Marcel Hänggi
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Unter die Räder gerät man

27/9/2012

 
Es geht um Tötungen und Körperverletzungen: Unfallnotizen in Zeitungen spiegeln unseren Umgang mit Gefahren des Strassenverkehrs. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 27. September 2012

Erstes Beispiel: Pressecommuniqué der Stadtpolizei Winterthur vom 5. September 2012:

«Am Dienstagnachmittag, um 13.15 Uhr, verlor eine Velofahrerin bei einem Verkehrsunfall ihr Leben. Ein Chauffeur fuhr mit seinem Lastwagen durch die Landvogt Waser-Strasse und beabsichtigte nach rechts abzubiegen. Die Velofahrerin fuhr in gleicher Richtung. Bei der Einmündung in die Seenerstrasse kam es zur Kollision zwischen den Fahrzeugen, wobei die Velofahrerin unter den Lastwagen geriet.»
Eine Übung für angehende JournalistInnen könnte lauten: Machen Sie aus obiger Polizeimeldung einen Zeitungstext!

Wer die Übung gut lösen will, wird die Wörter «überfährt» und «tötet» verwenden: Das ist es, was der Handelnde in diesem Text, der Lastwagenfahrer, getan hat. Aber wie lösten die Profis die Übung? Der Winterthurer «Landbote» übernahm, obwohl der Redaktor die Meldung mit seinem eigenen Kürzel zeichnete, das Communiqué fast wörtlich (ergänzte immerhin das fehlende Komma). «Blick», NZZ und «Tages-Anzeiger» übernahmen die Formulierung «geriet unter den Lastwagen»; nur der «Blick» schrieb wenigstens im Titel, was Sache war: «Velofahrerin von Lastwagen getötet».

Zweites Beispiel: NZZ vom 29. August 2012:

«Bei einer Auffahrkollision zwischen einem Lieferwagen und einem Velo ist der Zweiradlenker schwer verletzt worden. – Aus noch unbekannten Gründen übersah ein 21-jähriger Lieferwagenlenker um 6 Uhr 45 einen 40-jährigen Velofahrer und fuhr auf diesen auf. Der Zweiradfahrer, der keinen Helm trug, stürzte und erlitt dabei schwere Verletzungen.»

Weshalb Polizeimeldungen so gern die passive Verbform («ist verletzt worden») verwenden, ist klar: Man will eine Vorverurteilung der Beteiligten vermeiden. Das Passiv kommt ohne Täter aus. Das ist sprachlich nie elegant, kann aber von Vorteil sein, wenn man nicht weiss, was genau geschah – etwa, wer in einer Massenschlägerei wen verletzte.

Wenn aber ein Lieferwagen ein Velo rammt, weiss man, wer wen verletzte – und eine aktive Formulierung wäre keine Vorverurteilung, denn man behauptet ja noch keine Schuld in juristischem Sinne, indem man Klartext schreibt. Der Text leistet hier dafür eine unzulässige Vor-Entlastung: Weder Polizei noch die Redaktorin können wissen, ob der Lieferwagenfahrer den Velofahrer tatsächlich übersehen hat oder ob es nur eine Schutzbehauptung war.

Drittes Beispiel: «Thuner Tagblatt» vom 14. September 2012:

«Eine jugendliche Velofahrerin ist am Freitagmorgen bei einer Kollision mit einem Auto schwer verletzt worden. (…) Bei der Kreuzung Kammershaus kam es aus noch zu klärenden Gründen zur Kollision. Die jugendliche Velofahrerin wurde beim Unfall schwer verletzt. Es kam zu Verkehrsbehinderungen.»

Schlechtes Deutsch? Natürlich. Aber es widerspiegelt, wie unsere Gesellschaft mit Verkehrsgefahren umgeht: wie mit Naturereignissen. Der Strassenverkehr fordert seine «Opfer» wie weiland die Götter. Über einen Raubüberfall würde niemand schreiben: «Bei einer Kollision dreier Männer geriet das Bargeld eines 34-Jährigen in die Taschen zweier Unbekannter» – aber Velofahrerinnen «geraten» unter Lastwagen und sterben dort, «es kommt zu» Kollisionen wie zu Verkehrsbehinderungen. Von extremen RaserInnen grenzen sich alle ab, «Balkanraser» sind für Medienkampagnen gut, aber die alltäglichen Tötungen und Körperverletzungen im Strassenverkehr nennt man nicht beim Namen. Dass der Strassenverkehr in der Schweiz durchschnittlich ein Todes«opfer» pro Tag fordert (weltweit: eines alle 24 Sekunden), daran hat man sich gewöhnt. Das passt dazu, dass die Tatbestände «fahrlässige Tötung» / «fahrlässige Körperverletzung» erst mit dem Aufkommen der Massenmotorisierung Bedeutung erlangten: Ausserhalb des Strassenverkehrs tötet man nicht aus Versehen.

Viertes Beispiel: «Basler Zeitung» vom 19. September 2012:

«Vor dem Friedhof am Hörnli wurde am Montag um 10.40 Uhr eine 83-jährige Fussgängerin von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Die Frau wollte die Hörnliallee auf dem Fussgängerstreifen überqueren, als ein Autolenker von der Grenzacherstrasse kam. Die Frau erlitt schwerste Verletzungen.»

Fünftes Beispiel: NZZ vom 8. September 2012:

«In Dietlikon ist am Donnerstag ein 8-jähriger Velofahrer von einem Auto angefahren und schwer verletzt worden. Er war mit seinem Velo auf dem Weidenweg gefahren, als von rechts eine 38-jährige Autolenkerin nahte. Ihr Wagen erfasste das Kind, das zu Boden geworfen wurde. Der Knabe, ohne Helm unterwegs, wurde mit schweren Kopfverletzungen ins Spital gebracht.»

«Kommen» respektive «sich nahen» sind in diesen beiden Meldungen die einzigen aktiven Handlungen des Autofahrers respektive der Autofahrerin. Man will ihnen um Himmelswillen keine Schuld unterstellen – der Bub hingegen ist ein wenig selber schuld, trug er doch keinen Helm.

Die verquaste Sprache von Verkehrsunfallmeldungen hat System. Immerhin eine Ausnahme fanden wir. In Thalwil war ein Lieferwagen in eine Frau gefahren und hatte sie getötet. Der «Tages-Anzeiger» berichtete ausführlicher als üblich in einem Vierspalter. Der Text selber war im üblichen Verkehrsunfallmeldungsstil verfasst:

Sechstes Beispiel: Tages-Anzeiger vom 10. September 2012:

«Durch die Wucht des Zusammenstosses wurde die Rentnerin, die sich beim Fahrzeugheck aufhielt, zwischen ihrem Auto und dem Lieferwagen eingeklemmt. Sie wurde dabei so schwer verletzt, dass sie noch auf der Unfallstelle verstarb.» 

Doch darüber stand der Titel: «Lieferwagen fährt in parkiertes Auto und tötet eine Rentnerin». Man kann es also auch deutlich sagen! Wie kam es zu dem Titel? Den hat nicht der Redaktor, sondern ein Produzent oder eine Produzentin gesetzt. ProduzentInnen sind darauf getrimmt, mit wenigen Worten die Aufmerksamkeit der LeserInnen zu erlangen. Der formale Zwang hat hier wenigstens im Titel für Klartext gesorgt.

Marcel Hänggi

Nachtrag: 2016 erschien in der Fachzeitschrift Accident Analysis & Prevention (Vol. 86, Januar 2016) ein wissenschaftlicher Aufsatz zu dem von mir beschriebenen Phänomen: «Trends in local newspaper reporting of London cyclist fatalities 1992-2012: the role of the media in shaping the systems dynamics of cycling» von Alex Macmillan et al.. Die Autor*innen kommen darin zum Schluss, dass die Art und Weise, wie über Fahrradunfälle berichtet wird, «may create complex feedback loops, inhibiting cycling growth». – Vgl. auch den Blogbeitrag von Dirk von Schneidemesser: «Wir brauchen eine neue Sprache für die Verkehrsberichterstattung». Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS Potsdam, 22. April 2021. 

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    Autor

    Marcel Hänggi
    ​

    Journalist und Buchautor
    dipl. Gymnasiallehrer​
    Dr. phil. h.c.
    ​
    Zürich


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