Und Corona beschleunigt den Trend. Die Mailänder Stadtregierung wollte ihre Stadt sowieso vom Auto befreien, im Lockdown hat sie nun kurzfristig 35 Kilometer Auto-Fahrbahnen dem Velo und den FussgängerInnen umgewidmet. New York tat das selbe auf 160 Kilometern. Viele deutsche Städte, aber auch beispielsweise Bogotá, markieren kurzfristig neue Velospuren, in Vilnius dürfen die Restaurants ihre Tische auf die Fahrbahnen stellen. In Italien zahlt der Staat bis 500 Euro an den Kauf eines Velos und sogar die britische Regierung will Fussverkehr, Fahrräder und Busse auf Kosten der Privatautos fördern. Die Schweiz folgt zögerlich – Genf hat «Pop-up Bike Lanes» erstellt, der Kanton Waadt 100 Kilometer Strassen zu Radwegen umfunktioniert und die Städtekonferenz Mobilität schreibt, man müsse den «Schub, den die platzsparenden, gesundheitsfördernden und leisen Fortbewegungsarten in der Corona-Krise erfahren haben», nutzen, «um ihnen dauerhaft ein grösseres Gewicht zu geben». Es ist ein Paradigmenwechsel: Jahrzehntelang dominierte in der Verkehrspolitik die Logik «Das Auto braucht viel Platz, also bekommt es viel Platz». Nun, wo alle Distanz halten sollten, geht es darum, das platzfressendste aller Verkehrsmittel zurückzudrängen.
Erleben wir eine Welle der Autofeindlichkeit, wie AutolobbyistInnen klagen, einen «Krieg ‹Velo gegen Auto›», wie der Aargauer FDP-Ständerat Thierry Burkart twitterte? Oder sollte man eher darüber staunen, dass die Epoche der Autofreundlichkeit so lange gedauert hat?
Nämlich hundert Jahre: Was nun in den Zwanziger Jahren zu Ende gehen könnte, hat sich in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts durchgesetzt. Ende der 1920er Jahre «verschwand der Widerstand gegen das Automobil (…) und machte einer breiten Akzeptanz Platz», schreibt der Auto-Historiker Christoph Maria Merki. Noch 1920 war keineswegs gewiss, dass es so kommen würde.
Spielzeuge der Reichen
Zu einem Massenverkehrsmittel wurde das Auto zwar erst ab den 1950er Jahren. Die Politik ging zunehmend von dem Ideal aus, dass jeder Haushalt ein Auto besitzen sollte. 1950 waren 31, 1960 96 und 1970 224 Autos pro Tausend EinwohnerInnen zugelassen (heute sind es 540 Autos pro Tausend EinwohnerInnen). Die Grundlage dafür, dass das Auto zum Massenverkehrsmittel werden konnte, wurde aber vor dem Krieg gelegt.
Das technische Gerät Automobil stammt aus dem 19. Jahrhundert: Autos mit Elektro- und mit Verbrennungsmotor wurden in den 1880ern erfunden (zuvor schon gab es mit Dampfmaschinen angetriebene Fahrzeuge). Aber diese Geräte waren (wie übrigens auch die ersten Velos) nicht viel mehr als Spielzeuge einiger Reicher. Im ersten Weltkrieg wurden Lastwagen zu einem militärisch wichtigen Verkehrsmittel; viele Wehrmänner fuhren nun erstmals mit einem Motorfahrzeug mit. Auch die Post stieg allmählich von Kutschen auf Busse um und ermöglichte so einer breiten Bevölkerungsschicht Fahrten mit einem Motorfahrzeug. Um aber das Leben und die Umwelt radikal umgestalten zu können, musste das Auto zum Teil eines Systems werden: Fahrzeuge, Infrastrukturen, Mentalitäten, Gesetze und Rechtspraxis entwickelten sich gemeinsam und beeinflussten sich wechselseitig. Erst dieses System brachte das hervor, woran man heute beim Wort «Auto» denkt.
Das System bildete sich wesentlich in den 1920er Jahren heraus. Zu dieser Zeit hatte sich auch die Sozialgeschichte des Autos von der des Velos getrennt. Als Sportgerät hatte das Velo den jungen reichen Männern gefallen; als Verkehrsmittel setzte man lieber auf das Auto, war es doch seit jeher das Privileg der Oberschicht, ohne körperliche Anstrengung voranzukommen.
Die grosse Mehrheit war zunächst keineswegs geneigt, einer kleinen Minderheit für dieses Privileg die öffentlichen Strassen zu überlassen.
Graubünden
Am spektakulärsten leistete die Mehrheit in Graubünden Widerstand. Hier war das Auto ein Vierteljahrhundert lang verboten.
1897 kauft sich der Regierungsratspräsident als erster Bündner ein Auto. Er gibt es schon bald wieder zurück: Für die Bergstrassen der Landschaft Davos, wo er wohnt, taugt es nicht. Drei Jahre später wird auf den Bündner Strassen ein rotes Auto gesichtet. Die Zeitungen berichten; in Scuol fährt eine Kutsche in den Strassengraben, weil die Pferde scheuen. Ein Fahrgast droht mit Schadenersatzklage. Die Regierung handelt sofort und verbietet Autos. Als das Parlament das Verbot 1907 ein wenig lockern will, scheitert es an der Urne grandios. 1911 wird eine Volksinitiative mit grosser Mehrheit angenommen, die ein totales Autoverbot in die Kantonsverfassung schreibt.
Damals ist Graubünden schon eine international renommierte Reisedestination. Die Hoteliers wollen vom Auto nichts wissen: Ihre Gäste suchen Ruhe und reisen mit der Rhätischen Bahn an, die man für viel Geld gebaut hat und der man nun keine Konkurrenz zumuten will.
Der Krieg bringt zwangsweise eine Lockerung des Verbots für Lastwagen der Armee und damit eine grosse finanzielle Belastung für die Gemeinden, welche die Strassen und Brücken lastwagentauglich ausbauen müssen. Im letzten Kriegsjahr lässt die Regierung vierzehn Lastwagen zur Versorgung zu, weil das Futter für Kutschenpferde zu knapp ist; ab 1919 fährt ein Postauto von Chur auf die Lenzerheide. Am liebsten würde die Regierung das Verbot aufheben, zumal nun auch die Hoteliers die Seite gewechselt haben. Von 1919 bis 1925 müssen die Bündner sieben Mal an der Urne über die Autofrage befinden. Fünfmal fällt das Verdikt gegen das Auto aus. 1923 stimmen die Bündner «autofreundlich», indem sie probeweise drei Strecken dem Autoverkehr freigeben, nur um im Januar 1925 zum totalen Verbot von 1911 zurückzukehren. Nicht einmal Krankenautos sind erlaubt.
Doch nur fünf Monate später fällt das Autoverbot. Zwar ist die Zahl der Befürworter nicht grösser als im Januar, aber den Gegnern fehlen jetzt 2000 Bauern, die auf den Maiensässen und Alpen sind. Die Niederlage ist definitiv: Es gibt keine weiteren Volksabstimmungen über die Zulassung von Autos.
Man nennt den Autoverkehr «Privatverkehr», aber das private Fahrzeug taugt nichts ohne geeignete Strassen, wie schon der Bündner Regierungsratspräsident 1897 erfahren musste. Darüber, wer dieses öffentliche Gut beanspruchen darf, stritt Graubünden. «Bündner Volk, wach auf!», verkündete ein Abstimmungsplakat 1920: «Vor neun Jahren hast du dich mit gewaltiger Wucht geweigert, dein freies Alpenland zum Tummelplatz des Autos erniedrigen zu lassen (...). Im nächsten Sommer soll das Auto auf deinen Straßen fahren. Willst du das?» 1925 hiess es in einem Zeitungsinserat: «Bündnervolk! Du hast vor Jahrhunderten nicht zuletzt für die Freiheit der Straßen die Zwingherrenburgen gebrochen, daß heute diese modernen Straßenzwingherren nicht aufkommen. (…) Bachab mit dem Auto!»
Sozialdisziplinierung
Das totale Autoverbot in Graubünden war ein Spezialfall, aber in vielen Bergkantonen waren Autos nur auf ausgewählten Strassen zugelassen. Autoverbote gab es in zahlreichen Ländern, auch in den USA verboten einige Countys das Auto. Man wollte die Strasse nicht kampflos dem viel stärkeren Auto überlassen, das einen zunehmenden Blutzoll forderte. 1928 töteten Autos in der Schweiz 384 Menschen. Bei einem Bestand von gut 100 000 Fahrzeugen hiess das: Einer von 250 Autobesitzern tötete einen Menschen.
Sogar in den USA, wo das Auto schon auf dem Weg zum Massenverkehrsmittel war, fürchtete die Autolobby angesichts der vielen getöteten Kinder noch in den 1920ern, die Stimmung könnte sich gegen das Auto richten. Sie hatte eine Strategie, wie das abzuwenden sei: Die Opfer mussten zu Schuldigen gemacht werden. Automobilverbände führten gemeinsam mit den Polizeien Kampagnen zur Verkehrserziehung, deren unterschwellige Botschaft lautete: Wenn du nicht aufpasst, bist du selber schuld, wenn ein Auto dich überfährt.
«Nicht spielen auf der Strasse!» verkündete die Kantonspolizei Basel-Stadt den Kindern 1927 in einem Leporello. Was jahrhundertelang selbstverständlich gewesen war, wurde nun verboten, die Mobilität der Kinder der Automobilität geopfert.
Der ACS liess 1934 eine Serie von Schulwandbildern drucken. Das Bild «Der geordnete Strassenverkehr in der Stadt» zeigt eine gespenstisch disziplinierte Gesellschaft, in der von einem Polizisten zurechtgewiesen oder von der Kinderfrau zurückgehalten wird, wer aus der Reihe tanzen will.
Zur Disziplinierung gehörten auch die Fussgängerstreifen, die kurz vor 1920 erstmals auftauchten. Fussgängerstreifen mögen heute als etwas Fussgängerfreundliches erscheinen, sagen sie doch: «Hier hast du Vortritt». Damals aber sagten sie vor allem: «Überall sonst hast du nichts zu suchen». Auch hier wurde ein jahrhundertealtes Recht der Gehenden zurückgestutzt. Das widersprach nicht nur dem Rechtsempfinden der meisten Leute, auch die Gerichte akzeptierten diese Einschränkung vorerst nicht. 1922 hält das Aargauer Obergericht klipp und klar fest, «daß ein Fußgänger auf der Straße völlig frei ist, wo er gehen will, daß ferner auch schwerhörige Personen, ja sogar Taubstumme und Leute mit schweren Holzschuhen die Straße betreten dürfen. Denn die Fußgänger gefährden andere nicht; das Gefahrenmoment aber schafft das Automobil.»
Die Logik des Urteils ist heute nicht weniger richtig als damals, nur käme man damit vor Gericht längst nicht mehr durch. Hätte sich die Gerichtspraxis nicht geändert, wäre der Automobilismus, wie es ihn heute gibt, unmöglich geblieben.
Freie Fahrt
Aber auch die AutolenkerInnen mussten diszipliniert werden. Strassenverkehrsgesetze waren Sache der Kantone, die durch interkantonale Konkordate etwas Einheit herzustellen versuchten. Nicht alle Kantone beteiligten
sich.
Das Konkordat von 1914 erlaubte Autos, innerorts so schnell «wie ein trabendes Pferd» (18 Stundenkilometer), ausserorts 40 Stundenkilometer zu fahren. Durchsetzbar waren diese Limiten nur schwer, gab es doch keine brauchbaren Geschwindigkeitsmesser. Eine frühe Form eines Tachometers war ein Speichenrad mit Gewichten an den Speichen, die ab einer gewissen Geschwindigkeit durch die Fliehkraft nach aussen getrieben wurden. Wollte die Polizei die Geschwindigkeit messen, steckte sie eine Strecke ab und mass, wie lange ein Fahrzeug brauchte, sie zu durchfahren.
1921 erhielt der Bund durch einen neuen Verfassungsartikel die Kompetenz, den Strassenverkehr zu regeln. Bis das erste Strassenverkehrsgesetz erlassen wurde, dauerte es allerdings noch elf Jahre. Für das Problem der Höchstgeschwindigkeit wählte man in diesem Bundesgesetz eine einfache Lösung: Es gab keine mehr. «Mit einengenden Geschwindigkeitsvorschriften an Orten, wo ein zwingender Grund fehlt» – so argumentierte der Bundesrat in seiner Botschaft –, «ist noch nie der Versuchung nach Steigerung des Fahrtempos oder gar einem rücksichtslosen Geschwindigkeitskoller Einhalt geboten worden. Deshalb erscheint es uns viel richtiger, wenn der Fahrzeugführer ganz allgemein dazu verhalten wird, so zu fahren, dass er sein Fahrzeug jederzeit beherrscht.» Die Unterordnung der Fussgängerinnen und Fussgänger unter den Motorverkehr war nun Gesetz: «Der Fussgänger hat sich auf unübersichtlichen Strassenstrecken an die Strassenseite zu halten; ebenso, wenn Motorfahrzeuge herannahen. Beim Vorhandensein von Trottoirs und besondern Fussgängerstreifen hat er diese zu benützen.»
Erst 1958 führte das Parlament wieder Tempolimiten ein, gegen den Willen des Bundesrats, der sich 1955 – in dem Jahr, als die Zahl der Verkehrsunfalltoten erstmals die Tausend überschritt – noch dagegen ausgesprochen hatte.
Dysfunktional
Hätte man um 1900 geweissagt, das Auto werde eine Million Menschen töten, es wäre wohl überall verboten worden. Heute aber tötet das Auto weltweit wei mehr als eine Million Menschen pro Jahr – nur in Unfällen, die vorzeitigen Todesfälle wegen Umweltfolgen des Autos nicht mitgezählt. Und während also die Kosten des Automobils alles übersteigen, was der schlimmste Pessimist erwartet hätte, erweist es sich als dysfunktional, was seinen Netzen angeht: Es verspricht Mobilität, aber nirgends ist man immobiler als im Autositz, festgezurrt mit Sicherheitsgurten, und die mit Bewegungsmangel einher gehenden Krankheiten nehmen stetig zu. Es verspricht, Menschen zusammenzuführen, aber nirgends ist der Mensch asozialer als eingekapselt in eine Blechkiste und ausgestattet mit 150 und mehr Pferdestärken. Vor allem verspricht es Freiheit – dabei ist kaum ein Lebensbereich durch Vorschriften so streng geregelt wie der Strassenraum.
Je schlimmer aber das Auto wütete und je weniger es seine Versprechen erfüllte, desto mehr schien es unentbehrlich. Das technische System des Automobilismus hatte seine Zwänge und Pfadabhängigkeiten geschaffen. Die Elemente des Systems – Fahrzeuge, Strassen, Raumstrukturen, Institutionen, Gesetze, Mentalitäten – haben sich über hundert Jahre miteinander entwickelt, bedingen und stützen sich gegenseitig. Dass man den Kindern das kindliche Verhalte im öffentlichen Raum zu deren Schutz abtrainieren muss, fällt den Eltern, die selber schon so aufgewachsen sind, schon gar nicht mehr auf. Besonders augenfällig wird die Gewöhnung, wenn man sieht, wie Wörter ihre Bedeutungen verändert haben. Das erste Strassenverkehrsgesetz der Welt, der britische Locomotive on Highways Act von 1861, hatte zum Zweck, den «Verkehr» vor den Fahrzeugen zu schützen. Mit «traffic» waren die Menschen gemeint, die eine Strasse bevölkern. Heute nennt man Innenstädte, in denen ein Fahrverbot gilt, «verkehrsfrei» – auch wenn es darin von Menschen wimmelt.
Heute aber sind die FürsprecherInnen des automobilen Systems zumindest in den Städten in der Defensive. Ihr Hauptargument, mit dem sie ihr Lieblingsgerät verteidigen, lautet, dass es halt Leute gebe, die auf das Auto angewiesen seien: Sie argumentieren nicht mehr mit einer Freiheit, die es zu ermöglichen, sondern mit einem Zwang, dem es stattzugeben gelte. Aber wenn die Diskrepanz zwischen Freiheitsversprechen und Systemzwängen zu offensichtlich wird, beginnt das System zu kollabieren. Es sieht so aus, als hätte uns die Pandemie diesen Moment etwas näher gebracht.
Autofeindlichkeit der AutofahrerInnen
Man kann diese Entwicklung nun als «autofeindlich» beklagen, und einem eingefleischten Autofreund oder einer eingefleischten Autofreundin wird dieser Text ein Beleg solcher Autofeindlichkeit sein. Ihnen sei ein kleines, dreckiges Geheimnis verraten: Die meisten Autowerbungen zeigen das zu bewerbende Auto in einer ansonsten autofreien Landschaft. Und als vor zwei Jahren erstmals seit langem ein Autorennen in der Schweiz stattfand – die Formel E in Zürich –, schaltete der Hauptsponsor, eine Bank, ganzseitige Zeitungsinserate, in denen sie ihre Vision der Mobilität der Zukunft darstellte. Ein Bild zeigte die Zürcher Bahnhofstrasse mit Schwebebahn (so stellte sich schon Fritz Lang 1927 seine Zukunftsstadt Metropolis vor), einem Ufo-artigen Aufbau auf dem Bahnhofsgebäude (so sehen Zukunftsvisionen seit den 1950ern aus), einem Velo, FussgängerInnen, kleinen Roboterfahrzeugen – aber ohne Autos, lediglich ganz im Hintergrund waren ein paar entfernt autoähnliche Fahrzeuge zu sehen.
Auch potenzielle Autokäufer und Autorennsponsorinnen stellen sich die ideale Welt heute autofrei vor.
Stadtklima-Initiativen
Der Verein hat aber weitergemacht und lancierte 2008 in sechs Städten ihre «Städte-Initiativen», die verlangten, die Strassenkapazität zu begrenzen und den öffentlichen Verkehr zu fördern. Zürich, Genf und St. Gallen nahmen die Initiative, Basel, Luzern und Winterthur einen Gegenvorschlag an. In Biel und Thun sind Städteinitiativen hängig.
Ende 2019 beschloss umverkehR seinen jüngsten Streich: In mehreren Städten – voraussichtlich St. Gallen, Basel, Bern, Zürich, Genf und Winterthur – sollen «Stadtklima-Initiativen» lanciert werden. Die Initiativen verlangen, dass zehn Jahre lang jedes Jahr ein halbes Prozent des Strassenraums in Grünfläche und ein weiteres halbes Prozent in Fuss- und Velowege, Bus- und Tramspuren umgewandelt werden.