WOZ: Herr Knoflacher, wie lange wird es das Auto als Hauptverkehrsmittel noch geben? Hermann Knoflacher: Das hängt von den Politikern ab. Wir sind durch unsere Unkenntnis der menschlichen Natur in eine Falle getappt. Wir zwingen die Menschen mit unseren Strukturen zum Autofahren und beklagen die Folgen. Man macht politische Programme, um die Menschen zum Umsteigen zu bewegen, aber die Bedingungen dafür sind gar nicht gegeben. |
Das Auto erwischt uns auf der Ebene der Körperenergie: Wir sind so programmiert, dass wir versuchen, Körperenergie zu sparen. An dieser Angel hängen wir, und wenn wir den Menschen nicht davon befreien, wird er Auto fahren – trotz aller Angebote des öffentlichen Verkehrs.
Anfang der neunziger Jahre forderte eine vom damaligen VW-Vizekonzernchef Daniel Goeudevert in Auftrag gegebene Studie, die Autoindustrie müsse vom Auto wegkommen, wenn sie überleben wolle.
Ja, es gab damals solche Erleuchtungen. Unterdessen ist das Gegenteil eingetreten: Die Autoindustrie ist zum Gegenangriff übergegangen und boomt. Langfristiges Denken ist zugunsten eines kurzfristigen Wachstumsdenkens zurückgetreten.
Hat sich nicht einfach die Studie als falsch erwiesen?
Die Studie war, langfristig gesehen, nicht falsch, aber kurzfristig störend. Es gibt heute keine Verkehrspolitik. Die Eigendynamik des Systems wird mehr oder weniger verständnislos kommentiert, und das nennt man dann Verkehrspolitik.
In Städten wie Bangkok hat sich das Auto als Verkehrsmittel ad absurdum geführt, die Autos bewegen sich im Schnitt langsamer vorwärts als ein Fussgänger. Trotzdem fahren die Leute auch hier.
Weil sie im Auto pro Zeiteinheit nur einen Bruchteil der Körperenergie benötigen. Und zweitens können sie mit dem Auto einen riesigen öffentlichen Raum besetzen, ohne dafür zu bezahlen.
In einem Ihrer Bücher nennen Sie das Auto ein «Stehzeug». Sollte man das Auto gar nicht als ein Verkehrsmittel betrachten?
Ein Auto steht vielleicht 23 von 24 Stunden herum, und die fünf Sitze sind, wenn es fährt, von durchschnittlich 1,2 Personen besetzt. Der Besitzer muss für sein Stehzeug arbeiten, aber er macht das gerne, denn in dem Moment, in dem er sich ins Auto setzt, wird das Ding zum Fahrzeug. In der restlichen Zeit ist es aus seinem Sinn und kostet ja auch fast nichts: Ein Parkplatz müsste in Zürich 600 bis 800 Franken pro Monat kosten, sollte er kostendeckend sein. Parkplätze sind Geschenke an die Autofahrer.
Was ist ein Auto, wenn nicht ein Verkehrsmittel?
Alles andere: Repräsentationsgegenstand, Jagdgerät, Rückzugsgebiet. Entscheidend aber ist: Der Mensch wird im Auto zu einem anderen Lebewesen, das mit dem Menschen weniger verwandt ist als ein Insekt. Der Autofahrer bewegt sich, anders als Menschen und Insekten, mit Energie fort, die nicht seine Körperenergie ist, für die er keine Sinne hat. Ausserdem: Menschen können beim Gehen aufeinander Rücksicht nehmen, sich ausweichen. Autofahrer brauchen Verkehrsregeln. Kein Mensch käme auf die Idee, so viel öffentlichen Raum zu beanspruchen wie ein Autofahrer. Stellen Sie sich vor, wir benützten zum Gehen «Gehzeuge» – Dinger, so gross wie ein Auto, die wir mit uns herumtragen: Wir hätten sofort einen riesigen Fussgängerstau in den Städten. Man würde sagen, diese Menschen spinnen, und zu Recht. Aber wenn das Ding vier Räder und einen Motor hat und eine Tonne wiegt, dann sagen wir, das ist ein Verkehrsproblem, und fordern Millionen für neue Strassen. Würde ich sagen, der Stau sei ein Verkehrsproblem, ich wäre kein seriöser Wissenschaftler!
Nicht zu Fuss gehen zu müssen, war in der Geschichte immer ein Privileg einiger weniger. Das Auto hat dieses Privileg doch demokratisiert.
Nein. Mit Demokratisierung hat das nichts zu tun. Henry Ford hat einfach seine Angestellten doppelt genutzt: einmal als Arbeiter, die Mehrwert generierten, und noch einmal als Konsumenten, die das, was sie produziert haben, auch noch kaufen. Wir haben im Verkehr einen «Autofahrerfeudalismus», eine Herrschaft der Autofahrer über die anderen Verkehrsteilnehmer, und auch einen Feudalismus der heutigen Generation auf Kosten der künftigen Generationen.
Der Widerstand gegen die Einführung autofreier Sonntage ist gross, doch wer autofreie Sonntage in einer Stadt erlebt hat, weiss, wie fantastisch die Stimmung jeweils ist. Muss man die Menschen zu ihrem Glück zwingen?
Natürlich, oder besser gesagt: Wir zwingen sie heute zum Unglück. Die Menschen können nicht anders, wenn das Auto direkt vor ihrer Haustür steht. Die ganze Umgebung sagt dem Menschen permanent, er solle das Auto benutzen. Die Verkehrsplanung wird seit fünfzig Jahren für das Auto gemacht. Das Gebiet ist zersiedelt, die Arbeitsplätze schwer ohne Auto erreichbar. Die heutigen Verkehrsplaner sind Verrückte: Ihr Verhältnis zur Realität ist «ver-rückt». Sie bauen eine künstliche Realität, die den Menschen gefangen hält, sie verursachen die Probleme, die sie lösen wollen. Würde man diese Falle öffnen, verhielten sich die Menschen durchaus normal. Mein Vorschlag: Man sollte nicht für oder gegen das Auto kämpfen, sondern die Strukturen ändern. Konkret: Der Weg zum geparkten Auto dürfte nirgends kürzer sein als der Weg zur nächsten Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. Und für Parkplätze müsste der Preis bezahlt werden, der auch dem Wert des Raums entspricht – eine Verkehrserregerabgabe. Das gäbe auch Geld in die Stadtkassen, mit dem man die Stadt umbauen könnte. Beispielsweise, indem man die Busbuchten beseitigte. Hier werden die Benützer des öffentlichen Verkehrs ja für dumm verkauft: Während der Bus hält, sehen die Passagiere die Autos vorbeifahren.
Das Auto gilt vielen als Inbegriff der Freiheit – Sie sprechen von Zwängen.
Man ist nirgends so gefangen wie im Auto. Kürzlich erzählte mir eine Frau, sie könnte es sich mit ihrem Zeitbudget nicht leisten, dreihundert Meter bis zu einem Parkplatz zu gehen. Ich fragte sie, wie viel sie verdiene, und rechnete aus, dass sie zweieinhalb Monate pro Jahr nur für ihr Auto arbeitet. Wir haben in Wien untersucht, wie die Bereitschaft, eine Strecke zu Fuss zurückzulegen, mit der Länge der Strecke abnimmt. Bei 220 Metern war nur noch die Hälfte bereit, zu Fuss zu gehen.
Wir verhalten uns also völlig irrational, wenn …
… das ist nicht irrational. Oh, nein. Das ist irrational im Sinne der Vernunft, die evolutionär sehr jung ist. Im Sinne der ältesten evolutionären Ratio ist es logisch: Wir haben einen Sinn für die paar Joule Körperenergie, die wir sparen, aber nicht für die Energie, die der Motor verbrät. Man hat den Menschen nicht verstanden. Man doktert an kurzfristigen Lösungen wie Road-Pricing, die kurzfristig ganz nette Erfolge erzielen, aber das System wird, solange die Strukturen gleich bleiben, langfristig wieder ins alte Muster zurückfallen.
Kann man unser Verkehrsproblem mit anderen Mobilitätsformen lösen, oder müssten wir weniger mobil sein?
Nein, nein. Wir sind ja nicht mobiler als früher, wenn man die Zahl der zurückgelegten Wege zum Mass nimmt. Es hat sich nichts an unserer Mobilität geändert als deren Art und Geschwindigkeit. Die Verrückten sagen: Die Mobilität steigt. Aber sie steigt nicht.
Sie steigt doch, wenn man die Distanzen als Mass für die Mobilität nimmt!
Das ist nicht die Mobilität, das ist der Mobilitätsaufwand. Das System wird ineffizienter: Wir bleiben bei steigendem Aufwand gleich mobil.
Jemanden mit dem Auto zu töten, wird von Gesellschaft und Justiz als Bagatelldelikt angesehen.
In dem Moment, in dem Sie das Auto starten, sind Sie potenziell Täter, denn Sie treten in ein System ein, für das Sie von der Natur nicht ausgestattet sind. Und Sie töten grundsätzlich Menschen, weil Sie giftige Abgase erzeugen. Es sterben ja in der Schweiz zusätzlich zu den Opfern von Verkehrsunfällen noch einmal doppelt so viele Menschen an den Abgasen.
Sie haben gesagt, wie viel ein Parkplatz kosten müsste. Wie viel müsste ein Liter Benzin kosten, sollten damit die ökologischen, sozialen, städtebaulichen Schäden abgegolten werden?
Sicher das Vielfache des heutigen Preises, gar keine Frage. Ich halte die Verteuerung des Benzins aber für einen falschen Ansatzpunkt. Das zielt einseitig auf Benzinverbrauch und Luftverschmutzung, aber damit lösen Sie weder die Geschwindigkeits- noch die Platzfrage, noch ändern Sie die Strukturen. Ausserdem hätte die Autoindustrie genug Pfeile im Köcher: Man kann den gleichen Unsinn ja auch mit einem Drittel des Verbrauchs weiterführen. Benzinpreiserhöhung ist eine Symptombekämpfung, die mich als Systemanalytiker nicht interessiert.
Das Auto wird auch vonseiten seiner KritikerInnen vor allem als Abgasproduzent betrachtet. Ist das falsch?
Die Luftverschmutzung ist sicher nicht das grösste Problem, das das Auto verursacht.
Interview: Marcel Hänggi