Aber das ist Unsinn. SVP und Ecopop sabotieren eine dringend nötige Debatte. Gerade wer wachstumskritisch denkt, muss zu Ecopop Nein sagen.
Worauf müssen wir verzichten?
Von Marcel Hänggi
Die Wirtschaft muss wachsen! Über kaum ein Ziel ihrer Politik sind sich die Regierungen der Welt so einig wie über dieses. Dafür gibt es gute Gründe: Ohne Wirtschaftswachstum steigt die Arbeitslosigkeit, kollabieren die Sozialwerke, kann der Schuldendienst nicht mehr geleistet werden. Und: Ohne Wachstum kann man nicht den Armen versprechen, sie würden eines Tages genug bekommen, ohne gleichzeitig den Reichen etwas wegzunehmen. Wirtschaftswachstum ist ökonomische Notwendigkeit und politisches Sedativum.
Wir haben ein Dilemma: Die Wirtschaft muss wachsen, um unseren Lebensstandard zu sichern. Aber indem sie das tut, zerstört sie die Lebensgrundlagen. Darüber wird kaum diskutiert. Aber dass es da ein Problem gibt, spüren intuitiv viele. »Wer glaubt, unendliches Wachstum in einer endlichen Welt sei möglich«, sagte der Ökonom Kenneth Boulding, »ist entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschafter.« Die meisten Menschen sind keins von beidem.
Probleme, die gefühlt werden, ohne dass darüber diskutiert wird, lassen sich politisch ausschlachten. Je diffuser das Bewusstsein, umso leichter das Spiel. So steht denn plötzlich ein Wort wie »Dichtestress« zuoberst auf der politischen Agenda und überzeugt – Glarnerinnen und Innerrhödler! Da kann dann plötzlich eine Partei wie die SVP »Maß halten« predigen – und gewinnen.
Jenseits der Klischees
Wir brauchen eine Wachstumsdebatte. Präziser: Wir müssen darüber reden, wie wir uns langfristig ohne Wirtschaftswachstum organisieren können. Denn im Dilemma zwischen menschgemachten Systemen (wie der Wirtschaft), die Wachstum brauchen, und natürlichen Systemen, die es nicht vertragen, ist klar, auf welcher Seite Kompromisse möglich sind. Wirtschaft lässt sich anders organisieren, Natur nicht.
Es heißt, die Abschottungsinitiative der SVP habe die Wachstumsfrage gestellt, und die Ecopop-Initiative stelle sie noch einmal – radikaler, aber mit glaubwürdigerem Absender. Soll man SVP und Ecopop dankbar sein dafür?
Im Gegenteil. SVP und Ecopop sabotieren die zaghaften Anfänge einer dringenden Debatte. Seit dem 9. Februar debattiert die Schweiz ja nicht wirklich über Wachstum. Sondern streitet darüber, welche Ausländer noch kommen dürfen. Und welche noch kommen sollen, damit wir uns im Schneckenloch nur ja nicht einschränken müssen. Es werden nicht die mit dem kleinsten ökologischen Fußabdruck sein. Ecopop will das Schneckenloch weiter verengen – und gleichzeitig den Afrikanern Präservative verteilen, auf dass sie sich nicht mehr vermehren wie die Karnickel.
Und wenn doch über Wachstum gestritten wird, dann meist in der plumpen Form wie jüngst im »Tagesanzeiger«, der zwischen der (wachstumsgläubigen) »Ehrgeiz-Schweiz« und der (wachstumskritischen) »Ballenberg-Schweiz« unterschied. Eine progressive Kritik an der Wachstumsgesellschaft muss in einer solchen Wahrnehmung untergehen. SVP wie Ecopop tun alles, die Klischees zu bestätigen.
Aber gibt es das denn: progressive Wachstumskritik? Wie sieht sie aus, und wovon müsste eine echte Wachstumsdebatte handeln? Auf jeden Fall wäre sie heftig. Denn um Klartext zu reden: Das Problem ist dramatisch. Es geht ja nicht darum, dass wir ein bisschen weniger die Umwelt belasten. Soll ein katastrophaler Klimawandel abgewendet werden (von den anderen Umweltproblemen zu schweigen), müssen wir die Nutzung von Erdöl, Gas und Kohle mittelfristig reduzieren – nicht um zwanzig oder dreißig, sondern um achtzig, neunzig, hundert Prozent. Öl, Gas und Kohle aber sind die Treiber unserer Wachstumswirtschaft. Seit es nennenswertes Wirtschaftswachstum gibt, basiert es auf dem zunehmenden Verbrauch fossiler Energieträger.
Man kann das Problem kleinreden. Entkoppeln wir Wachstum von Ressourcenverbrauch! Wachstum ohne Mehrverbrauch hat es zwar noch nie gegeben, aber was nicht war, kann ja noch werden. Man muss halt die Technik effizienter machen! Tatsächlich ist das Potenzial von Effizienzsteigerungen angesichts vieler Ineffizienzen groß. Aber Energieeffizienz unterliegt physikalischen Gesetzen: Ihr sind Grenzen gesetzt. Immerwährendes exponentielles Wachstum gibt auch die größte Effizienzsteigerung nicht her.
Wachsen wir also qualitativ: besser statt mehr konsumieren! Schön und gut. Nur kann nicht alles immer besser werden. Wie könnte Kopfsalat (bei zweiprozentigem Wachstum) in fünfunddreißig Jahren doppelt, in siebzig Jahren viermal so gut sein? Anderes, etwa Pflegearbeit, würde besser, wenn Pflegende mehr Zeit hätten – aber das senkte die Arbeitsproduktivität und wäre das Gegenteil von Wachstum, wie es die Ökonomen meinen.
Wachstumsrücknahme und Freiheit
Man kommt nicht drum herum: Eine Politik, die den ökologischen Herausforderungen gerecht werden soll, muss das Weniger thematisieren. Was wir brauchen, ist nicht mehr Energieeffizienz, sind nicht mehr Solarpanels und Windräder, mehr »umweltfreundliche Autos«. Sondern weniger Verbrauch. Das bedingt eine Politik der so genannten Suffizienz.
Doch dem steht das Totschlagargument entgegen: Niemand will verzichten! Und Verzicht erzwingen, das geht in einer liberalen Gesellschaft schon gar nicht!
Außer dazu, Debatten zu ersticken, taugt das Argument nicht viel. Die Gleichsetzung von Suffizienz mit Verzicht und von Wachstum mit Wohlstand ist Unsinn: »Wirtschaftswachstum« meint ja eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das BIP misst, was gegen Geld umgesetzt wird, und ignoriert, was dabei verloren geht – wie wenn ein Unternehmer einen Rekordgewinn verkündete, ohne in seiner Buchhaltung auszuweisen, dass er das Familiensilber verkauft hat. Jede Veränderung, auch Wachstum, bringt Verzichte hie und Gewinne da.
Nehmen wir das Beispiel des Autos, dieses Emblems der Wachstumsgesellschaft. Es habe die Menschen mobiler gemacht, heißt es. Dabei wird übersehen, dass der Verkehr Mobilität ebenso sehr erzwingt wie ermöglicht. Schließt der Quartierladen, weil er mit den großen Supermärkten mit ihren Parkplätzen nicht mithalten kann, muss ich weiter weg einkaufen. Das bedeutet mehr Verkehr – aber mobiler werde ich dadurch nicht.
Zugleich steht das Auto für eine der größten Verzichtsleistungen moderner Gesellschaften. Man schaue sich alte Fotos an: Da sind Straßen Lebensraum, da wird gespielt, geschwatzt, Handel getrieben. Heute gehört ein Großteil des öffentlichen Raums dem Auto allein, und wer nicht selber in einem sitzt, verzichtet. Kinder wachsen mit motorischen Defiziten auf, Erwachsene leiden an den Folgen von Bewegungsmangel – von wegen »Wir sind mobiler geworden«!
Die Wachstumsgesellschaft kennt viele solche Zwänge, die suffizientes Verhalten erschweren. Eine intelligente Politik will Suffizienz weniger erzwingen denn ermöglichen, indem sie die Zwänge reduziert, die ihr entgegenstehen. Sie will nicht die Effizienz der Automotoren steigern, um mehr Verkehr aus weniger Erdöl herauszupressen, sondern sie erhöht die Effizienz des Systems, indem sie mehr Mobilität mit weniger Verkehr ermöglicht. Was auch bedeutet: Weniger Verzicht auf öffentlichen Raum! Das ist nicht illiberal. Auch liberale Politik muss Freiheiten einschränken, wenn die Freiheit des einen die des anderen vernichtet.
Die politische Urfrage
Eine Wachstumsdebatte müsste fragen: Worauf können wir verzichten, worauf wollen wir verzichten – und worauf gerade nicht? Sie stellte die politische Urfrage schlechthin: Wie wollen wir leben? Auch das ist zutiefst liberal: Der Liberalismus entstand ja aus dem Glauben, dass die Welt nicht sein muss, wie sie ist, sondern dass es Alternativen gibt (es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Politsekte, die sich heute als Bannerträgerin des Liberalismus versteht, den Spruch »Es gibt keine Alternative« geprägt hat).
Dabei kommt es aus ökologischer Sicht nicht darauf an, wie viele Menschen es gibt, sondern wie viel die Menschen verbrauchen – an Land, Energie, Material. Hier muss Umweltpolitik ansetzen: Sie limitiert den Flächenverbrauch (Raumplanungsgesetz), das Verkehrsvolumen (Alpeninitiative, Städteinitiativen), den Kohlenstoffverbrauch (CO2-Gesetz), den Energieverbrauch (2000-Watt-Beschlüsse). Mögen diese politischen Beschlüsse auch viel zu schwach sein (wie das CO2-Gesetz) oder nicht umgesetzt werden (wie die Alpeninitiative): Sie sind im Kern Suffizienzvorlagen. Sie vertragen sich nicht nur mit der liberalen Gesellschaft, sie sind auch mehrheitsfähig.
Wer sich seine Politik von »den Finanzmärkten« diktieren lässt, wer sich zum Sklaven des BIP-Wachstums macht, handelt nicht freiheitlich. Wer Verzicht als Folge solcher Sachzwänge unter dem Etikett »Austerität« verfügt und den Menschen das Gefühl gibt, man nehme ihnen etwas weg, ohne dass sie dazu etwas zu sagen hätten, schafft den Nährboden für Rechtsextremismen. Dazu brauchen wir eine Alternative, keine Frage. Aber sich abschotten und mit den Fremdenfeinden gemeinsame Sache machen, ist die schlechtest denkbare Alternative.