Wenn mir deshalb gelegentlich wenig zukunftsfroh zumute war, stellte ich fest, dass geistliche Musik mich aufheiterte. Etwa Kantaten von Johann Sebastian Bach, mit Texten wie: «Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab, / Da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.» Dabei bin ich ein areligiöser Mensch.
Anselm leitet das Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik an der Universität Zürich. Zudem lehrt er Theologische Ethik an der Universität Göttingen; er wurde in Bayern als evangelischer Pfarrer ordiniert und hat drei Töchter.
Ich lernte ihn kennen, als ich einen Wissenschaftler suchte, der sich mit Religion und Klimawandel befasst. Religion und Klimawandel? Bisher war der Klimawandel vor allem ein Thema der Naturwissenschaften. Aber Klimawandel und andere Knappheitsphänomene – «Peak Oil», die Nahrungsmittelkrise – sind eminent soziale und kulturelle Themen. Doch die Kulturwissenschaften, klagt der eingangs erwähnte Harald Welzer, verharrten angesichts des Klimawandels «in Schweigen oder Gleichmut».
Das gilt auch für die Theologie. Zwar gibt es eine christliche Umweltethik, aber ein Forschungsprojekt «Klimawandel und Religion» existiert noch nicht. Soeben, erzählt Anselm, habe er erfahren, dass die bayerische evangelische Landeskirche zum zweiten Mal versucht habe, eine Stelle zur «theologischen Reflexion des Klimawandels» zu besetzen – vergeblich. Auch Anselm forscht nicht explizit zu diesem Thema – noch nicht, sagt er, doch würde ihn ein solches Forschungsprogramm sehr interessieren. Er ist sofort zu einem Gespräch bereit.
Sehen Sie Parallelen zwischen der «apokalyptischen Stimmung» zu Bachs Zeit, wie Sie es nennen, und heute?
In der Barockzeit gibt es diese Grundstimmung des «Alles ist eitel». Hungersnöte waren immer nah, was ja übrigens auch mit dem Klima zu tun hatte – nur war es damals, in der so genannten kleinen Eiszeit, zu kalt und nicht zu warm. Heute haben wir eine ähnliche Stimmung, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, inwieweit der Klimawandel diese Stimmung auslöst und inwieweit er einfach gut in sie hinein passt. Es ist dieses Gefühl: So geht es nicht weiter. Religionen haben in solchen Zeiten ein großes Potenzial. Aber Religionen trösten nicht nur: Sie können apokalyptische Gefühle auch auslösen.
Das Lebensgefühl, von dem Bachs Kantaten singen, ist das der Mühsal. Das kennen wir in der reichen Welt nicht mehr, weil die Nutzung der fossilen Energien Wohlstand für viele schuf. Wenn nun das fossile Zeitalter zu Ende gehen sollte: Kehrt die Mühsal zurück? Und wie werden die Religionen darauf antworten?
Ich zweifle stark daran, dass die Religionsgemeinschaften aus ihrer Tradition heraus solche Antworten geben können. Es könnte schon sein, dass sich das Trostpotenzial der Religionen wieder herumspricht. Aber ich glaube nicht, dass etwa die christlichen Kirchen in der Lage sind, uns Strategien an die Hand zu geben, die zu anderen Verhaltensweisen führen würden – zumindest nicht schnell genug. Denn wir leben in dem Bewusstsein, dass sich für alle Probleme dieser Welt eine technische Lösung finden lässt, wenn man nur will. Dieses Bewusstsein ist, glaube ich, schon auf dem Rückzug; das führt zu der apokalyptischen Stimmung, von der ich sprach. Aber andererseits erlebt der Machbarkeitsglaube gerade mit dem Klimawandel auch eine Blüte, wenn man versucht, CO2 im Boden zu versenken, die Ozeane zu düngen und so weiter.
Religionen können trösten, aber Antworten auf Situationen des Niedergangs haben sie keine parat?
Das ist so. Soweit ich sehe, kennen alle Religionen in irgend einer Weise ein starkes Heilsversprechen. Es gibt überweltliche Heilsszenarien, die das Heil im Jenseits erwarten, und innerweltliche, die es hier auf Erden versprechen. Die jüdisch-christliche Tradition hat einen starken innerweltlich-heilsgeschichtlichen Zug. Das heißt, man erwartet, dass die Welt sich zum Besseren entwickelt. Auch wenn die Erfahrung oft dagegen sprach – solch negative Erfahrungen sind, etwas verkürzt gesagt, immer wieder in den Gedanken des innerweltlichen Fortschritts integriert worden. Die Formel dazu, wie sie etwa die Propheten verbreiteten, lautete: «Ändert euch, dann wird es besser.»
Das geht heute nicht mehr.
Wenn wir die heutige Situation nehmen, den Klimawandel und die Ressourcenkrise, dann deutet alles auf Abbau hin. Es droht eine Wende zum Schlechteren, und zwar nicht nur insofern, dass der einzelne seinen Lebensstandard nicht wird halten können, sondern es wird sich womöglich herausstellen, dass die Erde einfach nicht mehr als vielleicht drei Milliarden Menschen verträgt – das hieße, die Hälfte der Weltbevölkerung müsste «abgebaut» werden. Eine solche Entwicklung heilsgeschichtlich umzudeuten, nun, das wäre eine sehr sportliche Herausforderung…
Sowas gab es schon einmal. Im 14. Jahrhundert hat Europa die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Hungersnöte, Kriege und vor allem die Pest brachten Tod und Verderben. Es war eine Zeit religiöser Fanatismen. In Basel wurden die Juden verbrannt und ihr Friedhof geschändet. Wie reagierte die offizielle Kirche?
Die Kirche reagierte mit dem Versuch der Mäßigung, aber auch – und da trifft sie sich mit den Fanatismen – mit Schuldzuschreibungen. Dominierend war aber wohl der Versuch, diese Entwicklung als Schicksalsschlag zu deuten, als Handeln Gottes, das sich nicht verstehen lässt. Diese Vorstellung eines dunklen, strafenden Gottes ist uns – mit guten Gründen – verloren gegangen. Und weil im neuzeitlichen Christentum der Glaube an einen Gott vorherrscht, der durch alle Krisen zum Besten führt, ist es nicht einfach, im Namen des Christentums von Abbau zu sprechen.
Eine alte biblische Geschichte handelt von ökologischen Krisen und davon, wie dafür Vorkehrungen zu treffen seien: Die sieben fetten und die sieben mageren Jahre.
Daraus lässt sich für heute nichts ableiten, denn das war zyklisch gedacht – ein Abwechseln von guten und schlechten Zeiten. Aber unser Problem mit den nicht erneuerbaren Ressourcen ist nicht zyklisch. Das ist meines Erachtens eine Herausforderung an die Gestaltung von Religionen, die wir noch gar nicht begriffen haben.
Das innerweltliche Heilsversprechen ist ein Glaube an den Fortschritt. Aber einen «Fortschritt», der vom Einzelnen auch als solcher wahrnehmbar ist, gibt es erst seit der Industrialisierung. Die Industrialisierung war auch die Zeit der Säkularisierung. Ist diese Gleichzeitigkeit ein Zufall – oder brauchte man die religiösen Heilsversprechen einfach nicht mehr, als die Welt im Diesseits immer mehr Wohlstand bot?
Das war kein Zufall. Es war bei den ersten großen Gesellschafts- und Religionskritikern im 19. Jahrhundert Programm, alles, was bisher als Schicksal gegolten hatte, in eigenes Handeln zu verwandeln – quasi selbst Gott zu spielen. Der frühe Marx schreibt, am Ende stehe der Mensch, der sein Dasein nur mehr sich selbst verdankt. Aber: Woher kam dieser Drang, sich mit dem Gegebenen nicht abzufinden, diese Idee, die Welt könnte besser sein?
Ist diese Idee nicht urmenschlich?
Nein, sie baut sich – jedenfalls im christlichen Abendland – erst relativ langsam auf. Frühere Kulturen hatten ein zyklisches Zeitverständnis: die Wiederkehr des Immergleichen. Erste Höhepunkte des Glaubens an eine Besserung gab es schon im Mittelalter, dann natürlich in der Reformation, wo dieser Glaube dann aber einen herben Rückschlag erleidet. Die Reformation als Projekt, die Religion auf eine festere Grundlage zu stellen und die ganze Christenheit zu reformieren, scheitert.
Wann?
Das war ein ganz kurzes Strohfeuer. Luthers Reformation scheitert mit dem Ausbruch der Bauernkriege 1525, also nach acht Jahren; die Zürcher Reformation mit Zwinglis Tod. Noch dazu konnten sich ja nicht einmal Lutheraner und Reformierte einigen, und schließlich mündete alles in die Religionskriege des 17. Jahrhunderts. Und trotzdem: Die Idee, dass sich die Welt verbessern lasse, blieb. Mit dem Zurücktreten der Religionskriege im frühen 18. Jahrhundert wird dann offensichtlich ein Potenzial frei: Jetzt kann man sagen, die Verbesserung ziele nicht in erster Linie auf den rechten Glauben und auf das Jenseits, sondern auf die diesseitigen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse.
Also treten die fortschrittsgläubigen Kritiker des Christentums ein christliches Erbe an?
Genau, und der Fortschrittsglaube wird schließlich selbst zu einer Art Religion. Das Heilsversprechen wird radikal verweltlicht, was zunächst in die politischen Katastrophen, die Diktaturen und Weltkriege des 20. Jahrhunderts mündet. Und die rein innerweltliche Sicht der Dinge, die natürlich selber stark religiös motiviert ist, wird nun vielleicht im 21. Jahrhundert in eine ökologische Katastrophe münden, oder doch zumindest in eine Situation, in der man einsehen muss, dass man den Lebensstil der industrialisierten Welt nicht beibehalten kann.
Wenn die Ressourcen nicht mehr ausreichen, um unseren Lebensstil aufrecht zu erhalten, dann kehrt die historische Normalität zurück: ein prekäres Leben mit knappen Ressourcen für die allermeisten Menschen. Werden die Errungenschaften der säkularen Gesellschaft das überleben?
Das ist natürlich schwer zu sagen. Ich glaube nicht, dass die säkulare Gesellschaft in ihrer heutigen Form überleben würde, aber ich glaube auch nicht, dass die alten religiösen Formen zurückkehren. Es wird andere Bewältigungsstrategien brauchen. Ich spitze etwas zu: Wir sind drei Irrwege gegangen. Das war erstens der Glaube des 19. Jahrhunderts, wir könnten alle Probleme und Konflikte durch technischen Fortschritt lösen; ein Glaube, der bis heute wirkt. Zweitens war es der Nationalismus, der im 19. Jahrhundert wurzelt und im 20. Jahrhundert zur Katastrophe führte: der Glaube, Probleme ließen sich durch expansive Gebietspolitik lösen. Und es war drittens der Irrweg, der nun im 21. Jahrhundert an Grenzen stoßen wird: die Probleme durch die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen lösen zu wollen. Wenn man das alles als Irrwege erkennt, könnte es schon sein, dass sich neue Formen der Spiritualität entwickeln – dass wieder eine Figur in den Vordergrund rücken wird, nach der der Fortschritt nicht in dieser Welt stattfindet.
Wie wird eine solche Spiritualität aussehen?
Das wage ich nicht vorherzusagen. Aber es könnte sein, dass man in einigen Jahren die Konjunktur des Buddhismus in den Gesellschaften des Westens so deuten wird – der Buddhismus bedeutet ja, zumindest in seiner westlichen Form, eine Parallelwelt aufzubauen und Fortschrittserwartungen zu mystisieren.
Die drei Irrwege, die Sie nennen, sind Ausweichstrategien, um sich der Frage nicht stellen zu müssen, wie die Reichtümer der Welt – die natürlichen Ressourcen – gerecht zu verteilen wären. Klimapolitik ist Verteilungspolitik: Wer hat welchen Anspruch auf die Nutzung der Atmosphäre? Könnten da Religionen etwas beitragen? Gerechtigkeit ist doch ihr Thema.
Ja und nein. In den Religionen geht es zunächst weniger um Gerechtigkeit als um die Gleichheit aller Menschen in Bezug auf eine höhere Macht. Diese Gleichheitsidee führt dazu, dass man auch allen Menschen bis zu einem gewissen Grad gleiche Rechte zugesteht. Das ist aber noch nicht das selbe wie Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist sehr viel anspruchsvoller. Es ist ja zum Beispiel nicht gerecht, wenn man einem Grönländer gleich viel Heizenergie zugesteht wie einem Bewohner der Sahara. Gerechtigkeit muss die schwierige Frage lösen, wie die Menschen in ihrer Ungleichheit gerecht zu behandeln sind.
Und das können die Religionen nicht?
Sie haben, würde ich sagen, ein Potenzial, den Gerechtigkeitsaspekt immer wieder zu betonen. Aber sie können nicht einfach von sich aus die fertige Antwort auf die Frage liefern, was Gerechtigkeit in einer Welt der Ungleichheit bedeutet. Die protestantische Lehre von der Gottesgerechtigkeit etwa versteht Gerechtigkeit als eine von Gott zugeteilte und nicht als eine von Menschen gemachte; sie widerfährt einem erst in einer anderen Welt. Religionen haben keine fertigen Antworten, aber sie können uns motivieren, darüber nachzudenken.
Angesichts der ökologischen Probleme wäre Mäßigung angesagt. Vermutlich bekennt sich die Mehrheit aller Menschen zu einer Religion, die Mäßigung und Verzicht als Tugenden sieht. Gleichzeitig arrangieren sich die Religionen aber gut mit dem Kapitalistismus, in dem das Streben nach immer mehr eine Tugend ist. Eine Doppelmoral?
Man kann das natürlich so nennen. Aber ich meine, das greift zu kurz. Gerade zum Christentum gehört ja das Verbesserungs- und Ausbreitungsdenken genauso wie die Tugend des Verzichts. Im Hinblick auf die Ressourcenfrage kommt zu dieser Tugend eben eine besondere Schwierigkeit hinzu: Wie ist ein Verzicht möglich ohne das Gefühl, worauf ich verzichte, das braucht einfach ein anderer auf.
Das ist das Allmendproblem: Wie nutzt man etwas, das allen gehört?
Genau. Thomas Hobbes wollte das im 17. Jahrhundert mit dem Leviathan lösen, einem Tyrannen, an den die Individuen ihre Freiheitsrechte abtreten. Ein ökologischer Leviathan könnte das Allmendproblem vielleicht lösen. Ich glaube nicht, dass Religionen so etwas leisten könnten – wenn sie es denn überhaupt wollten.
Es gibt im Christentum das Armutsideal: Eher komme ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Aber dieses Ideal wird delegiert an Mönche, Heilige, Märtyrer. Fällt uns verzichten so schwer, weil wir gelernt haben, das zu delegieren?
Ich glaube nicht. Was an Ihrer Vermutung aber richtig ist: Das Christentum kennt Strategien, die davon ausgehen, dass es genügt, wenn die richtigen Praktiken von einer kleinen Elite angewandt werden.
Das Urchristentum hatte den Anspruch, dass alle Christen, wenn sie erst einmal getauft sind, rein und sündenfrei leben.
Ja, aber das war eine sehr kurze Zeit, das dauerte nämlich nur so lange, bis die Christen realisierten, dass die Welt nicht schon übermorgen zu Ende ist. Da musste sich das Christentum auf diese Welt einstellen, da ging es nicht mehr, dass alle auf einer Säule sitzen …
Also trennte man zwischen der Elite der Mönche, die streng tugendhaft lebt, und dem großen Rest.
Und das geht nur so lange gut, als die Differenzen nicht allzu groß sind. Diese Eliten, die stellvertretend in den Klöstern ein Leben des Verzichts lebten, unterschieden sich ja nicht so sehr vom Volk. Diese Mönche führten kein schlechteres Leben als die Bauern, im Gegenteil, im Kloster war man vor Hungersnöten ziemlich sicher. Heute sind die Spannungen größer. Wenn wir beide eine ökologische Elite sein wollen und nur noch Velo fahren, alle anderen aber weiterhin mit dem Auto unterwegs sind, dann bringt das nichts. Ich will nicht sagen, dass das Christentum völlig untauglich sei, solche Spannungen zu lösen, aber es müsste dazu neue Strategien entwickeln.
Es gibt christliche Gemeinschaften, die solche Spannungen aushalten, die gewissermaßen das ökologisch richtige Leben im falschen leben – wenn auch ihre Motivation nicht eine ökologische ist. Ich denke an die Amischen in den USA. Ist eine solche Lebensform, die freiwillig auf einen materiellen Wohlstand verzichtet, nur mit rigider religiöser Kontrolle zu haben?
Eine solche Gesellschaft braucht in der Tat eine Leitidee, eine Zielvorstellung als Motivation, auch wenn es nicht unbedingt eine Religion sein muss. Eine Gesellschaft, die sich den Umweltschutz, also den Erhalt dieser Welt, zur Leitidee nähme und zum allerobersten Ziel allen menschlichen Handelns erklärte, wäre mit dem Christentum kaum kompatibel. Denn das hiesse ja letztlich, sich eine Gottesposition anzumaßen.
Das wird den Umweltschützern gelegentlich vorgeworfen: Sie wollten Gott spielen, wenn sie glaubten, die Welt vor Klimaveränderungen bewahren zu müssen. Auf der anderen Seite gab es immer wieder religiöse Führergestalten, die zum respektvollen Umgang mit der Natur aufriefen, wie Franz von Assisi.
Bei Franz von Assisi und seinen Nachfolgern war das ein Ausdruck der Demut vor Gottes Schöpfung, also gerade keine Anmaßung. Aber es gibt da einige schwierige theologische Fragen. Das, was wir als Natur erleben, ist ja alles bereits vom Menschen geformt. Selbst die Alpen, abgesehen vielleicht von Gletschern und Geröllhalden, sind eine Kulturlandschaft. Was wir erhalten wollen, ist also gar nicht so sehr Gottes Schöpfung als die von uns selber gestaltete Umwelt. Ist es Gottes Willen, dass diese erhalten bleibt? Oder dass sie sich wandelt? Man müsste einen sehr eigenartigen Gottesbegriff haben, wenn man sagte, all unser Wirken in der Umwelt habe gar nichts mit Gottes Willen zu tun, denn Gott schläft seit zweihundert Jahren.
Die Lebensweise der Amischen ist also nicht übertragbar?
Sie funktioniert nur, wenn es Figuren gibt, die mit einer vollen Autorität ausgestattet sind und klare Regeln vorgeben. Hier sehe ich das größte Problem, dass eine solche Führerfigur nicht zum Gleichheitsgedanken passt, von dem wir sprachen. Kurzum, wir müssen uns von Lehrbeständen und Traditionen des Christentums verabschieden, denn wir erleben eine Herausforderung, die sich nur meistern lässt, wenn wir auch bereit sind, die Religionen neu zu gestalten.
Wer kann Religionen gestalten? Brauchen wir Propheten?
Religionen verändern sich ohne charismatische Führerfiguren nur langsam. Aber solche Propheten werfen eben auch Fragen auf; nehmen Sie Osama Bin Laden …
… da wählen Sie nicht gerade eine Lichtgestalt.
Gewiss, und es geht in keiner Weise darum, seine Taten zu rechtfertigen. Aber in seinen Tiraden gegen den Westen ist ja ein Quentchen Wahrheit enthalten, das für viele Menschen hochgradig anschlussfähig ist: dass mit dem heutigen westlichen Lebensstil alle zugrunde gehen werden. Aber an Bin Laden sieht man auch, welch totalitäres Potenzial so jemand hat – und haben muss.
Sehen Sie keine Prophetenfiguren ohne dieses totalitäre und menschenverachtende Potenzial?
Es gibt schon solche Leute wie etwa Hans Küng mit seinem Projekt Weltethos. Es fragt sich aber, ob sich solche Leute ohne starke Machtstrukturen durchsetzen können. Die Antwort auf diese Frage scheint mir absolut offen. Wir sind in der liberalen Gesellschaft ja immer davon ausgegangen, dass die Menschen im Eigeninteresse handeln sollen; das Problem ist nur, dass man eigentlich nicht im Eigeninteresse nachhaltig handeln kann: Wer heute Energie spart, erwirbt sich dadurch keinen Vorteil für sich selbst. Aber es könnte schon sein, dass es ökologische Erweckungsprediger geben wird; die Umweltbewegung hatte ja einige charismatische Führerfiguren. Heute sind keine solchen Figuren in Sicht, aber – um noch einmal mit dem negativen Beispiel zu argumentieren –: Wer hätte denn vor zwanzig Jahren geglaubt, dass es jemanden wie bin Laden geben könnte!
Marcel Hänggi