Iljas Hadzibegovic lehrt an der Universität Sarajevo Geschichte Bosniens der Neuzeit. Zu Beginn unseres Gesprächs sagt er, er wolle nicht über den Krieg sprechen. Um dann doch nichts anderes zu tun. Drei Jahre lang ging er täglich unter Lebensgefahr zur Arbeit. Immer unterrichtete er, auch wenn er nur einen einzigen Studenten hatte; das war sein persönlicher Widerstand. Durch das Fenster sehen wir auf einen Hügel, auf dem serbische Scharfschützen sassen. Einmal schossen sie in sein Büro. An dem Tag wechselte er den Arbeitsplatz. Bald gibt Hadzibegovic es auf, mit mir sein in Wien erworbenes Deutsch zu sprechen, und geht zu der Sprache über, die früher Serbokroatisch hiess und heute drei Namen hat. Der Krieg habe ihn krank gemacht, er könne sich nicht mehr konzentrieren. Eigentlich wäre er pensioniert, doch es gebe so viel Arbeit, und fast alle guten Leute seien weggegangen oder gestorben. 66 ProfessorInnen wurden im Krieg in Sarajevo getötet.
Staubsaugerplage
Der Mangel an guten LehrerInnen ist eines der Hauptprobleme des Hochschulwesens in Bosnien – nicht nur wegen besserer Löhne zieht der Nachwuchs weg. Er könne einem jungen Forscher einfach keine guten Arbeitsbedingungen bieten, sagt der Dekan der Sarajevoer naturwissenschaftlichen Fakultät, Sulejman Redzic. Wie Staubsauger kämen die Talentscouts der reichen Welt über das Land, sagt ein ausländischer Entwicklungsökonom, der in Sarajevo lebt. In einer Zeit, da in den reichen Ländern nach mehr internationalem Wettbewerb im Bildungsbereich gerufen wird, sind die Aussichten für arme Länder wenig rosig.
Und die wenigen Ressourcen, die es noch gibt, werden verschwendet. Bosnien hat sieben Universitäten. Vor dem Krieg gab es eine naturwissenschaftliche Fakultät, heute fünf. Jetzt könne man in Bihac Biologie studieren, obwohl es da nicht einmal Mikroskope gebe, sagt Redzic. Die geteilten Städte Mostar und Sarajevo haben je zwei Universitäten – ohne nennenswerte Zusammenarbeit.
Der Teufel steckt nicht im Detail. Er ist in den Grundfesten des Staates angelegt. Das Abkommen von Dayton hat die ethnische Teilung institutionalisiert. Da die «internationale Gemeinschaft» den Krieg immer nur als einen Konflikt zwischen den drei grössten Ethnien begriffen hat – und nie als einen Krieg aller NationalistInnen gegen eine multikulturelle Zivilgesellschaft –, ist heute jeder politische Posten dreifach besetzt: Von je einem Vertreter oder einer Vertreterin der bosniakischen, serbischen und kroatischen nationalistischen Parteien.
Wissenschaft und Bildung waren in Dayton kein Thema. Folglich macht jede Entität, was sie will. Es gibt kein Bildungsministerium auf Staatsebene. In der Föderation sind wiederum die zehn Kantone für Bildung und Wissenschaft zuständig. Der Kanton Sarajevo muss allein für rund siebzig Prozent des akademischen Potenzials Bosniens aufkommen. Reformen werden mit dem Totschlagargument abgeschmettert, sie würden die eine oder andere Ethnie benachteiligen. Niemand will seine Pfründe verlieren.
Ehrgeizige Ziele – zu wenig Öl
Immerhin: Einiges tut sich. Im Herbst 2003 wurde Bosnien in den Europarat aufgenommen. Es hat das Bologna-Abkommen (europäische Hochschulreform) ebenso unterzeichnet wie die Lissabonner Konvention (Vereinheitlichung der Abschlüsse). Daraus resultieren Verpflichtungen, sodass heute gesamtbosnische Bildungsgesetze in Vorbereitung sind. Das gesamtstaatliche Innenministerium hat gewisse Koordinationsaufgaben im Bildungsbereich übernommen. Mit der Unterstützung des Europarats sollen die veralteten Strukturen und Lehrpläne revidiert werden. Ein nationales Zentrum zur Zertifizierung der Diplome soll geschaffen werden. Und wenigstens finden nun regelmässig Treffen der Rektoren aller sieben Unis statt. Die Rektoren zeigten durchaus Willen zur Zusammenarbeit, sagt Dasha Kunzmann vom Sarajevoer Europarat-Büro. Das Problem sei, dass sie sich bei den PolitikerInnen nicht durchsetzen könnten, die ihren nationalistischen Parteien verpflichtet seien.
Die Programme des Europarats sind ehrgeizig. Die Sorgen des Alltags sind andere. Er höre im Winter täglich den Wetterbericht, sagt Dekan Redzic: Seine Fakultät habe nicht genug Geld für Heizöl. Die Bibliothek sei leer, und Abonnemente für wissenschaftliche Journale zu teuer. Der Vorsitzende der Studentenunion und angehende Bauingenieur Mirsad Fazlic sagt, die technische Ausrüstung seiner Fakultät gehöre ins Museum. Das Hauptproblem aber seien ProfessorInnen, die mental nicht mit der Entwicklung Schritt hielten. «Die Lehrpläne stammen aus der Zeit des Kommunismus», sagt Fazlic, «die Profs sind nicht bereit, umzudenken.» Eine Einschätzung, die von allen StudentInnen geteilt wird, die ich traf – vom Ingenieur, vom Sportstudenten, von der Ökonomin, der Historikerin. Auch die Praxisferne wird aus verschiedenen Fakultäten beklagt. Die Ökonomin erzählt, wie sie ihre ProfessorInnen mit Fragen aus der Praxis in Verlegenheit bringen könne – mit den Kenntnissen, die sie als Flüchtling während ihrer Schweizer Bürolehre erworben habe.
Der Einsatz moderner Informationstechnologien, mit denen sich die Isolation mildern liesse, ist kaum entwickelt. In Europa ist Bosnien das Land, in dem am wenigsten Menschen das Internet nutzen. Selbst Albanien, vor zwei Jahren noch Schlusslicht, hat Bosnien inzwischen überholt.
Dass Diplome gegen Geld vergeben werden; dass StudentInnen, die eine Prüfung nicht bestanden haben, trotzdem weiter studieren, weil ihr Papa ein wichtiger Politiker ist; dass Professuren wie Pfründe nach politischen statt nach wissenschaftlichen Kriterien vergeben werden: Das ist nur Ausdruck der allgegenwärtigen Korruption im Land.
Tauglich für Yale
Die naturwissenschaftliche Fakultät setzt angesichts des allgegenwärtigen Mangels auf Zusammenarbeit mit Hochschulen mehrerer westeuropäischer Staaten. So können die Lehrenden aus Sarajevo ihre Kenntnisse an modernen Geräten auf den neuesten Stand bringen. Dekan Redzics Assistentin kommt eben von einem Aufenthalt an der Hochschule Wädenswil zurück, mit der eine institutionelle Zusammenarbeit sowie ein gemeinsames Forschungsprojekt im Bereich des Umwelt-Engineering gepflegt wird. Aber mit dem Budget, das seine Fakultät zur Verfügung habe, lasse sich auf die Dauer keine Naturwissenschaft betreiben, sagt Redzic.
Was die Angehörigen der naturwissenschaftlichen Fakultät Sarajevo bei ihren Auslandsaufenthalten aber vor allem kennen lernen könnten, sagt eine ausländische Projektpartnerin, die nicht namentlich genannt sein will, sei eine moderne Forschungsmentalität. Nicht die Geldprobleme seien das grösste Problem, sondern die verkrusteten Strukturen: Die Projektpartner in den reichen Ländern stellten durchaus Geld zur Verfügung, um ihre bosnischen KollegInnen zu unterstützen. Dieses Geld aber werde kaum eingefordert, weil die starren Hierarchien auf bosnischer Seite die notwendigen Entscheide lähmten: «In dieser Fakultät bewegt sich gar nichts, ohne dass Professor Redzic persönlich Ja sagt.»
Was ist unter solchen Bedingungen ein bosnisches Hochschuldiplom wert – wenn es denn echt ist (bosnische Diplome gelten als sehr fälschungsunsicher)? Dubravko Lovrenovic, Dozent der Geschichte, war für einen Forschungsaufenthalt an der US-amerikanischen Spitzenuniversität Yale. Gewiss erreiche die Ausbildung in Sarajevo nicht westliches Niveau, sagt Lovrenovic. Doch nach seiner Rückkehr aus den USA habe er zehn StudentInnen geprüft. Vier von ihnen könnte er guten Gewissens für ein Studium in Yale empfehlen. Und diejenigen, die es tatsächlich an eine ausländische Universität geschafft hätten, seien dort durchaus erfolgreich.
Nur kann sich fast niemand ein Studium in Amerika leisten. Stattdessen warte auf seine AbsolventInnen die Arbeitslosigkeit, sagt Lovrenovic. «Die Situation der Wissenschaft in Bosnien und der Herzegowina kann sich nur ändern, wenn das politische System sich ändert.»
«Wer will, kann»
Mitten auf dem Gelände, das eigentlich Universitätscampus sein sollte, heute aber zur Hälfte für die ausländischen Schutztruppen als Kaserne dient, steht ein kleines, rotes Haus. Hier befinden sich das Büro, das Studentencafé, die öffentlichen Computerarbeitsplätze und der Seminarraum der bosnischen Sektion des Weltuniversitätsdienstes (SUS) sowie das Hauptquartier der Studentenunion. Und hier, mitten in der ganzen Tristesse, finde ich eine geballte Ladung Optimismus.Der regierungsunabhängige SUS will die Hochschulbildung im Land verbessern, und dazu tut er Dinge, die eigentlich Aufgabe der Universitätsleitung wären: Er berät, bietet Fortbildungskurse für Studierende und Dozierende an, stellt moderne Arbeitsgeräte und interaktive Lehrmittel auf CD-ROM zur Verfügung. Die beste Broschüre über die Uni hat nicht diese selbst, sondern der SUS herausgegeben; in mühsamer Kleinarbeit wurden die verschiedenen Internetseiten aller Fakultäten zusammengestellt und verlinkt.
Selbst der Abwanderung von Fachkräften hat der SUS seinen Kampf angesagt: Er lädt bosnische DozentInnen, die an ausländischen Hochschulen arbeiten, für einige Wochen in ihr Heimatland ein. So soll verhindert werden, dass die Kontakte abreissen. Es bestehe bereits eine Warteliste interessierter DozentInnen, sagt SUS-Koordinatorin Lejla Kapetanovic.
Wer an seiner Fakultät keinen Internetzugang hat, findet ihn hier; wer sich keinen Auslandsaufenthalt leisten kann (fast niemand kann das), kann sich hier über Stipendien erkundigen. «Wer wirklich will, findet auch eine Möglichkeit», sagt Lejla Kapetanovic. Dass der SUS an allen Universitäten im Land präsent ist und sich nicht von der ethnischen Teilung des Landes aufhalten lässt, ist für sie selbstverständlich.
Das Geld für seine Aktivitäten akquiriert der SUS bei DonatorInnen im In- und Ausland. Er zeigt damit, dass sich mit viel Eigeninitiative und Kreativität auch EinwohnerInnen eines der ärmsten und politisch zerrüttetsten Länder Europas eine Hochschulbildung organisieren können, die den akademischen Anschluss an die reiche Welt ermöglicht.
Marcel Hänggi