Im Abstimmungskampf um das Klimaschutzgesetz waren sie erbitterte Gegner: Marcel Hänggi, Erfinder der Gletscherinitiative, und Michael Graber, SVP-Nationalrat. Nach dem harten Kampf hat Marcel Hänggi seinen Kontrahenten besucht. Haben die beiden vielleicht mehr gemeinsam, als sie dachten? – Das Magazin vom 23. September 2023 |
Michael Graber korrigiert: «Es geht nicht um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, denn wir Menschen sind doch Teil der Natur.»
Es ist einer dieser Momente in unserem langen Gespräch, bei dem ich denke: Er ist auf der richtigen Spur!
Er: Michael Graber, 42, Oberwalliser, Doktor der Rechte, selbständiger Notar und Anwalt, Stadtrat (Exekutive) von Brig-Glis und Nationalrat für die SVP, Kampagnenleiter im Referendumskampf gegen das Klimaschutzgesetz und damit für ein paar Monate so etwas wie der oberste Anti-Klimapolitik-Lobbyist der Schweiz, Verlierer in der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023.
Ich: Marcel Hänggi, 54, Vater zweier Töchter, ehemaliger Wissenschaftsjournalist, parteilos, Urheber der Gletscherinitiative und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kampagnenteam für das Klimaschutzgesetz dafür verantwortlich, die Falschaussagen der Nein-Kampagne aufzudecken, Sieger in der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023: 59 Prozent sagten ja zum Klimaschutzgesetz.
Michael Graber und ich haben Gemeinsames erlebt, gewissermassen: Wir beide haben uns im selben Abstimmungskampf engagiert, wenn auch als Gegner, um nicht das stärkere Wort zu brauchen: als Feinde. Ich treffe Michael Graber, weil ich wissen will, warum sich jemand für das Gegenteil von dem einsetzt, was mir am Herzen liegt: Die grösste Bedrohung für die Menschheit zu bekämpfen und den Planeten Erde bewohnbar zu erhalten.
Walliser Naturbub
Graber führt mich durch die Räume seiner Kanzlei an der Briger Sonnenstrasse («Das passt zum SVP-Sünneli», hat Graber gewitzelt, als er mir am Telefon die Adresse diktierte). Sein Büro ist stark heruntergekühlt. An den Wänden hängen Bilder der Fotografin Alice Zilberberg: ein Flamingo, ein Bison, ein Nashorn, ein Steinbock.
«Sie sehen», sagt Graber, «ich bin sehr naturverbunden. Ich mag Tiere.»
Michael Graber fängt an zu erzählen, bevor ich ihm meine ersten vorbereiteten Fragen stellen kann. Er wuchs mit vier Geschwistern in Turtmann auf, 25 Kilometer von hier. Als er als Jugendlicher eine Freundin in Brig hatte, habe man im Dorf gesagt: «Was willst du bis dort hinauf?» Der Vater war Anwalt und Notar, Gemeinderat und Kantonsrat für die CVP, die Mutter machte ihm das Büro, erzog die Kinder, bestellte den Garten und führte den Haushalt.
«Es war eine andere Welt», sagt Graber.
Gymnasium in Brig, Studium in Freiburg, Anwaltspraktikum in Zürich «in einer Kanzlei, in der mehr Anwälte arbeiteten als im ganzen Oberwallis», Doktorat in Bern (Thema der Dissertation: «etwas über die Zivilprozessordnung; nicht der Rede wert»). Ursprünglich erwog er, Altphilologie zu studieren; ein Studium der Geschichte und Anglistik brach er ab.
Englisch habe er sich selber angeeignet, weil er in diesem Fach am Kollegium zu wenig gelernt habe. Er tat es, indem er Countrymusik hörte. Das habe vielleicht dazu beigetragen, dass er heute konservativ sei.
Zur Politik kam er eher zufällig durch eine Veranstaltung der SVP Oberwallis. Die Partei gab es erst seit wenigen Jahren, das Wallis wurde durch und durch dominiert von den C-Parteien: CVP und CSP. Dass Graber zur SVP ging, worauf seine Eltern mit einem «Riesentheater» reagiert hätten, sei auch eine Rebellion gegen das C-System gewesen.
«Hätte Sie diese Rebellion auch in die SP führen können?»
Graber zögert nicht: «In einer anderen Zeit: Ja. Absolut.»
Einer seiner besten Studienkollegen sei Co-Präsident der Juso Luzern gewesen. Er, Graber, habe ihn gefragt: «Warum bist du in der Juso, du bist doch viel zu bodenständig»; dieser habe geantwortet: «Warum bist du in der SVP, du bist doch viel zu weltoffen!»
Der Studienkollege, Stefan Wiprächtiger, ist heute Richter in Luzern. «Der Michi», sagt er mir am Telefon, sei immer sehr sozial gewesen. Er habe sich um Mitstudierende bemüht, die den Anschluss nicht richtig gefunden hätten. «Ich kann mir gut vorstellen, dass er auch in der SP heimisch geworden wäre.»
Dinos und eine Grafik
Ich fahre mit Unbehagen nach Brig. Eine Freundin hat ein bisschen mit mir geschimpft: «Warum musst du jetzt noch versuchen, deinen Gegner zu verstehen? Geniess einfach deinen Sieg!»
Ich geniesse meinen «Sieg» nur halb. Denn die Klimakrise schreitet rasant voran. Wir haben gewonnen, das ist schön, aber das Klimaschutzgesetz sieht nur das Minimum von dem vor, was zu tun ist, und es kommt mindestens zwanzig Jahre zu spät. Nun bin ich unterwegs zu dem Mann, der den Kampf gegen das Projekt angeführt hat, für das ich mich sieben Jahre lang eingesetzt habe, das wichtigste Projekt meines Lebens. Fürchte ich, dass er mir sympathisch sein könnte?
Viereinhalb Stunden werden wir zusammen verbringen, werden zusammen zu Mittag essen. Unsere Begegnung soll kein Sägemehl-vom-Rücken-Klopfen zweier Schwinger nach dem Kampf sein, denn unser Kampf war kein Sport. Es geht nicht um Triumph und ich will Graber auch nicht überzeugen – das wird nicht möglich sein. Meine Legitimation, diesen Text zu schreiben, ist die, die mich einst zum Journalisten werden liess: die Neugier. Ich will wissen, wie Graber tickt. Was ihn antreibt.
Michael Graber offeriert mir in seinem Büro einen Kaffee, nimmt für sich ein Red Bull aus dem Kühlschrank und erzählt: von seiner Naturverbundenheit, vom Turtmanntal.
«Was löst es in Ihnen aus, wenn Sie den Turtmanngletscher davonschmelzen sehen?»
«Das tut schon weh. Aber ich glaube nicht, dass wir viel daran ändern können.» (Im Nationalrat sagte Graber im Juni 2022: «Machen wir Politik für Menschen statt für gefrorenes Wasser!») «Das ist für mich Demut: anerkennen, dass wir das Klima nicht massgeblich beeinflussen können. Wir Menschen überschätzen uns.»
Ich widerspreche. «Es ist genau umgekehrt. Wir Menschen beeinflussen das Klima viel mehr, als uns lieb sein kann. Demut hiesse, damit aufzuhören.»
«Vielleicht. Aber vielleicht kommt auch morgen ein Meteorit und alles ist weg.»
Und dann spricht er über Dinosaurier.
«Die gab es 169 Millionen Jahre lang, dann starben sie über ein paar Hunderttausend Jahre aus. Wahrscheinlich war ein Meteoriteneinschlag in Mexiko der Auslöser. Menschen gibt es seit 2 Millionen, den Homo sapiens seit 300 000 Jahren. Und wir bilden uns ein, es ändere etwas, ob man ein Benzin- oder Elektroauto fährt!»
Wow. Graber spricht einen Punkt an, der mich sehr umtreibt. Wie kommt es, dass er zu genau entgegengesetzten Schlüssen kommt?
Ich habe während der Abstimmungskampagne «Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter» des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty und «Zeitkollaps» des Schweizer Kulturwissenschafters Boris Previšić gelesen. In beiden Büchern geht es darum, wie der Mensch zur geologischen Kraft geworden ist, der den Planeten in Jahrzehnten so sehr verändert, wie es sonst in geologischen Zeiträumen geschieht.
Fünf Massen-Artensterben gab es in der Weltgeschichte – Graber hat das bisher letzte erwähnt –, nun stecken wir im sechsten. Es ist das erste, für das eine Spezies verantwortlich ist: der Mensch. Die Menschheit katapultiert sich gerade aus dem Holozän heraus, dem erdgeschichtlichen Zeitalter, das die klimatischen Bedingungen dafür bot, was wir Zivilisation nennen. In den Wissenschaften hat sich für unsere Zeit ein neuer Begriff etabliert: das Anthropozän.
Ich zeige Michael Graber eine Grafik, von der ich mir nicht vorstellen kann, dass sie jemanden kalt lässt. Sie zeigt die CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre über die letzten 800 000 Jahre. Die Konzentration schwankte (natürlicherweise) zwischen 180 und 280 ppm (parts per million). Bei 180 ppm CO2 waren grosse Teile der Schweiz vergletschert, bei 280 ppm CO2 war Warmzeit. Das Holozän entspricht der letzten Warmzeit. Aber am Ende geht die Kurve senkrecht nach oben: Heute gibt es 420 ppm CO2 in der Atmosphäre, anderthalb mal so viel wie vor der Industrialisierung. Wir Menschen haben der Atmosphäre 140 ppm CO2 zugefügt: mehr als die Schwankungsbreite zwischen Kalt- und Warmzeiten.
Was ist ein Klimaleugner?
«Das ist sehr monokausal», sagt Graber zur Grafik, ohne sie richtig anzuschauen. «Es gibt andere Faktoren. Man hört Dinge wie Oberflächenabstrahlung, Verschiebungen der Erdachse, Sonnenaktivität.»
Stopp.
Hier muss ich meine Rolle wechseln. Ich bin der Autor dieses Texts, der seinen politischen Gegner trifft. Ich bin aber auch Wissenschaftsjournalist. Als solcher muss ich eine journalistische Regel beachten: Man soll klimaleugnerische (allgemeiner: wissenschaftsleugnerische) Argumente nicht unwidersprochen stehen lassen. Ein Journalist, der sich für jemanden interessiert, der wissenschaftlich gesichertes Wissen leugnet, muss dessen Argumente wiedergeben, aber er muss auch sagen: So ist es nicht.
Darum hier die Fakten: Die Realität ist so monokausal. Die heutige rasante Klimaerwärmung geht auf vom Menschen verursachte Treibhausgase zurück. Das wichtigste dieser Gase ist CO2; dessen wichtigste Quelle die Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle. Es gibt sekundäre Effekte wie die von Graber genannte Oberflächenabstrahlung: Dunkle Flächen nehmen mehr Wärme auf, helle strahlen sie ab. Darum erwärmen sich Wasseroberflächen noch zusätzlich, wenn Eis, das sie einst bedeckte, geschmolzen ist. Der Rückkoppelungseffekt macht alles noch schlimmer. Aber diesen Effekt gibt es als Folge der primären Ursache: der menschlichen Treibhausgasemissionen.
Die von Graber erwähnten Verschiebungen der Erdachse haben die Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten ausgelöst, aber sie haben nichts mit der heutigen Erwärmung zu tun. Die Sonnenaktivität hat einen viel kleineren Einfluss auf das Klima als der Treibhauseffekt. Diese Faktoren werden von Klimaleugnerinnen und Klimaleugnern immer wieder ins Spiel gebracht, um von den tatsächlichen Ursachen abzulenken.
«Klimaleugner», sagt Graber (ohne dass ich selber das Wort ihm gegenüber verwendet hätte): «das ist so ein Wort. Ich habe da Mühe, wenn man nicht mehr miteinander redet und es nicht mehr um die Sache geht, wenn man sich eine Ecke stellt und sagt: ‹Covidiot!›, ‹Russlandversteher!›, ‹AfD!› oder eben: ‹Klimaleugner!›. Ich sage nicht: Die Klimaerwärmung gibt es nicht, und ich sage nicht: Der Mensch spielt keine Rolle. Er spielt eine Rolle. ‹Klimaleugner› tönt wie ‹Holocaustleugner›.»
Als Journalist muss ich den Begriff der Klimaleugnung hier verwenden. (Den Tatbeweis, dass ich das Gespräch trotzdem nicht verweigere, habe ich erbracht.) «Klimaleugnung» (Climate change denial) ist ein in den Sozialwissenschaften etablierter Begriff. Scharf definieren lässt er sich nicht, denn es gibt keine kohärente Gegenerzählung zur wissenschaftlichen Erklärung. Es gibt Stufen des Leugnens: «Es wird nicht wärmer» – «Es wird wärmer, aber der Mensch ist nicht verantwortlich dafür» – «Es wird wärmer, aber die Folgen sind harmlos» und so weiter. Die Forschung spricht heute auch von discourses of climate delay, Diskursen der Verzögerung. Eine Forschungsarbeit von 2020 identifiziert vier Verzögerungsstrategien: Verantwortung umlenken («China ist schuld!»), nicht-transformative Massnahmen propagieren («CO2 kompensieren!»), negative Nebenfolgen betonen («Energie wird teurer!»), kapitulieren («Es nützt sowieso nichts!»).
Bei Michael Graber und in der SVP-Kampagne finden sich alle vier Strategien.
Zurück nach Brig. Wir sitzen im italienischen Restaurant unter Kastanienbäumen. Die Hitze, 30 Grad, könnte noch als normale Sommerwärme durchgehen; es sind noch nicht die 36 Grad, die man im August messen wird, als dritthöchsten Wert im Oberwallis seit Messbeginn.
Ich spreche Graber auf eine Aussage in der «Arena» vom letzten Oktober an. Dort sagte er:
«Es darf es ja offenbar niemand sagen: Eine Klimakrise gibt es nicht. (…) Wir haben einen Klimawandel, das ist Realität, das ist auch ein Problem, das Problem ist auch zum Teil vom Menschen verursacht, aber ‹Klimakrise› ist ein Kampfbegriff. (…) Für mich ist eine Krise etwas, was die Leute unmittelbar betrifft. (…) Corona war eine Krisensituation, da starben Leute.»
Zwei Monate vor der Arena-Sendung suchte ein Extremmonsun Pakistan heim. 1700 Menschen starben in den Fluten. Am Tag unseres Gesprächs berichten die Zeitungen über eine wissenschaftliche Studie, der zufolge der Hitzesommer 2022 in Europa zu 61 000 Todesfällen führte.
«Ich stehe nach wie vor zu diesen Aussagen», sagt Graber. «Ich erachte sie als weitaus unproblematischer als das Attribut ‹klimaleugnerisch›. Ich leugne auch nichts. Was mich nicht überzeugt, ist das Apokalyptische.»
Es überzeugt ihn nicht. Aber es ist apokalyptisch. Eine Woche vor unserem Gespräch, am 3. Juli 2023, erreichte die globale Temperatur einen neuen Rekord. Wir führen unser Gespräch im weltweit heissesten Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen. Mutmasslich war es nie in den letzten 120 000 Jahren drei Monate in Folge so warm wie in den Sommermonaten 2023. Aber das «Apokalyptische» überzeugt Graber einfach nicht.
«Wie informieren Sie sich über den Klimawandel?»
«Wie über jedes andere Thema: Ich lese Zeitungen, manchmal auch Fachliteratur, schaue Fernsehen, diskutiere und bilde mir danach eigenständig eine Meinung, die ich gelegentlich auch revidiere.»
«Haben Sie sich die IPCC-Berichte angeschaut?»
«IPCC – das ist der Weltklimarat?»
«Ja.»
«Wer hat den gegründet und was ist seine Legitimation?»
«Der IPCC wurde 1988 von der Uno gegründet.»
«Da war die Schweiz noch nicht Uno-Mitglied. – Ich bin sehr freiheitsliebend und mag es nicht, wenn mir ein Gremium etwas vorschreiben will.»
Hier spricht wieder der Wissenschaftsjournalist und ordnet ein: Das Intergovernmental Panel for Climate Change (IPCC) fasst periodisch das wissenschaftliche Wissen zum Klimawandel zusammen. Die Zusammenfassungen seiner Berichte werden von Vertreterinnen und Vertretern aller Regierungen Wort für Wort abgesegnet. Das IPCC schreibt nichts vor. Über die Zukunft macht es Wenn-Dann-Aussagen: Wenn das und das geschieht, hat es das und das zur Folge. Um solche Aussagen kommt niemand herum, der im Sinne von gouverner, c’est prévoir Politik machen will. Meistens stützt sich die Politik auf Vorhersagen, die weit weniger robust sind als die Ergebnisse von Klimamodellierungen. Man kann die IPCC-Berichte kritisieren (ich habe es als Journalist getan), aber man kommt nicht an ihnen vorbei, wenn man informiert sein will.
Ehrenmitglied im Schwingclub Oberwallis
Michael Graber rückte 2021 als Ersatzmann für Franz Ruppen, der in die Walliser Kantonsregierung wechselte, in den Nationalrat nach und beerbte Ruppens Sitz in der Umwelt- und Energiekommission (UREK).
«Ich habe mir das nicht ausgesucht», sagt er, «ich bin ja nicht vom Fach. Der Kopf der SVP-Vertretung in der UREK war immer Albert Rösti. Er versteht sehr viel von der Materie.»
Graber spricht mit viel Respekt über Rösti. Rösti soll es gewesen sein, der im Herbst 2022 anregte, das Referendum gegen das Klimaschutzgesetz zu ergreifen (das er dann als Bundesrat im Abstimmungskampf verteidigen musste). Rösti, der Lobbyist: ehemaliger Präsident von Swissoil, ehemaliger Präsident von Auto Schweiz, ehemaliges Vorstandsmitglied von Strasseschweiz.
Dagegen Grabers Interessenverbindung: Ehrenmitglied beim Schwingclub Oberwallis.
Wir sind beim Espresso angelangt – Graber bestellt auf italienisch – und sprechen jetzt über die Kampagne, tauschen Erfahrungen aus.
Michael Graber übernahm die Leitung der Kampagne gegen das Klimaschutzgesetz, weil man ihn dafür anfragte: aus Loyalität der Partei gegenüber. Lohn gab es keinen, nicht einmal die Reisespesen seien vergütet worden. Warum hat er sich das angetan, was motivierte ihn?
«Es war ein Vertrauensbeweis der Parteileitung. Ich wollte nicht undankbar sein.»
Graber leitete die Kampagne im Nebenjob, ich war im siebzehnköpfigen Kampagnenteam des Vereins Klimaschutz Schweiz zu 100 Prozent angestellt. Ich wurde von einem wissenschaftlichen Beirat beraten und von Freiwilligen unterstützt. All unser Argumentationsmaterial zusammengenommen ergäbe ein stattliches Buch.
Die SVP machte viel aus wenig. Ihre Argumentation basierte auf zwei wissenschaftlichen Studien, deren Zahlen die SVP falsch interpretierte, und privaten Berechnungen eines pensionierten Physikers.
Im Abstimmungskampf wurde hauptsächlich über Zahlen aus einer Studie des gemeinsamen Forschungsinstituts von EPFLausanne und Empa in Sion diskutiert. Sie skizziert Szenarien, wie das Energiesystem dekarbonisiert werden könnte, bei hundertprozentiger Energieautarkie der Schweiz. Würde man dabei vollständig auf synthetische Treibstoffe setzen, stiegen die Energiekosten pro Person und Jahr von 3000 auf 9600 Franken. Das ist die Zahl, die die SVP verwendete.
Das Szenario ist vollkommen unrealistisch (weiss der Teufel, warum jemand sowas wissenschaftlich berechnet). Vollkommene Energieautarkie ist nicht sinnvoll: Alles, nicht nur Energie, würde massiv teurer, wollte sich die Schweiz autark versorgen. Ebenso unsinnig ist es, auf eine einzige Technik zu setzen, wenn verschiedene Techniken mit verschiedenen Stärken verfügbar sind.
Sowohl die Empa wie die EPFL und halbherzig auch ihr Hauptautor, Andreas Züttel, haben die Verwendung der Zahlen aus dieser Studie durch die SVP als irreführend kritisiert. Kampagnenleiter Graber sagte nach der Abstimmung gegenüber SRF, er wisse schon, dass die verwendete Zahl aus einem Extremszenario stamme. Aber solange man nicht wisse, wie das Gesetz umgesetzt werde, sei es legitim, sie zu verwenden.
«Was ist legitim?», frage ich.
«Wieviel mehr es genau kosten wird, ist egal, es wird einfach viel, viel, viel mehr kosten. Klar, diese Studie geht davon aus, dass die Schweiz energieautark sein müsste, das ist nicht sinnvoll. Aber sie berücksichtigt auch Aspekte nicht, die es noch teurer machen würden, wie das Bevölkerungswachstum oder die Digitalisierung.»
Ich widerspreche: «Ein realistisches Szenario würde auch laut Züttel nicht ‹sehr, sehr, sehr viel mehr› kosten, sondern 20 Prozent mehr. Alle anderen Studien sagen: Mit der Energiewende sparen wir Geld.»
«Ihr Slogan ‹Schützen, was uns wichtig ist› war meiner Meinung nach viel irreführender», entgegnet Graber. «Sie haben suggeriert, man könnte mit dem Gesetz Gletscher retten.»
«Wir haben nie behauptet, unsere Initiative oder das Gesetz rette die Gletscher. Wir haben immer gesagt: Das Sterben der Gletscher ist ein Weckruf – ein ‹Menetekel›, wie es der Glaziologe in unserem Initiativkomitee nannte.»
«Aber Sie haben es suggeriert.»
Tote durch Pneuabrieb?
Man könnte unsere Begegnung so erzählen: Wie schön ist die Demokratie der Schweiz! Man ringt hart um den richtigen Entscheid, aber nach dem Kampf trinkt man mit dem politischen Gegner ein Bier. Tatsächlich esse ich mit Michael Graber zu Mittag im Gartenrestaurant in Brig (ohne Bier); wir diskutieren angeregt. Es ist ein angenehmes Gespräch; es wird für mich ein guter Tag gewesen sein.
Aber das ist nicht meine Geschichte. Ja, Graber ist mir sympathisch, aber es irritiert mich, dass er es ist. Grabers Partei verletzt und verschiebt immer wieder die Grenzen des politischen Anstands. Grabers Kampagne gegen unsere Kampagne: Das war kein faires Ringen um das bessere Argument. Grabers Kampagne war eine Desinformationskampagne.
Am Ende hat die SVP verloren, aber in gewissem Sinne hat sie auch gewonnen: Im Wahljahr überzeugte sie 41 Prozent der Abstimmenden, mehr als ihren Wähleranteil. Ihre Strategie funktionierte durchaus. Selbst wenn sich drei, vier Wochen vor dem Abstimmungstermin die Medienbeiträge mehrten, die die Lügen und «Halbwahrheiten» der Partei thematisierten; selbst wenn eine Auswertung des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich ergab, dass die Medienberichterstattung zum Klimaschutzgesetz mehrheitlich wohlwollend war. Denn auch wenn die Medien wohlwollend berichteten, taten sie es in dem von der SVP gesetzten Rahmen. Man sprach über die (angeblich) drohende Stromlücke, aber nicht über unsere heutige Abhängigkeit von fossilen Energien. Man sprach über die (angeblichen) Kosten der Energiewende, aber nicht über ihren Nutzen. Und die Medien behandelten das Klimaschutzgesetz als energie- statt als klimapolitische Vorlage.
«Sie haben das Gesetz ‹Stromfressergesetz› genannt. Das hat funktioniert», sage ich.
«Das war meine Wortschöpfung», sagt Graber. «Ja, das hat teilweise funktioniert. So grundsätzlich, wie wir beide jetzt miteinander sprechen, diskutierte im Abstimmungskampf niemand. Sich mit Klimaschutz auseinanderzusetzen, ist anstrengend, das wirft grundsätzliche Fragen auf. Mit einem guten Freund bei einem Glas Wein geht das, in der Politik hingegen fast gar nicht.»
Es ist ein verstecktes Kompliment: Mit mir, sagt Graber, könne er sprechen wie mit einem guten Freund. Es berührt mich.
«Aber es kam Ihnen zugut, dass man kaum übers Klima sprach.»
«Wir haben uns entschieden, möglichst nicht über das Klima zu sprechen. Das klappte. In der Abstimmungs-‹Arena› war geschätzt während 80 Prozent der Zeit vom Strom und nur während 20 Prozent vom Klima die Rede.»
«Und vor allem von den Kosten», sage ich. «Ich hätte gern auch über die Kosten des Status quo gesprochen, die wir vermeiden können – selbst wenn man den Klimawandel für nicht so schlimm hält. Zum Beispiel die Gesundheitskosten. 4000 Menschen sterben in der Schweiz jedes Jahr wegen Luftverschmutzung. Aber es ist mir nicht gelungen» – jetzt erzähle ich Graber von einer Schwäche in meiner Kampagnenarbeit – «herauszufinden, wie hoch der Anteil der Verbrennung fossiler Energieträger an diesen Todesfällen ist. Es gibt auch andere Quellen der Luftverschmutzung wie die Verbrennung von Holz oder Pneuabrieb.»
«Pneuabrieb?»
«Ja, das macht offenbar viel aus.»
«Der verschwindet mit elektrischen Autos aber auch nicht.»
«Nein.»
«Sehen Sie», sagt Graber, «die ganze Umweltproblematik ist sehr komplex, sie umfasst viel mehr als nur Klima und CO2. Hier haben wir die Lonza, in Visp unten. Die Kontamination der Böden mit Quecksilber und Benzidin ist riesig. Die Lonza verbraucht Unmengen an frischem Quellwasser und die Menschen müssen lauwarmes Grundwasser trinken. Es gibt zu viele, die zu rücksichtslos mit der Natur umgehen. Es ist doch gesunder Menschenverstand, dass man sorgfältig mit der Natur umgehen muss, wie mit allem!»
«Warum wehren Sie sich dann gegen Umweltvorschriften?»
«Braucht es immer ein Gesetz? Ich finde ja auch Netto-Null kein schlechtes Ziel. Aber freiwillig! Ich glaube an den Menschen, ich habe ein positives Menschenbild. Wenn es den Menschen bewusst wird, dass Pneuabrieb Hunderte Todesfälle pro Jahr verursacht, müsste man doch Wege finden!»
«Man weiss es. Trotzdem geschieht nichts.»
«Vielleicht ist der Leidensdruck noch nicht gross genug.»
«Bei denen, die sterben, ist der Leidensdruck maximal.»
«Was wäre die Alternative? Nicht mehr mobil sein?»
«Würden Raumplanungs- und Verkehrspolitik auf kurze Wege ausgerichtet, könnte man mit weniger Verkehr mobiler sein», sage ich. «Mobil sein heisst für mich, dass ich meine Bedürfnisse befriedigen kann, für die ich einen Ortswechsel brauche. Einkaufen zum Beispiel. Die Zahl der Läden hat in den letzten 50 Jahren drastisch abgenommen, entsprechend muss ich weiter fahren, um einzukaufen. Das ist Mobilitätszwang, nicht Mobilitätsfreiheit.»
«Ja, das finde ich auch schlecht.»
«Das ist der Gedanke der Suffizienz. Wären Sie dafür zu gewinnen?»
«Grundsätzlich ja. Ich bin für Wirtschaftswachstum, aber es muss nachhaltig sein. Regionalisierung finde ich gut. Es müsste doch möglich sein, dass die Leute freiwillig sagen: Ich kaufe die Freilandeier aus der Region! Ich bin kein Gegner der Globalisierung, aber eine etwas weniger globalisierte Welt wäre interessanter – wenn ich im Wal Mart in den USA nicht genau dasselbe bekomme wie in der Migros in Brig!»
Ende mit Goethe
Graber ist kein Rechthaber. Oft sagt er: «Kann sein, dass Sie Recht haben», oder «interessant!», oder «Ich glaube einfach nicht daran», oder «Jetzt wird es philosophisch», und einmal, mit Goethe: «Es irrt der Mensch, solang er strebt.»
Wo stünde Michael Graber, wenn ihn die Rebellion links statt rechts an den C-Parteien vorbei geführt hätte? Wo stünde er, wenn er seine Gedanken dort weiterdächte, wo es «philosophisch wird»? Wenn er sich über die Klimakrise informierte statt sich auf «Dinge» zu berufen, die «man hört»? Wenn er die wissenschaftlichen Erkenntnisse erst einmal zur Kenntnis nähme, statt sie «einfach nicht überzeugend» zu finden?
Als Jugendlicher hatte Graber ein Greenpeace-Poster im Zimmer. «Noch heute», sagt er, «habe ich grossen Respekt vor den Leuten, die sich vor die Walfangboote stellten. Das brauchte Mut und Idealismus! Hätten die heutigen Greenpeace-Aktivisten doch nur einen Bruchteil davon!»
Ich erwähne, dass ich für das «Magazin» einmal eine Walfang-Reportage aus Grönland geschrieben habe. Michael Graber reagiert sehr betroffen. «Das ist so brutal. Diese Tiere sind hoch intelligent und sozial, sie empfinden Schmerz intensiv …»
Nach unserem Gespräch schicke ich Graber meine damalige Reportage. Ein paar Tage später schickt er mir ein SMS. Ich zögere, es zu lesen, denn ich vermute, Graber nehme Bezug auf einen tags zuvor in der «Republik» erschienenen Essayvon mir, in dem ich die Kampagne der SVP gegen das Klimaschutzgesetz als «massive Desinformationskampagne» bezeichne. Aber Graber reagiert auf meine Walfang-Reportage.
Er schreibt: «Mich beelendet dieses Gemetzel noch immer genauso wie früher. Ich muss dabei immer an ein Zitat von Mephisto aus Goethes ‹Faust› denken: ‹Er (der Mensch) nennt’s Vernunft und braucht’s allein / Nur thierischer als jedes Thier zu seyn›.»
Das interessiert mich nun sehr. Denn die «Faust»-Tragödie ist in ihrem zweiten Teil eine Parabel auf die Dynamik der modernen Geldwirtschaft, die alles platt macht, was sich ihr entgegenstellt. Goethe hat diesen Teil kurz vor seinem Tod 1832 zu Ende geschrieben. Es war der Beginn des Zeitalters der fossilen Energien, welche die von Goethe hellsichtig beschriebene Dynamik bis zu dem Punkt gesteigert hat, wo wir heute stehen und riskieren, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Das Klimaschutzgesetz, das Graber so heftig bekämpfte, soll den Weg aus dem fossilenergetischen Zeitalter weisen.
Im «Faust II» erfindet Mephisto (also der Teufel) das Papiergeld. Es entfesselt sich ein Drang nach immer mehr. Die Dynamik kulminiert, als Faust vom Kaiser die Lizenz erhält, dem Meer mit Deichen Land abzuringen. Seinem Vorhaben steht die Hütte eines alten Paars im Wege: Philemon und Baucis. Faust befiehlt Mephisto, das Paar zur Seite zu schaffen, worauf dieser die Hütte kurzerhand anzündet. Philemon und Baucis kommen in den Flammen um: Opfer des «Fortschritts» der modernen Zeit.
Ich simse zurück: «Haben Sie den ganzen ‹Faust› gelesen? Auch ‹Faust II›?»
Michael Graber antwortet: Ja, er habe den ganzen «Faust» gelesen und finde ihn grossartig, und: «Manchmal komme ich mir als Walliser vor wie Philemon und Baucis.»