Marcel Hänggi
  • Texte
  • Bücher
    • La fin de l'âge du pétrole …
    • Null Öl. Null Gas. Null Kohle
    • Fortschrittsgeschichten >
      • Inhalt
      • Pressestimmen
    • Ausgepowert >
      • Inhalt
      • Pressestimmen
    • Wir Schwätzer im Treibhaus >
      • Inhalt
      • Pressestimmen
    • Cui bono
    • Beiträge in Sammelbänden
  • Ausstellungstexte
  • Unterricht
    • Leitfaden Vortragen
    • Projekte Deutschunterricht >
      • Kommunizieren – verstehen – interpretieren
      • Kriegsdarstellungen
      • Gesprächsanalyse
      • Fake News – Das Leugnen der Klimakrise
      • Schreiben: Museumstexte
      • Handke-Kontroverse 2019
    • Projekte Geschichtsunterricht >
      • Österreich-Ungarn 1913
      • Schweiz 1920er Jahre: Das Auto
    • 2021 MNG Wir holen CO2 aus der Atmosphäre
    • 2020 Universität Freiburg Geschichte schreiben
    • 2019 MAZ Statistik und Studien >
      • Statistik und Studien – 1. Kurstag
      • Statistik und Studien – Hausaufgaben
      • Statistik und Studien – 2. Kurstag
    • 2018 MAZ Statistik und Studien >
      • Statistik und Studien – 1. Kurstag
      • Statistik und Studien – Hausaufgaben
      • Statistik und Studien – 2. Kurstag
    • 2017 ETHZ Energy Resources Environment
    • 2016 Karlsruher Institut für Technologie >
      • Einleitung
      • 1. Kurstag: Was ist falsch...
      • 1. Kurstag: Grundbegriffe
      • Hausarbeit: Konzepte
      • Exkursion
    • 2014 - 2016 ETHZ Science in Context
    • 2009 - 2013 MAZ Journalismus global
    • 2007 - 2016 MAZ CAS Wissenschaftsjournalism >
      • 1 Adressen
      • 2 Literatur
      • 3 Webressourcen
      • 4 Ein Leitfaden zur kritischen Würdigung wissenschaftlicher Resultate
      • 5 Öffentlichkeitsprinzip
      • 6 Bewertung medzinjournalistischer Arbeiten
      • 7 Unterlagen
      • 8 Eigene Artikel
  • Forschung
    • Heinrich B.
  • Gletscherinitiative
  • Climate Update
  • Termine Vorträge / Podien
  • über mich
  • Kontakt
  • Datenschutz

«Ich beneide unsere Enkel, die das lesen können»

2/12/2009

 
Er war Kunstmäzen, Nietzsche-Jünger, Aristokrat und Kommunist, Kriegsverherrlicher und Pazifist – und vor allem: Jahrhundertprotokollant. Reisebericht von einer 10.000-Seiten-Tagebuchlektür: Harry Graf Kessler (1868 - 1937) – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 12. Februar 2009
> Der Artikel als PDF

Es war einer dieser Zufälle, die Bücher miteinander ins Gespräch bringen. Eben hatte ich «Das Mittelalter hört nicht auf» von Valentin Groebner gelesen – jenen Essay, in dem der Luzerner Mediävist nachzeichnet, wie das Mittelalter seit der Erfindung des Begriffs fortwährend neu erfunden und benutzt wird –, als ich in meiner allabendlichen Lektüre im Tagebuch von Harry Graf Kessler den Eintrag vom 20. Oktober 1915 las:
«[General] Gerok sprach bei Tisch über einen Artikel von Belz in der ‹Tat›, der die Rezeption der Renaissance und des Humanismus für das Verhängnis der deutschen Kultur erklärt. Gerok scheint diese Anschauung zu teilen. Ich sagte, ohne Humanismus hätten wir weder Goethe noch Schiller gehabt, auch sei die deutsche Kultur, die der Humanismus und die Renaissance im 16ten Jh. ­zerstört hatten, schon von selber im ­Absterben, überlebt unfruchtbar ­gewesen.»
Picture
Das war Groebners Thema – diese Vorstellung, dass Humanismus und Renaissance die vermeintlich einheitliche mittelalterliche Kultur in Deutschland zerstört hätten. Und das war ein Front­gespräch: Kessler schrieb seinen Eintrag im Stabsquartier Armeegruppe Gerok der 4. deutschen Armee hinter der Front in den Wolhynischen Sümpfen, wo die Schlacht gegen Russland tobte.

«Kessler ist ja schon eine ­Fundgrube», schrieb mir Groebner, als ich ihn auf die Stelle aufmerksam machte. O ja: Graf Kessler (1868-1937), war ein Tagebuch-Maniac; ein Zeitzeuge, wie man ihn sich besser nicht wünschen kann: brillant formulierend, nach fast allen Seiten interessiert, mit einem unglaublichen Kontaktnetz, ohne Berührungsängste gegen alle Bevölkerungsschichten und Welt­anschauungen. Dabei meist aus einer gewissen, oft ironischen Distanz seine Zeit beobachtend, etwa am Dreikönigstag 1919, mitten in den Berliner Revolutionswirren, als die kommunistischen SpartakistInnen gegen die sozialdemokratische Regierung kämpften:
«(…) zwei Demonstrationen ziehen aneinander vorüber (…); beide bestehen aus den gleichen, genau gleich gekleideten grauen Kleinbürgern und Fabrikmädchen, schwingen dieselben roten Fahnen, marschieren den gleichen Familien Marschtritt. Nur tragen sie verschiedene Inschriften, höhnen einander im Vorbeiziehen und werden heute noch vielleicht auf einander schiessen. (…) Nie seit den grossen Tagen der Französischen Revolution hat soviel bei den Strassenkämpfen in Einer Stadt für die Menschheit auf dem Spiel gestanden.»
«Sie werden die Memoiren unserer Zeit schreiben», sagte ein Freund am 5. September 1901 zu Kessler; «ich beneide unsere Enkel, dass sie das lesen können.» Einer dieser «Enkel», der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, nennt Kesslers Tagebuch ein «Jahrhundertprotokoll», «eine Zentraldatei der deutschen Gesellschaftsgeschichte und möglicherweise der Schlüssel zu einer europäisch angelegten Kulturgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts».

Seit bald drei Jahren verbringe ich fast allabendlich meine Viertel- bis Halbstunde mit dem Grafen, und für mindes­tens zwei weitere Jahre dürfte ich ihm treu bleiben. 1880, im Alter von zwölf, verfasste er seinen ersten Eintrag, am 30. September 1937, dem Tag seines Todes, den letzten. 16 000 Seiten sind das, gegen 9000 eng bedruckte Seiten werden es in der Buchausgabe sein, die derzeit im Marburger Literaturarchiv entsteht. 6000 davon, Ende 1891 bis Anfang 1919, habe ich hinter mir, die wilden Zwanziger und die Emigration nach Hitlers Machtergreifung liegen vor mir.

Kessler war Kosmopolit par excellence, Prototyp des Intellektuellen in einem globalisierten Europa, das sich 1914 so unfassbar schnell ins Verderben stürzte. Sohn eines schweizerisch-deutschen Grafen und einer irisch-englischen Mutter – Musikerin, Schauspielerin, Schriftstellerin und angebliche ehemalige Geliebte Wilhelms I.; Enkel eines anglo-indischen Marineoffiziers; aufgewachsen in London und Paris, perfekt englisch-, französisch- und deutschsprachig (zudem spricht er Italienisch, Spanisch, liest Latein und Griechisch). Er, der nie für Geld arbeiten musste (der Börsencrash 1929 ruinierte ihn, doch unterhielt ihn von nun an seine Schwester), verbrachte den grössten Teil seiner Lebenszeit damit, mit interessanten Menschen zu frühstücken und zu dinieren, Fäden zu ziehen, Projekte anzureissen, die oft im Sand verliefen. Und alles schrieb er nieder.

Ich hatte durch Schlögel und den niederländischen Journalisten und Historiker Geert Mak («In Europa») erstmals von Kessler gehört – und subskribierte, ohne eine Seite gelesen zu haben, gleich die ganze, auf neun Bände angelegte Tage­buchedition. Ich entschloss mich, auf die­se Reise zu gehen, ohne zu wissen, was auf mich zukommt.

Mit einer Reise begann die Lektüre des zweiten Bandes (Band 1 ist noch nicht erschienen). Kessler reist von Ende 1891 bis Mitte 1892 um die Welt – USA, Japan, China, Vietnam, Singapur, Malaysia, Indien, Aden, Ägypten, Italien. Bis zum Ende des zweiten Bandes, 1897, unternimmt er eine Kunstreise nach Norditalien, pendelt dauernd zwischen Deutschland, Frankreich und England, leistet Militärdienst (für Angehörige seines Standes eine angenehme Sache mit viel Offiziers­diners, Ausritten und homoerotischen Badeeskapaden) und reist noch einmal in die USA sowie nach Kanada und Mexiko, wo er den Popocatépetl besteigt:
«Die Luft ist kalt und klar und dünn. Und nun will die Sonne aufgehen. Das Weltenweihefest beginnt. In den Thälern regt sichs und vom Nebelmeer lösen sich Wolkenzüge und schweben an Abgründen aufwärts; aus den östlichen Tiefen brechen weissflimmernde Strahlen hervor und stehen am Himmel als Pfande des Lichts; Himmel und Erde sind künftige Farbe, schweigendes Werden.»
(15. November 1896)
Das ist grosse Reiseprosa. Es gibt aber schon länger Ausgaben mit Auszügen aus dem Tagebuch, mit herausgepickten Highlights. Man brauchte sich nicht durch seitenlange gelehrte Reflexionen über die italienische Kunst des 13. Jahrhunderts zu lesen, durch Wochen, die aus lauter Einträgen im Stil «Frühstück mit X, Diner mit Y» bestehen. Zu Beginn überblättere ich denn auch immer mal wieder einige Passagen. Aber ich tue es je länger, desto weniger. Denn ein Tagebuch lebt vom Nebeneinander von Banalem und Grossem, von Krieg und Diskussionen über das deutsche Mittelalter (die natürlich nicht nichts miteinander zu tun haben). Es lebt von der Langsamkeit. Davon, dass Kessler einen Gedanken entwirft, ein paar Tage später wieder aufgreift, weiterentwickelt. Es lebt von seiner Vielfalt an Textformen und Stilen (die er alle virtuos beherrscht). Einen vulgären Dialog zwischen Künstlern wie Edgar Degas und José María Sert hält er umwerfend komisch fest; die Schilderung eines Boxkampfes in London ist eine poetische Trouvaille:
«Einige prachtvolle Kämpfe (…). Namentlich als ein schöner, schlanker Kerl von etwa 25 Namens Charley Knock, der klassisch und knapp wie eine griechische Bronze gebaut war, eine Art von schwerem Riesen besinnungslos hinstreckte, ‹knocked out›. (…) Der ­schwere Riese stand hin und her torkelnd zwei oder dreimal wieder auf und holte zum Boxen aus; aber der Andre streckte ihn, fast ohne die Beine oder den Leib zu rühren, blos die Faust gradeaus schnellend jedesmal mit einem Schlag krumm hin. Etwas Schöneres habe ich kaum ­gesehen. (…) East End und Griechenland in eins gemischt, und ohne eigentlichen ­Kontrast. Im Gegenteil.»
(25. April 1903)
Kessler denkt ästhetisch. In ästhetischen Begriffen wird er später auch den Krieg beschreiben …
«Neue Films von der Sommeschlacht in der vordersten Linie aufgenommen; Sturmangriffe, Flammenwerfer, Gas­wolken. Szenen von grosser wilder Schönheit. Die neue deutsche Sturmhaube wirkt fast antik.»
(31. Oktober 1916)
… oder die Revolution:
«Das Leichenbegängnis der Matrosen war über Erwarten grossartig. (…) Der ganze gewaltige Raum, unregelmäs­sig eingerahmt von strengen, prunkvollen Gebäuden, vielleicht der ernsteste und schönste grosse Platz der Welt, wurde durch diese unabsehbare, ­gewaltige, ­überall gleichartig grauschwarze ­Prole­tariermenge zu einer Einheit.»
(29. Dezember 1918)
Kessler ist mein Reiseführer in ­eine vergangene Zeit. Sympathie? Nähe zumin­dest kommt selten auf; das Tage­buch ist nie journal intime. Persönliche Befindlichkeiten interessieren den Schreiber nur selten. Von Liebschaften gibt er nichts preis; dass Kessler mit dem «kleinen ­Colin», dem Bauernjungen, den er für den Bildhauer Aristide Maillol als Aktmodell engagiert, eine Liebesbeziehung unterhält, ahnt man, erfährt es aber nur aus dem begleitenden Essay. Vielleicht ist das besser so; man möchte mit einem Reiseführer auch nicht gleich Zimmer und Geliebte teilen – zumal Kessler ein paar unangenehme Züge aufwies: Antisemitismus trotz zahlreicher jüdischer Freunde (Kessler schlägt im Krieg vor, «die polnischen Juden in den Munitionsfabriken zwangsweise zu verwenden»), missionarischen Eifer und Selbstüberschätzung:
«Niemand anders in Deutschland hat eine so starke, nach so vielen Seiten ­reichende Stellung. Diese ausnutzen im Dienste einer Erneuerung Deutscher ­Kultur: mirage oder Möglichkeit? ­Sicherlich könnte Einer mit solchen ­Mitteln Princeps Juventutis sein. Lohnt es der Mühe?»
(15. November 1905)
Das Stupendeste an der Tagebuchlektüre ist für mich die doch triviale Erkenntnis, dass so unterschiedliche Zeiten wie das Fin de siècle und die Roaring Twenties im selben Leben Platz hatten; dass die Welt Effi Briests und die Franz Biberkopfs von ein und demselben Menschen erlebt wurden.

Diese Wandlungen der Zeit ereigneten sich in harten Brüchen. Kessler hat sie mitgemacht, als wollte er sie möglichst auskosten: vom Aristokraten zum Kommunisten, vom Weltbürger zum Nationalisten, vom Kriegsverherrlicher zum Pazifisten. Die Zeit vor dem Krieg, «Europas glanzvollste Zeit» (Schlögel), verbringt Kessler als Reisender in Sachen Kunst. Er plant (mit Henry van de Velde) ein Nietzsche-Denkmal, gründet seine Cranach-Presse, um eine bibliophile Homer-Ausgabe herauszugeben – wozu er eigens ein Papier schöpfen lässt, das seinen Erwartungen entspricht –, unterstützt junge Künstler. Der Versuch, seine Freunde Maillol und Hugo von Hofmannsthal auf einer gemeinsamen Reise mit dem Genius loci Griechenlands bekannt zu machen, gerät zur Tragikomödie – die beiden Künstler können sich nicht leiden und sprechen kein Wort miteinander; Hofmannsthal versinkt in Heimweh, während Kessler und Maillol am Strand den einheimischen Jungen beim Nacktbaden zusehen. Für den russischen Ballettimpresario Sergej Diaghilew und seinen schönen Tänzer Nijinski schreibt Kessler gemeinsam mit Hofmannsthal die «Josephs­legende» (Musik: Richard Strauss). Er verkehrt mit dem suizidgefährdeten kommunistischen Schriftsteller Johannes R. Becher (dem späteren DDR-Nationaldichter) und mit dem protofaschistischen Ekel Gabriele D’Annunzio, der sich selber als grössten Dichter seit Dante sieht und vom sicheren Paris aus seine italienische Regierung attackiert, weil sie in ihrem Krieg in Libyen nicht aggressiv genug agierte. Auch wenn die zunehmenden politischen Spannungen im Hintergrund ständig präsent sind und sich auch in seinen Tagebüchern die nationalen Stereotypen häufen, bleibt Kessler der Kosmopolit, bis er – in Paris – vom Kriegsausbruch überrascht wird. Er ­reist nach Deutschland und rückt ein, zunächst gegen das neutrale Belgien. Und nun wird die Lektüre erschütternd: Wie ein Reporter schildert er eindringlich die deutschen Kriegsverbrechen – und legitimiert sie gleichzeitig.
«Jedenfalls hat man das Recht, solche furchtbaren Exekutionen wie die in den Ardennen auszuführen, wenn sich unsere Leute tadellos verhalten; das ist die Gegenleistung, die der Feind von uns erwarten kann. (…) Man muss wohl bis auf den 30 jährigen Krieg zurückgehen, um Etwas Ähnliches wie das schauerliche Drama in Seilles Ardenne zu finden.»
(22. August 1914)
Kessler ist der hunderprozentig loyale deutsche Soldat – gleichzeitig korrespondiert er mit seiner Schwester in England auf Französisch; eine belgische Wirtin zeigt sich entsetzt, dass der Feind in Kessler perfekt Französisch spricht.

Später gelangt Kessler an die Ostfront, kämpft sich durch die winterlichen Karpaten. Er bleibt der kritische Beobachter, der sich entsetzt, wenn die Generäle für ihre Fronthauptquartiere weisse Tischtücher beschlagnahmen lassen – und träumt von einem deutschen Reich von Riga bis Johannesburg. Als ein Vorgesetzter ihm aufträgt, die Geschichte der Schlacht an der Styr zu schreiben, spricht er mit Soldaten in den Schützengräben und russischen Kriegsgefangenen, und wenn er auch letztlich scheitert, sind seine Tagebucheinträge aus dieser Zeit doch mikrohistorische Präziosen, in denen der Offizier Kessler den Krieg mit den Augen des einfachen Soldaten betrachtet – und beispielsweise, neben allen Grausamkeiten, Verbrüderungsszenen zwischen Soldaten beider Seiten schildert, die kein Interesse daran haben, sich gegenseitig umzubringen.

Die letzten beiden Kriegsjahre verbringt Kessler als Kulturattaché – Propagandachef – in der deutschen Botschaft in Bern, unternimmt eigene Vermittlungsanstrengungen und schwankt immer stärker zwischen Kriegspathos und zunehmender Abscheu. Als er am 2. November 1917 zu Rainer Maria Rilke sagt, «man könne den Krieg als Ganzes verdammen, für unsinnig und tierisch erklären, in seinen Details, in einzelnen Momenten berge er seelische Schönheiten und Offenbarungen, die nur mit denen der Liebe zu vergleichen seien», so ist da neben der Ästhetisierung auch der Zweifel schon vorhanden. Am 27. Juli 1918 hält er, mit einem seiner raren Ausrufezeichen, gegen seine früheren Überzeugungen fest:
«Der Krieg ist keine Läuterung!»
Weshalb bin ich ihm bis zu dieser späten Einsicht gefolgt? Man schaut einem Menschen beim Denken zu – bei der allmählichen Verfertigung des Gedankens beim Tagebuchschreiben.

Ab August 1918 bricht die deutsche Stellung zusammen. Als Kessler am 4. Oktober von der deutschen Kapitula­tion erfährt, denkt er an Selbstmord – und doch zeichnet sich schon seine Utopie für die Nachkriegszeit ab:
«Als ich (…) Nachts um eins über die Brücke gieng, hatte ich Lust, in die Aare zu fallen. Ich war vielleicht innerlich nur zu tot, um es zu tun. Denn nur wenn in der Tat das Ideal ersteht, der freie Bund von lauter freien, gleichberechtigten, friedlichen Völkern, sind diese Tage nicht des Deutschen Volkes Untergang. Wird das Tausendjährige Reich morgen Wirklichkeit?»
Kesslers Nachkriegsutopie ist – als Gegenvorschlag zu Woodrow Wilsons Völkerbund – die des «wahren Völkerbunds», der auf Basis eines Sozialismus die Nationalstaaten als Organisationsein­heiten überwinden soll. Kessler wandelt sich zunächst zum Demokraten und Anhän­ger der SPD-Regierung Ebert und dann während der Revolutionstage zum Spartakus-Sympathisanten, der Friedrich Ebert als reaktionär verabscheut; er bringt sein Programm auf die Formel «Marx plus Nietzsche». Die Revolutions­zeit bot Chancen, politisch alles neu zu denken, selbst Gross­industrielle wie Kess­lers Freund Walter Rathenau, der Direktor der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft AEG, sympathisierten mit dem Bolschewismus; gleichzeitig tanzte Berlin:
«Was man bisher von der Revolution sieht: es wird getanzt, gegründet und von Zeit zu Zeit massacriert.»
(18. Februar 1919)
Fast hellsichtig erscheinen Kesslers ­düstere Vorahnungen:
«Wenn in diese zur Disziplin vorgebildeten deutschen Massen ein Glaube hin­einschiesst, Liebknecht oder ein andrer, dann wehe allen Gegnern; wenn nicht heute, so nach einer Generation!»
(7. März 1919)
Die folgenden Jahre liegen als Lektüre noch vor mir. Enden wird das Tagebuch mit dem Eintrag vom 30. September 1937. Am Tag seines Todes verspürt Harry Kessler, der überall zu Hause war, Heimweh nach der deutschen Stadt, die ihm am meisten Heimat war – und die ihn seit Hitlers Machtergreifung nicht mehr gesehen hat:
«Mit Christian nach Marvejols, um mein Herz röntgen zu lassen. (…) Das Städtchen, altmodisch, malerisch, erinnert im Stil und Atmosphäre an Weimar, aber schon fast südlich.»

Das Editionsprojekt

Harry Graf Kesslers Tagebücher lagern im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Eine erste Edition von ­Auszügen ist 1961 erschienen. Ein Teil der Tagebuchbände blieb lange Zeit verschollen, einige Bände wurden in einem Safe einer Bank auf Mallorca – Kesslers Wohnort, als er nach Hitlers Machtergreifung Deutschland verliess – zufällig gefunden. Gegenwär­tig wird das gesamte Tagebuch wissenschaftlich ediert. Das ganze Editionsprojekt startete 1994 und soll dieses Jahr abgeschlossen werden; es beschäftigte durchschnittlich vier ­wissenschaftliche MitarbeiterInnen. Die neun in Leinen gebundenen ­Bände sind je zirka 800 bis 1000 Seiten dick; das Personenverzeichnis umfasst 12 000 Namen.

Comments are closed.

    Autor

    Marcel Hänggi, ​Zürich
    wissenschaftlicher Mitarbeiter Verein Klimaschutz Schweiz (Gletscher-Initiative)
    Journalist | Buchautor
    ​dipl. Gymnasiallehrer


    Themen

    All
    Architektur
    Atomenergie
    Bevoelkerung
    Bildung
    Cern
    Demokratie
    Emissionshandel
    Energie
    EPF Lausanne
    ETH Zuerich
    Gentechnik
    Geschichte
    Journalismus
    Klimakonferenz Kopenhagen 2009
    Klimakonferenz Paris 2015
    Klimapolitik
    Klimaskeptiker
    Krieg Und Frieden
    Landwirtschaft
    Migration
    Ökonomie
    Physik
    Porträt
    Religion
    Reportage
    Rezension
    Suffizienz
    Synthetische Biologie
    Technik
    Technikkolumne NZZ
    Umwelt
    Umweltblog Newsnet
    Uni Zürich
    Verkehr
    Vortrag
    Wirtschaftswachstum
    Wissenschaft
    Wissenschaftsgeschichte
    Wissenschaft Und Industrie

Proudly powered by Weebly