötung vorzuwerfen, geht dann doch zu weit. Es war ja ein Unfall und keine Absicht.»
Ich hatte von «Absicht» nichts gesagt. Offenbar wird es als Unterstellung einer Absicht verstanden, wenn man ein Tötungsdelikt Tötungsdelikt nennt und nicht «Unfall».
Die zweite Antwort:
«So etwas geht wahnsinnig schnell. Und wer macht schon keine Fehler auf einem Fahrzeug. Egal ob Velo, Auto oder Motorrad.»
Diese Tweetantwort ist offensichtlich unsinnig: Natürlich ist es nicht egal, mit was für einem Fahrzeug (und mit welcher Geschwindigkeit) man einen «Fehler» begeht. Aber die Wertung ist bezeichnend: Das Delikt ist ein «Fehler», der jedem passieren kann – «wer macht schon keine». Wenn der Zweck der Straße der Verkehr ist und zum «Verkehr» nur Autos und Motorräder zählen, dann sind Tötungsdelikte auch keine Delikte, sondern tragische «Unfälle».
Die traurige Geschichte erinnerte mich an eine Recherche, die ich vor neun Jahren in WOZ und Velojournal veröffentlicht habe. Ich schrieb über die verharmlosende Sprache von Verkehrsunfallmeldungen.
Sie kennen alle diese Meldungen: Es heißt nie: Autofahrerin tötet Fußgänger. Sondern dieser Sachverhalt wird umschrieben mit Wendungen wie «Fußgänger erliegt nach Kollision mit Auto seinen Verletzungen.»
Mit meinem Artikel wollte ich vor allem die Kolleg:innen auf den Redaktionen kritisieren, die entsprechende Polizeimeldungen unredigiert ins Blatt setzen. Dabei wäre es ihr Job, aus schlechten Medienmitteilungen verständliche Texte zu machen. Aber ein verständlicher Text über ein Verkehrsdelikt würde als unbotmäßige Schuldzuweisung empfunden.
Der Artikel bescherte mir eine Einladung der Verkehrspolizei Basel-Stadt. Ich durfte an einer Weiterbildungsretraite einen Vortrag über die Sprache von Unfallmeldungen halten. Dem Kommandanten der Verkehrspolizei hatte mein Artikel gefallen – es sollte sich zeigen, dass er damit in seinem Korps ziemlich alleine stand.
Die Einladung war folgerichtig, denn die Art und Weise, wie über Delikte im Straßenverkehr gesprochen wird, prägt unsere Wahrnehmung: Dazu gibt es mittlerweile sozialwissenschaftliche Forschungserkenntnisse.
Die Weiterbildung fand im Schwarzwald in Titisee statt. Die Polizeibeamten und Beamtinnen reisten alle mit ihrem Auto an; ich fuhr mit der S-Bahn bis an die deutsche Grenze und von da mit dem Rennvelo nach Titisee. Einige der Polizist:innen ließen mich im Smalltalk beim Apero in leicht jovialem Ton wissen, dass auch sie manchmal am Sonntag mit dem Rennvelo in den Schwarzwald führen.
Nach meinem Vortrag war die Stimmung im Publikum leicht frostig, und ein Polizeibeamter sagte, das sei das glühendste (er meinte: einseitigste) Plädoyer fürs Velo, das er je gehört habe. Dabei hatte ich überhaupt nicht über Velos gesprochen; in meinem Beispielen waren Fußgänger:innen die Opfer.
Die Linguistin Elisabeth Wehling hat Experimente gemacht, bei denen sie Proband:innen einen Text vorlas, in dem die Wörter «Nagel» und «schlagen» vorkamen. Die meisten waren danach überzeugt, das Wort «Hammer» gehört zu haben, obwohl das nicht der Fall war. Die Erklärung: «Nagel», «schlagen» und «Hammer» gehören zum selben semantischen Feld. Man erinnert sich nach dem Hören eines Texts an die semantischen Felder, die durch den Text aktiviert wurden, aber nicht mehr an die einzelnen Wörter.
Genau so hatte der Polizeibeamte «Velo» gehört, wo ich nicht vom Velo gesprochen hatte. Dadurch, dass ich mit dem Velo angereist war, war schon einmal ein semantisches Feld aktiviert. Was umfasst dieses Feld sonst noch? Wenn meine These stimmt, dass die allgemeine Wahrnehmung des Straßenverkehrs zwischen «Verkehr» – Autos und Motorräder – einerseits und «anderem» – Fußgängerinnen, «Langsamverkehr», spielende Kinder, Tiere, also alles, was den «Verkehr» stört – unterscheidet, dann gehören mein Velo und die verletzten und getöteten Fußgänger:innen, von denen cih berichtete, ins selbe semantische Feld – in die selbe Schublade.
Es bestätigt sich: Es gibt auf der Straße zwei Kategorien von Subjekten: «Verkehr» und anderes. Im Red Flag Act von 1865 und noch im Aargauer Gerichtsentscheid von 1922 waren die Menschen auf der Straße der Verkehr und die Motorfahrzeuge das, was den Verkehr stört. Heute ist «Verkehr», was schnell ist – respektive was einen Motor hat und mithin schnell sein könnte, würden keine Hindernisse seinen Fluss stören – tatsächlich ist im städtischen Verkehr das Velo ja oft schneller als Autos. Das Andere ist, was den Verkehr stört. Zweck der Straße ist nicht das Andere, sondern der «Verkehr», und darum sind fatale Konflikte zwischen «Verkehrsteilnehmer:innen» und anderen keine Delikte, sondern tragische, aber unvermeidliche «Unfälle», «Fehler», die man auch nicht «Delikt» nennen soll.
Konzeptlose «Mobilität»
Ich komme zu einem zweiten zentralen Begriff der Verkehrsdebatte: der Mobilität.
Sie alle kennen solche Aussagen: «Mobilität nimmt zu», «wir werden immer mobiler» und so weiter. Gemeint ist jeweils – wie in dieser Meldung von Swissinfo –, dass die Zahl der gemessenen Fahrzeug- oder Personenkilometer zunimmt. Mit anderen Worten: «Mobilität» wird synonym für Verkehr verwendet.
Aber auch wenn «Mobilität» und «Verkehr» synonym verwendet werden, sind die keine Synonyme, denn sie wecken ganz andere Assoziationen. «Mobilität» ist ein Abstraktum; es bezeichnet ein Bedürfnis oder eine Fähigkeit, sich zu bewegen. «Verkehr» ist konkret: Man denkt an Fahrzeuge – meist nur an Motorfahrzeuge, wie ich gezeigt habe –, an Lärm, Gestank, Stau. «Mobil» wollen alle sein; «Verkehr» will selbst der größte Autoliebhaber lieber nicht in seinem Wohnviertel haben.
Dass sich Mobilität nicht in Personen- oder Fahrzeugkilometern messen lässt, begriff ich, als ich den Wiener Verkehrsingenieur Hermann Knoflacher interviewte. Könnte man nämlich Mobilität in zurückgelegten Kilometern messen, sagte Knoflacher, würde jede Baustelle, die mich zu einem Umweg zwingt, meine Mobilität erhöhen. Und ich würde auch mobiler, wenn mein Quartierladen Konkurs ginge, weil ich danach mehr Distanz zurücklegte, um einzukaufen.
Das ist offensichtlich Unsinn.
«Mobilität» wird heute in der öffentlichen Debatte als schöneres Wort für Verkehr verwendet – wobei beispielsweise die Mobilität eines siebenjährigen Mädchens in Schaffhausen nicht mitgemeint ist, denn die misst sich nicht in Fahrzeug- und kaum in Personenkilometern.
Das ist eine relativ neue Entwicklung: Vor 1950 verwendete im Deutschen kaum jemand da Wort «Mobilität»; seither nimmt seine Verwendung stetig zu, während das Wort «Verkehr» seltener wird (vgl. Google-Wortstatistik).
Was mich nun als Wissenschaftsjournalist besonders frappiert hat, war die Erkenntnis, dass selbst die Verkehrswissenschaften keinen klaren Begriff davon haben, was Mobilität sei. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Broschüre «Vision Mobilität Schweiz» wurde 2015 von Verkehrswissenschaftern der Uni St. Gallen und der ETH Zürich verfasst. Sie trägt die «Mobilität» im Titel, doch findet sich in der Broschüre keine Definition. Verwendet wird der Begriff synonym für Verkehr.
Ich habe nach wissenschaftlichen Definitionen gesucht; es gibt schon welche:
«Verkehr ist die tatsächliche Ortsveränderung von Personen, Gütern und Daten.» – «Mobilität bezeichnet antizipierte potenzielle Ortsveränderungen (Beweglichkeit) von Personen. Sie resultieren aus räumlichen, physischen, sozialen und virtuellen Rahmenbedingungen und deren subjektiver Wahrnehmung.»
(C. Ahrend, O. Schwedes, S. Daubitz, U. Böhme und M. Herget (2013): Kleiner Begriffskanon der Mobilitätsforschung. Discussion Paper, hg. v. Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung TU Berlin, Berlin. )
oder
«Mobilität ist ein Maß für die Anzahl der verschiedenen abgedeckten Bedürfnisse, für die Ortsveränderungen nötig waren. (…) Mobilität [hat] per se nichts mit etwaigen zurückgelegten Kilometern zu tun.»
(Udo J. Becker (2016): Grundwissen Verkehrsökologie. Grundlagen, Handlungsfelder und Maßnahmen für die Verkehrswende, München.)
Interessant ist, dass die Definition von Ahrend et al. aus einem Papier stammt, das sich «Discussion Paper» nennt. Man muss auch über ein halbes Jahrhundert nach Begründung der Verkehrswissenschaften noch über die Bedeutung der zentralen Begriffe «diskutieren».
Ich halte mich vor allem an Beckers Definition. So verstanden, bin ich mobil, wenn die Wege kurz sind: Eine solche Raumstruktur erlaubt es mir, viele Bedürfnisse abzudecken, für die Ortsveränderungen nötig sind, ohne dabei viele Kilometer zurückzulegen.
Die typische Verkehrspolitik versucht, die Mobilität der Menschen dadurch zu erhöhen, dass sie die Kapazitäten der Verkehrswege ausbaut: Auch so wird man kurzfristig mobiler – solange die Wege gleich lang bleiben. Man weiß aber, dass eine Erhöhung der Kapazität der Verkehrswege dazu führt, dass die Wege länger werden – ganz einfach deshalb, weil beispielsweise ein Quartierladen eben nicht mehr mit der billigeren Konkurrenz vor der Stadt mithalten kann, wenn die Fahrt dorthin billig genug ist. Mittelfristig muss deshalb der Versuch, die Mobilität der Menschen dadurch zu erhöhen, dass man die Verkehrswege ausbaut, scheitern. Was wächst, ist hier lediglich der Mobilitätsaufwand – monetär, in ökologischen, volkswirtschaftlichen, sozialen und Gesundheitskosten gerechnet.
Man kann Mobilität aber noch anders definieren. Der EPFL-Verkehrssoziologe Vincent Kaufmann etwa bezeichnet mit «Mobilität» auch die Bereitschaft, sich in einem neuen Lebensabschnitt auf ein neues räumliches Umfeld einzulassen, beispielsweise auf die Stadt, in der man studiert oder arbeitet. Eine Gesellschaft von Pendler:innen ist so gesehen gerade nicht mobil, weil sich Pendler:innen nicht auf neue Orte einlassen und statt des Wohnorts lediglich die Pendelstrecke ändern, wenn sie woanders arbeiten.
Und zählt man die Bewegung als Selbstzweck – zum Spiel, um gesund zu bleiben – zur Mobilität, so hat nichts so viel Mobilität (vor allem von Kindern) vernichtet wie das Automobil, und mit Blick auf die rasante Zunahme von Krankheiten, die durch Bewegungsmangel ausgelöst oder begünstigt werden, muss man unsere Gesellschaft nicht als mobil, sondern als ausgesprochen immobil bezeichnen.
Freiheit mit dem vs. Freiheit vom Auto
Nur kurz möchte ich noch auf den Begriff der «Freiheit» eingehen.
Vor allem das Auto wird stark mit Freiheit assoziiert – von der Autowerbung natürlich, aber oft auch in der Politik. Das zeigt sich in geradezu karikaturesker Verzerrung in Deutschland, wo jeder Versuch, auf Autobahnen wie in allen anderen Ländern ein Tempolimit einzuführen, sofort von Politiker:innen mehrerer Parteien oder von Medien (vor allem aus dem Axel-Springer-Verlag) als Angriff auf die Freiheit gesehen wird.
(Exkurs: Die Einführung eines Tempolimits in Deutschland würde eine «Errungenschaft» des Dritten Reichs beseitigen: Es war das Reichsstraßenverkehrsgesetz von 1934, das die Tempolimts abschaffte – nur vorübergehend, denn im Krieg wollte man doch lieber Kanonenfutter als Straßenverkehrstote, doch nach dem Krieg kehrte man wieder zur scheinbaren Vorkriegsnormalität zurück. Es wäre aber falsch, das unreglementierte Rasen als Nazierfindung abzutun: In der Schweiz schaffte das erste nationale Straßenverkehrsgesetz 1932 sämtliche Tempolimits ab – inner- und außerorts!)
Durchsucht man Textkorpora nach Wortkombinationen, sieht man, dass die Begriffe «Freiheit» und «Mobilität» oft mit den gleichen Wörtern kombiniert werden – nicht aber «Verkehr».
Wie absurd die Assoziation von Auto und Freiheit im automobilen oder automobil beeinträchtigten Alltag ist, zeigen ein paar Bilder:
- Nirgends im öffentlichen Raum ist die Regeldichte so hoch wie im Straßenraum.
- Nirgends verbringen Menschen so viel Zeit festgezurrt in einem Sessel wie in Auto oder Flugzeug.
- Nirgends verbringen Menschen so viel Zeit damit, sich im Gleichschritt mit anderen zu bewegen, wie als Automobilist:in auf vielbefahrenen Straßen.
- Die Freiheit im Auto ist im Alltag vor allem die, ohne Rücksicht auf Mitmenschen laut Musik hören oder ungeniert furzen zu können, was im öffentlichen Verkehr nicht gut geht.
Freiheit im Straßenraum muss deshalb vor allem als Freiheit vom Auto verstanden werden.
Wenn Ihnen das radikal vorkommt, schauen Sie die Autowerbung an: Die zu bewerbenden Autos werden in aller Regel in einer ansonsten autofreien Umwelt gezeigt. Sogar der oder die potenzielle Autokäufer:in erträumt sich die Idealwelt (vom eigenen Fahrzeug abgesehen) autofrei.
Oder nehmen Sie dieses ganzseitige Inserat, das der Hauptsponsor eines Autorennens 2018 in Zürcher Zeitungen schaltete: «Entdecken Sie ein Stück Zukunft rund um den Julius Bär Zürich E-Prix 2018» steht da und weiter: «Wie leben wir morgen? Wie wird sich unsere Mobilität [natürlich nicht: unser Verkehr!] entwickeln?»
Sogar der Hauptsponsor eines Autorennens wünscht sich die Mobilität der Zukunft autofrei!