Um diesen Umbau zu schaffen, sollte man sich erst einmal klar werden, um was es geht. Fast die gesamte Energiedebatte geht diesbezüglich von falschen Annahmen aus. Hier die wichtigsten:
• Alle streiten sich, ob erneuerbare Energien gefördert werden sollen und wie sich die Energie effizienter nutzen lässt. Aber es geht weder um mehr Erneuerbare noch um mehr Effizienz. Sondern um weniger umweltschädliche Energien. Das eine führt nicht automatisch zum anderen, wie die Geschichte zeigt: Die Kohle hat den Energieträger Holz nicht abgelöst, die Dampfkraft nicht die Sklavenarbeit, das Erdöl nicht die Kohle, die Elektrizität nicht das Öl. Neue Energien traten immer zu den alten hinzu, statt sie zu verdrängen. Und: Technik wird ständig effizienter, aber nie verbrauchte die Menschheit deswegen weniger Energie. Die erwünschten Energien zu fördern statt die unerwünschten zu bremsen: Das heisst das Pferd am Schwanz aufzäumen.
• Die Bundesverfassung fordert einen «sparsamen und rationellen Energieeinsatz». Der Bundesrat ergänzt: «Dies mit verstärkten Effizienzmassnahmen». Das ist eine unzweckmässige Einschränkung von Optionen. Man kann nicht nur sparen, indem man effizienter wird – also dasselbe mit weniger Energie tut –, sondern auch, indem man weniger tut. In der Fachsprache nennt man das Suffizienz. Das Standardargument dagegen lautet: Niemand verzichtet freiwillig, und ein liberaler Staat kann Suffizienz nicht erzwingen. Aber darum geht es nicht. Es ginge darum, Suffizienz nicht von vornherein auszuschliessen. Die heutigen Anreize bestrafen suffizientes Verhalten. Liberal wäre, alle zweckmässigen Optionen gleichberechtigt zuzulassen.
• Die Energiedebatte orientiert sich an «ökonomischer Effizienz». Man will zuerst dort handeln, wo es am wenigsten kostet und am meisten bringt: lieber Autos bauen, die weniger Treibstoff brauchen, als Verkehrsstrukturen ändern. Das wäre vielleicht vernünftig, ginge es darum, den Benzinverbrauch um ein paar Prozent zu senken. Es geht aber um mehr. Wer ein Haus totalsanieren will, beginnt nicht mit Fensterputzen, weil das am billigsten ist. Zuerst zu tun, was am wenigsten Umstellung erfordert, ist Strukturerhalt.
• Die Energieversorgung soll laut Bundesverfassung «wirtschaftlich» sein. Das wird in der Regel verstanden als: billig. Doch heute sind sowohl Energie wie energieverbrauchendes Verhalten direkt und indirekt stark subventioniert. Energie ist also bereits zu billig. «Wirtschaftlich» muss deshalb etwas anderes heissen. Beispielsweise: krisenresistent. Eine Energieversorgung, die zu vier Fünfteln auf Rohstoffen beruht, die knapper werden und die wir aus einigen wenigen, autoritär regierten Staaten importieren, ist das nicht. Krisenresistent hiesse zum Beispiel: «breit gefächert». Wie es in der Verfassung steht.
• Die Energieversorgung soll laut Verfassung «ausreichend» sein. Das ist der schwierigste und zugleich der wichtigste Punkt, wo falsche Voraussetzungen zu falschen Lösungen führen. Versteht man «ausreichend» so, dass jede prognostizierte zukünftige Energienachfrage gedeckt werden muss und keine «Energielücken» entstehen dürfen, ist das systemwidrig: In einer Marktwirtschaft sorgt der Markt dafür, dass Angebot und Nachfrage sich decken. Der Markt kennt keine Versorgungslücken (von technischen Blackouts mal abgesehen). Es verblüfft, wie wenig Marktvertrauen gerade diejenigen Kräfte haben, die sonst immer nach mehr Markt rufen.
Man könnte argumentieren, eine Sonderbehandlung rechtfertige sich, weil Energie für die Erfüllung von derart vielen Bedürfnissen der Gesellschaft unverzichtbar ist. Das ist an sich richtig. Aber damit kommen wir zum Kern der Sache: Es geht um Bedürfnisse wie Ernährung, Wohnen, Mobilität. Eine ausreichende Energieversorgung ist ein Mittel, diese zu befriedigen – kein Zweck. Wie viele Kilowattstunden jemand verbrauchen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, hängt von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind nicht naturgegeben. Man kann sie ändern.
In der politischen Debatte werden immer wieder Zwecke und Mittel verwechselt – gerade im Bereich Verkehr, also dort, wo der Energieverbrauch am schnellsten wächst: Fast alle sagen heute «Mobilität», wenn sie «Verkehr» meinen. Das ist eine unsinnige Verwechslung: Wenn Läden schliessen, müssen die Menschen längere Wege zurücklegen, um einzukaufen; der Verkehr nimmt zu. Aber niemand würde behaupten, die Schliessung des Quartierladens habe ihn mobiler gemacht. Mobilität ist Zweck, Verkehr ist Mittel. In den vergangenen hundert Jahren wurden die Verkehrsmittel immer schneller, mit ihnen wuchsen die durchschnittlich zurückgelegten Wege und also das Pro-Kopf-Verkehrsaufkommen rasant. Die Mobilitätsbedürfnisse indes sind ungefähr gleich geblieben: von zu Hause zum Arbeitsplatz, zum Einkaufen, zu Freunden. Wir sind nicht mobiler geworden, wir betreiben nur immer grösseren Verkehrs- und Energieaufwand, um gleich mobil zu bleiben.
Kern der Energiepolitik müsste die Fähigkeit sein, gesellschaftliche Bedürfnisse ausreichend befriedigen zu können – in unserem Beispiel: Mobilität. Das kann bei geeigneten Rahmenbedingungen (im Beispiel: eine zweckmässige Raumplanung) auch mit weniger Energiedienstleistungen (im Beispiel: Verkehr) geschehen. Stellt man die Sache derart vom Kopf auf die Füsse, verliert auch die Suffizienz ihren Schrecken: Suffizienzpolitik heisst dann nichts anders, als dafür zu sorgen, dass mehr Mobilität mit weniger Verkehr, allgemeiner: dass mehr Bedürfnisbefriedigung mit weniger Energiedienstleistungen möglich wird. Das ist nichts anderes als Effizienz.
• Schliesslich: Die Energiedebatte orientiert sich am Bekannten. Man geht davon aus, dass die Menschen in Zukunft ungefähr dasselbe tun wie heute, nur vielleicht anders. Normalerweise ist diese Annahme eine vernünftige Grundlage der Politik. Aber: Das Energiesystem hat die Schweiz schon einmal radikal verändert. Die Schweiz von 1950, als die heutigen Verbrauchsmuster sich zu bilden begannen, war eine ganz andere als die Schweiz von heute – in manchem eine schlechtere, in manchem eine bessere. Sollte die Energiewende gelingen, wird die Schweiz in vierzig Jahren wieder eine ganz andere sein.
Natürlich geht es nicht darum, diese ganz andere Schweiz dirigistisch zu planen und beispielsweise, wie das der Bundesrat will, auf vier Jahrzehnte hinaus genaue Produktions- und Verbrauchsziele pro Energieart festzulegen. Ebenso wenig kann es aber darum gehen, Besitzstände auf Teufel komm raus zu wahren. Liberale Politik lässt zu, dass die Welt sich ändert. Man müsste einfach mal aufhören, sich «anders» als immer nur «schlechter» denken zu können.
Marcel Hänggi
> Vernehmlassung zur Energiestrategie 2050: Hier geht’s zu meiner Vernehmlassungsantwort vom 21. November 2012