«Frankfurter Rundschau», 28. November 1998
Sein Frühstück am kältesten Ort der Welt besteht aus: gekochten Fohlenherzen (Pferdefleisch, heißt es, sei sehr gut gegen Folgen radioaktiver Verstrahlung), Wurst, Brot und Brusnik (Preiselbeeren). Nach der Arbeit serviert seine Gastgeberin einen Fisch, etwa forellengroß, der ganz gekocht und von Hand und ganz (ohne Gräten und Flossen, mit den Innereien) gegessen wird. Das Nachtessen: jakutische Blutwurst, Pferdemagen (gekocht, kalt), Brusnik, Rindfleisch (gekocht, kalt), Fisch (roh, gefroren, in Streifen geschnitten), Pferdeleber (roh, gefroren), Pferdefett (roh, gefroren). Zur Nachspeise: rohes Elch-Knochenmark (eine Schleckerei!), dazu ein wenig Brot. Die jakutische Küche ist nicht raffiniert, aber die Rohstoffe sind von fabelhafter Qualität. Er würde keinen Grund haben, sich über das traditionelle Essen der Jakuten zu beklagen.
Als er über das Flugfeld geht, zieht er die dicke Jacke aus, die er für die Landung in Nordsibirien angezogen hat. Ein harziger Geruch überrascht ihn und erinnert an die Macchia des Mittelmeers. Es ist plus 15 Grad Celsius, Tagundnachtgleiche. "Zu warm für die Jahreszeit", sagen die Einheimischen. 45 Tage später wird es 45 Grad kälter sein. Der Winter kommt am 23. Oktober. "Zu warm für die Jahreszeit", werden die Einheimischen dann noch immer sagen.
Erste Etappe auf der Reise nach Werchojansk, dem kältesten Ort der Erde: Jakutsk. 300 000 Einwohner, 62 Grad nördliche Breite (ungefähr wie Helsinki), 129 Grad östliche Länge (wie Nagasaki), gelegen an der Lena. Genauer: drei Straßenkehren vom Ende der Welt; Hauptstadt der Republik Sacha (Jakutien). Die Stadt ist staubig, aber der leichteste Regen verwandelt sie in ein Schlammfeld. Die Trottoirs stehen vielerorts unter Wasser, doch auf den Straßen zu laufen wäre bei der Fahrweise der hiesigen Autofahrer lebensgefährlich. Der Boden ist ganzjährig gefroren, nur in den Sommermonaten taut er an der Oberfläche auf. Darunter kann das Wasser nicht versickern, die aufgetaute Schicht gleicht einem vollgesogenen Schwamm, der sich bewegt.
Alles ist geprägt von diesem Permafrost: Holzhäuser versinken langsam im Boden. Wasser-, Abwasser- und Fernheizleitungen werden oberirdisch verlegt, viele Steinhäuser sind eingestürzt. Heute baut man sie auf Betonstelzen, die tief in den ewig gefrorenen Boden gerammt werden. 70 Prozent der Gebäude von Jakutsk sind beschädigt.
Als der höchste Gott die Erde erschaffen hatte, erzählt eine jakutische Sage, flog er mit einem Sack voller Reichtümer darüber, um da und dort etwas abzuwerfen. Über Jakutien aber wurden ihm vor Kälte die Finger klamm, und er ließ alles fallen. In der Teilrepublik werden 99 Prozent der russischen Diamanten gefördert, ein Viertel der in Rußland abgebauten Bodenschätze Gold, Silber, Zinn, Kohle, Öl und Gas kommt von dort.
Vom Reichtum Jakutiens merken die Menschen im Alltag jedoch wenig. Das Stadtzentrum gleicht einem Bidonville, das Hafenviertel ist Slum: Planlos hingestellte Holzhütten einfachster Bauart, bewohnte neben verlassenen und zerfallenen, wechseln ab mit Kleinst-Kartoffeläckern, Abfallhalden, willkürlich gezogenen Sandpisten. Dazwischen streunen Dutzende Hunde, die von Abfällen leben.
Auf einer Baustelle nageln zwei Männer Holzbretter an vier in den Boden gerammte Kanthölzer. Die Ritzen werden mit Wolle abgedichtet, ein neues Wohnhaus für den sibirischen Winter entsteht. Dazu zaubert das Wetter einen Himmel aus Weiß, Hellblau, Hellgrau, Gelb, Rot und Lila. Die Konturen der tiefstehenden Sonne verfließen im leichten Dunst, die Wolken zeigen in parallelen Streifen nach Nord und Süd.
"Vielleicht gibt es doch einen Gott", sagt Svetlana, die Gastgeberin. "Der macht, daß es weniger kalt ist als in anderen Jahren, weil die Heizungen nicht funktionieren." Der Winter kommt am 23. Oktober. Spät, sagen die Einheimischen, und: Es ist zu warm für die Jahreszeit. Es ist fünf bis zehn Grad unter Null.
Die meisten Häuser werden von Gasheizwerken ferngeheizt. Die Installationen wurden immer im Sommer überholt – bis vor zwei Jahren. Dann habe das Parlament nicht mehr genug Geld bewilligt, heißt es. Welches Parlament, das russische, das der Republik oder das der Stadt? Niemand weiß es. Man ist es nicht gewohnt, nach Verantwortlichen zu fragen.
Nun zeigen sich die Pannen. Vierzig Prozent der Haushalte sind unbeheizt, und sie werden es bis Mitte November bleiben. Es wird dann minus 30 Grad kalt sein, immer noch "zu warm für die Jahreszeit". Weil die Heizungen nicht funktionieren, frieren Abwasserleitungen ein. Einen Tag gibt es nur kaltes, dann nur warmes, dann wieder gar kein Wasser. Das Elektrizitätswerk streikt, weil der Lohn seit Monaten nicht ausbezahlt wurde. Und zum ersten Mal hört er aus den russischen Gesprächen immer wieder das eine Wort heraus, das aus dem Französischen stammt und das er noch oft hören wird: Koschmar, Alptraum.
Aber nicht die Stromausfälle, nicht das schlechte Funktionieren der Wasserversorgung und nicht die Kälte sind es, die dem Gast das Leben schwermachen: Als erstes war ihm aufgefallen, daß die Menschen sich nicht ausweichen; wer im Weg steht, wird wortlos zur Seite gedrückt. Wer einen Freund mit dem Auto abholt, steigt nicht aus, sondern hupt, bis dieser kommt – auch morgens um drei, auch wenn man hundert andere damit weckt. Wer sich nicht kennt, grüßt sich nicht – nicht im Laden, nicht im Treppenhaus, nicht einmal, wenn man im selben Zimmer des Wohnheims schläft.
Das Anstehen an der Garderobe nach der Oper wird zum handgreiflichen Tumult. "Nachhaltiger als ihrer Freiheit hat die Sowjetdiktatur die Menschen ihrer Würde beraubt. Das wirkt bis heute vor. Menschen, die wie Vieh behandelt wurden, behandeln sich gegenseitig wie Vieh – und sich selbst", liest der Besucher in einer europäischen Wochenzeitung. Er ist froh, zitieren zu können: Man redet nicht gern schlecht über Menschen, bei denen man zu Gast ist.<
Die Zeitung schreibt über Moskau. Wieviel mehr muß das für Sibirien gelten – ferne Kolonie Rußlands, Abfallhalde des Systems, Gefängnis des Imperiums, Bodenschatzreservoir. Es mag eine Rolle spielen, daß ein großer Teil der Bevölkerung nur vorübergehend hier ist: Die höheren Löhne ziehen Menschen an, die in kurzer Zeit viel verdienen und möglichst schnell wieder verschwinden wollen. 90 Prozent der Zugewanderten verlassen das Land innerhalb von fünf Jahren wieder, um in ihre wärmere Heimat zurückzukehren.
Sein Gesichtsfeld ist eingerahmt von Pelzmütze und Schal, beides weiß von der gefrorenen Atemfeuchtigkeit. Die Landschaft besteht nur aus: Weiß (der Schnee, die Birken), Blau (der Schnee, der Himmel), Braun (die Birken, die Zäune). Aber das Weiß ist gelb im Sonnenlicht und blau im Schatten, und abends und morgens kommen Farbschattierungen von Rosarot bis Orange dazu. Das Blau ist wolkenleer.
Geräusche? Das Knirschen der eigenen Schritte im trockenen Schnee, sonst: ab und zu ein Hund in der Ferne, Kühe, Motoren. Flügelschlag eines Rabenvogels, selten sein Krächzen. Einmal der Ruf vielleicht eines Schneehuhns.
Und: Himmel, ein Überfluß an Himmel, eine Anmaßung an Himmel. Soweit das Auge reicht. Unendlich weit reicht er, überspannt nichts als Bären, Wölfe, Hirsche, Elche. Nur die Zugvögel, schrieb Tschechow, wissen, wo die Taiga endet. Auf keinen maurischen Palast scheint die Sonne von diesem Himmel, auf keine Piazza voller Leben. Kein Papst baute seine Kirchen in lächerlicher Überheblichkeit unter diesem Blau, keine grünen Palmen kontrastieren es und keine weißen Tempel. Als hätte er nichts Besseres zu bedecken, wölbt er sich nur über Marder und Schneehühner, Lärchen, Birken und Föhren.
Zweite Etappe. Der Flug von Jakutsk in die kälteste Gegend der Welt dauert knapp zwei Stunden. Die Stewardeß im Propellerflugzeug trägt Pelzmantel und Pelzmütze. Rund 600 Kilometer sind von Jakutsk aus zurückzulegen. Das Werchojansker Gebirge liegt dort unten. Er sieht: Berge ohne Namen, Flüsse ohne Namen und über Hunderte von Kilometern nicht ein Haus, nicht eine Straße.
Nach der Landung auf dem Flugplatz von Batagaj – schneebedeckte Schotterpisten, ein kleines Holzhaus – soll der Gast einem Beamten den Zweck seiner Reise nennen. Er sei Tourist. Die Beamten wollen seine Antwort nicht akzeptieren. Touristen kommen mit Jagdausrüstung und in Gruppen, aber nicht alleine und nicht im Winter. Zwei Tage später steht seine Ankunft in der Lokalzeitung. Hier sind Fremde eine Sensation. Scharen von Kindern rufen dem Gast "Hello!" oder "Bonjour!" oder "Guten Tag!" zu, um dann kichernd davonzurennen, als hätten sie etwas Obszönes gesagt.
Er kommt aus dem Land, von dem sie aus dem alten sowjetischen Schulbuch nur die Geschichte des Wilhelm Tell kennen: Tell war Bürger der Stadt Zürich, und weil er der beste Schütze der Stadt war, traf er den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes . . . Er kommt aus dem Land, über das man hier sagt, dort gebe es Kommunismus: In der Schweiz haben alle alles und sind reich.
Batagaj. In der breiten Talsohle der mäandernden Jana liegen die flachen Holzhäuser und die wenigen Steinbauten so nah am Fuß einer Geländestufe, daß die Sonne vier Monate im Jahr nicht scheint. Der größte Teil der Lärchen rund um die Siedlung ist tot. Der Schnee ist dunkelgrau. Über der Stadt liegen dicke, schwarze Rußwolken; die Luft reizt zum Husten. Die Kohleheizwerke arbeiten ohne Rauchgasfilter, der Strom wird von Dieselmotoren erzeugt. Die Siedlung wurde in den dreißiger Jahren gegründet, als man dort Zinn entdeckte. Rund 5000 Menschen leben dort – vor zehn Jahren waren es noch mehr als 10 000.
Im Hauptort des Bezirks Werchojansk gibt es eine Volks- und eine Berufsschule, ein Spital, eine Lokalzeitung, ein Kinderhaus, einen Jugendclub, der gleichzeitig Heimatmuseum ist, ein Kulturhaus mit Bibliothek, eine Tanz- und Musikschule. Die größten Arbeitgeber sind der Flugplatz, die ständige geologische Expedition, eine Diamanten-Verarbeitungsfabrik. Die Bevölkerung setzt sich aus vielen Ethnien zusammen, Nordvölker und Zugewanderte halten sich ungefähr die Waage.
Viele Wohnungen haben keine sanitären Einrichtungen. Die Banja, ein öffentliches Bad mit Sauna, ist samstags für Frauen und sonntags für Männer geöffnet. Während des zwei- bis dreistündigen Bades wird der Dorfklatsch ausgetauscht.
Werchojansk, "der kälteste Ort der Welt", ist etwa 80 Kilometer und rund zwei Stunden Fahrt mit dem Geländewagen von Batagaj entfernt. "Stadt" darf sich das Dorf stolz nennen, das mit seinen 2000 Einwohnern auf jeder mittelmäßigen Weltkarte verzeichnet ist und wo am 15. Januar 1885 die kälteste Temperatur gemessen wurde, die in einem bewohnten Gebiet der Erde je offiziell festgestellt wurde: 67,8 Grad Celsius unter Null.
Vor 350 Jahren wurde die Stadt gegründet, und von Anfang an war sie Zielort für Verbannte. Diese errichteten vor 125 Jahren die älteste Schule der Republik, dort, am kältesten Ort, abgeschottet von der Republikhauptstadt durch das Werchojansker Gebirge, wo sich früher die Hasen gute Nacht sagten und auswanderten, als die Menschen mit der Verschmutzung der Natur begannen.
Er wollte den kältesten Ort der Welt sehen, und er wollte ihn im Winter sehen. Er wollte wissen, wie die Menschen dort leben können. Nun ist er da, und es ist Winter, und die Leute sagen: "Du hast Glück, es ist ein warmer Winter." Minus 40, am Nachmittag minus 35 Grad. Er ist ein wenig enttäuscht. Er sagt es den Leuten nicht. In der Stadt haben sie gesagt: Du spinnst, im Winter nach Werchojansk zu fahren. Er stellt sich vor, daß die Bergbauern in den Alpen im vergangenen Jahrhundert ebenso reagierten, wenn Reisende aus England ohne Zweck auf die Berge steigen wollten.
Er will wissen, wie die Menschen bei minus 65 Grad leben können, und so fragt er Sascha: Wie lebt ihr, wenn es nochmal 25 Grad kälter ist? "Wir ziehen halt noch einen Pullover mehr an." So einfach ist das. Bei minus 40 gefriert die Tinte im Kugelschreiber, und er muß aufpassen, daß seine feuchte Nase nicht am Kameragehäuse festfriert. Das Filmwechseln wird bei 40 Grad zur Qual. Der Rucksack aus Nylon wird steif und droht zu brechen. Er hat von Forschungsreisenden im 18. Jahrhundert gelesen, die sich verirrt hatten und sich in den Schnee eingruben, um es weniger kalt zu haben.
Die Menschen tragen Stiefel aus Pferde- oder Rentierfell. Ein Paar kostet auf dem Markt 1200 neue Rubel, das ist für viele mehr als ein Monatslohn. Sie tragen Kleider aus Pelz, Fell, Wolle. Damit gehen sie auch im Winter auf die Jagd, sind auch bei minus 60 Grad stundenlang im Freien. Synthetische Fasern kennen sie kaum, und sie wollen dem Gast nicht glauben, daß er in seinen eigenartigen, farbigen Faserpelzen nicht friert.
"Wie könnt ihr in solchen Häusern wohnen?" fragt Katja, die Deutschstudentin, den Besucher. Er hat ihr Bilder von der Züricher Altstadt gezeigt und erwähnt, wie alt die Häuser dort sind. "So viele Menschen haben in diesen Häusern gewohnt und sind darin gestorben, habt ihr keine Angst vor ihren Geistern?" Als er von einer Gruppe Jugendlicher zum Picknick mitgenommen wird, ist der erste Schluck Sekt nicht ihm, dem Gast, bestimmt, sondern dem Feuer. "Ein Opfer", klären ihn die Jugendlichen auf. Man wisse nicht genau, für wen, aber "man macht das bei uns so".
Auf der Fahrt von Batagaj nach Werchojansk – zwei Stunden durch menschenleere Taiga – hält der Jeep an einem erhöhten Punkt an einem Baum. Er ist mit farbigen Stoffetzen behängt, daneben steht eine Holzbank, von der aus man die Aussicht genießen kann. "Der Schamanenbaum", erklärt der Fahrer. "Du mußt etwas opfern für den Geist des Schamanen. Das bringt Schutz für die Reise." Rund um den Baum liegen die Opfergaben: Zigaretten, ein Moskitonetz, Speisen, Geld.
Fragt er Jakutinnen und Jakuten nach ihrer Religion, antworten die meisten: Wir sind Atheisten, oder: Es gibt keine jakutische Religion. Fragt er sie aber, ob sie an Geister glauben – an die Geister der Natur, an die Geister der Toten, an die guten Geister der Oberen Welt und an die bösen Geister der Unteren Welt – und ob sie an die Kräfte der Schamanen glauben, antworten alle: selbstverständlich.
Es gibt genug Berichte über gelungene Heilungen durch Schamanen. Über Schamanengräber, die bei einem Waldbrand unversehrt blieben. Einige haben schon Kontakt mit Geistern gehabt. Aber das sei keine Religion. Das sei einfach so.
Die Nordvölker Sibiriens wurden in der Zarenzeit zum Christentum (zwangs-)bekehrt. Ihre Kirche war die russisch-orthodoxe, aber sie glaubten weiter an den Schamanismus. Während der Sowjetherrschaft wurde er als rückständig unterdrückt, Schamanen wurden verfolgt. Heute gibt es nur noch wenige Schamanen, auch wenn mit der Perestrojka eine Renaissance sibirischer Kultur und Religion eingesetzt hat. Der schamanistische Glaube freilich hat überlebt.
Nie hat er so schmackhafte Milch getrunken wie in Sibirien. Die Kühe fressen nur Gras und keine Kraftnahrung. Das Gras wächst in den kurzen Sommermonaten intensiv; die Bauern müssen für neun Wintermonate Heu einbringen. Seine Gastgeber haben ihm die Milch gebracht, in einem kleinen Bauerndorf, wo alle Selbstversorger sind. Auch die Lehrerin führt zuerst ihre Kuh zur Tränke – ein in den gefrorenen Fluß geschlagenes Loch –, bevor sie zur Schule geht.
Wenn er aber die Milch in der Stadt im Laden kauft, so ist es eine undefinierbare, säuerliche Flüssigkeit. So kommt es, daß er im Land der schmackhaften Milch Importmilch aus Korea kauft. Und er fragt sich: Warum ist in diesem Land der hochwertigen Rohstoffe alles, was verarbeitet wird, von schlechter Qualität – und alles von guter Qualität importiert oder von Ausländern gemacht?
Er bekommt dann eine Antwort. Sie haben eine spezielle Ingenieurwissenschaft, die sich damit befaßt, für alles die denkbar schlechteste Lösung zu finden. Erste Lektion dieser Wissenschaft: Hast du zwei Räume und zwei Lichtschalter, so bringe die Schalter über Kreuz an, rechter Schalter für den linken Raum, linker Schalter für den rechten Raum. Zweite Lektion: Baue großzügige Freitreppen aus poliertem Marmor. Mit etwas Schnee werden sie zu Rutschfallen, so daß sechs Monate im Jahr nur ein schmaler, mit Teppich belegter Streifen ohne Lebensgefahr benutzt werden kann.
Zur wahren Perfektion aber haben es die Ingenieure in jenem Hörsaal der Uni gebracht: Die Wandtafel hängt so über dem Lichtschalter, daß jedesmal, wenn Druck auf die Tafel ausgeübt wird, das Licht ausgeht. Die Tafel so beschichtet, daß sie nur beschrieben werden kann, wenn sie feucht ist. Da es aber im ganzen Haus keinen Schwamm gibt, sondern nur schnell austrocknende Läppchen, muß man drücken, um etwas Feuchtigkeit auf die Tafel zu bringen, so daß wiederum der Lichtschalter . . .
Vor einer Weile konnte der Präsident ein neues Institutsgebäude eröffnen. Es wurde von ausländischen Firmen gebaut und entspricht westlichen Qualitätsmaßstäben. Dort zeigt sich der neue Reichtum, den der Kapitalismus gebracht hat. Doch das Gebäude steht leer. Kurz vor der Einweihung kam heraus: Niemand hat daran gedacht, Möbel zu bestellen . . .
"Wir gehen auf die Straße / Und rufen laut: Hurra! / Der siebente November / Der Feiertag ist da!" Die Zehnjährigen zeigen dem Gast, was sie im Deutschunterricht gelernt haben. Im Chor, auch wenn sie nicht verstehen, was sie da sagen. Die Lehrerin murmelt entschuldigend, es gebe eben noch keine neuen Lehrmittel. Die Sowjetunion ist noch allgegenwärtig. Nicht nur, weil es in jedem Dorf und in jeder Stadt eine Leninstraße gibt. "Früher war es besser", das hört der Gast immer wieder, oder: "Wir wollen nicht in Rußland leben, sondern in der Sowjetunion."
"Der Weltkrieg konnte dieses Reich nicht zerstören", sagt Wiktor, der Gastgeber in Batagaj und zitiert andächtig die Überschrift der Karte in seinem Wohnzimmer: Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik. "Die Perestrojka aber hat es geschafft." Die Löhne seien halb so hoch wie am Ende der Sowjetunion. Aber er hoffe, es werde wieder besser, die Republiken wollten wieder zurück zur Union. "Was sind sie ohne Rußland!"
In der Wohnung von Ljubow, seiner jakutischen Gastgeberin in Werchojansk, hängen zwei Stalin-Porträts. Obwohl sie weiß, was unter Stalin geschah: Sie zeigt dem Gast Fotos von Gulag-Kerkern, im Boden eingelassene Bretterverschläge mit knappem Oberlicht, darin sie selbst als Touristin. Für sie ist das genausowenig ein Widerspruch wie das Papstbild, das neben Stalin hängt.
Im Jugendclub von Batagaj zeigen die Jugendlichen dem Besucher ihr Museum. Eisenfesseln und Eisengitter aus den Zinn-Minen; die ersten Bergleute waren Gefangene des Gulag. Die Eisenfesseln erinnern ihn an Foltergeräte, wie er sie aus mittelalterlichen europäischen Burgen kennt. Aber Fesseln und Gitter wurden bis 1956 benutzt. Die jüngere Geschichte ist überall präsent: Olga, die Schuldirektorin, ist die Tochter eines unter Stalin Verbannten; Fajina, die Englischlehrerin, ist die Tochter eines Verbannten. Das Kulturhaus ist von Gulag-Gefangenen errichtet worden, die Straße besteht aus Knochen von Gefangenen.
Trotzdem trauern die Älteren der vergangenen Zeit nach. Die Jugendlichen dagegen wissen, daß sie fast alles, was ihnen wichtig ist, der Wende verdanken: Die Technomusik aus Europa, die Seifenopern aus Brasilien, die Konsumgüter aus den USA, die Reisefreiheit – auch wenn kaum jemand das Geld zum Reisen hat. Die Menschen, die hier geboren sind, bleiben trotzdem in ihrer Heimat. Fajina lebte eine Zeitlang in Moskau, sie kam zurück. Das ist ihr Land. Ein großartiges Land.
Marcel Hänggi