Bedürfnisgerecht bauenDer Ausstellungstitel ist natürlich programmatisch. «Das Schaffen von Wohnungen ist nicht den Architekten vorbehalten», steht auf dem Plakat am Eingang der Ausstellung: ein Zitat des 2002 verstorbenen Philosophen Ivan Illich. Illich stellte fest, dass ein Grossteil der Technik den Menschen aufgrund ihrer Funktionslogik gewisse Lebensweisen aufzwingt – statt ihnen zu dienen. Er forderte, was er «konvivale Werkzeuge» nannte: eine Technik, die sich nach den Bedürfnissen der Menschen in ihren Gesellschaften richtet.
«Ich glaube, dass die Architektur, die wir zeigen, Illichs Vorstellung von konvivalen Werkzeugen sehr gut entspricht», sagt der Kunsthistoriker Pierre Frey, Professor an der ETH Lausanne und Kurator der Ausstellung. Er betrachtet es als eine der wichtigsten Aufgaben der Architektur, Lösungen zu finden für die gegenwärtig 2,5 Milliarden Menschen, die – in einer Welt mit begrenzten Ressourcen – in unzureichenden Behausungen oder ganz ohne Obdach leben.
Die Ausstellung in Rossinière gliedert sich in zwei Teile und ist auf das ganze Dorf verteilt. An fünf Standorten zeigen Architekturmodelle und Pläne, ergänzt durch Fotos, 23 Beispiele vernakulärer Architektur aus Europa, Afrika und Asien. Sie stammen aus einer Sammlung der ETH Lausanne. Rund 700 solche Modelle haben ArchitekturstudentInnen im Verlauf von über dreissig Jahren angefertigt. Der sechste Standort ist das Grand Chalet: ein monumentales Holzhaus, das im 18. Jahrhundert ein reicher Käseproduzent errichten liess und das im 20. Jahrhundert dem Maler Balthus als Heim diente. Hier sind Werke von sieben zeitgenössischen Architekturbüros ausgestellt, die umsetzen, was die Ausstellung fordert: Lernen von alten Techniken.
Die Südafrikanerin Carin Smuts stellt beispielsweise ein Jugendkulturzentrum und eine Schule in Kapstadt vor und erzählt in einem Dokumentarfilm, wie sie die Projekte gemeinsam mit den BewohnerInnen der Townships entwickelt habe – mit dem Ziel, auch Leute von aussen zu kulturellen Veranstaltungen in die Townships zu locken. Da ist viel Farbe, viel Freude – aber auch Stacheldraht rund um den Pausenhof: Man kann sich nicht naiv über die prekäre Sicherheitslage und die Ängste der Eltern hinwegsetzen.
«Negerhütten» und «Trulli»Das Rural Studio in einer der ärmsten Gegenden der USA in Newbern, Alabama, ist ein Ausbildungsprojekt: ArchitekturstudentInnen entwerfen Häuser und bauen sie selbst. Die StudentInnen lernen so das Bauhandwerk kennen, und es ist gewährleistet, dass mit einfachen Mitteln gebaut wird – mit Materialien und Techniken, die auch von den BewohnerInnen beherrscht werden können. Ein paar tausend Kilometer weiter südlich entwickelt Simón Vélez aus Kolumbien für seine Landhäuser alte Baumaterialien weiter. So füllt er Bambusrohre mit Zement und erhält damit Stützen, belastbar wie Stahl – nur schöner, und: «Wenn ich Stahl kaufe, profitiert ein internationaler Konzern. Wenn ich Bambus kaufe, profitiert ein einheimischer Bauer.» Der Umgang mit Material, sagt Vélez, schaffe Bewusstsein für Konsum.
Materialbewusstsein vermittelt auch der zweite Teil der Ausstellung, der Teil mit den Modellen vernakulärer Architektur – nicht nur wegen der Vielfalt der Materialien, mit denen die vorgestellten Bauten errichtet wurden: Die Modelle befinden sich in alten Scheunen mit unebenen Böden aus Rundhölzern oder in einer prächtigen Räucherkammer, die nach Holz und Rauch riecht. Das Dorf Rossinière ist selber ein Beispiel für vernakuläre Architektur. Neubauten, die den Chaletstil nachäffen, sind hier, anders als in den benachbarten Touristenorten Château-d’Oex oder Gstaad, selten anzutreffen. Auf dem Spaziergang entdeckt der Blick überall Sehenswertes: Hier ein mit Holzschindeln verkleideter Kamin, da ein Fachwerk, das ohne Nägel und Schrauben auskommt. Auch ein Besuch der Kirche, die nicht zur Ausstellung gehört, lohnt sich.
Die Objekte sind so vielfältig wie die Anforderungen, denen sie gerecht werden müssen. So sind viele Häuser in Afrika rund – die «Negerhütten», die auf keiner kolonialen Afrika-Darstellung fehlen. Das hat einen simplen geometrischen Grund: Runde Formen weisen bei gleicher Grundfläche eine minimale Oberfläche auf, sodass der Wärmeaustausch mit der Umgebung minimiert ist.
In China hingegen sind die mehrstöckigen Wohnhäuser der Han in Fujian, die mehreren Hundert Menschen Platz bieten können, aus ganz anderen Gründen rund. Nach aussen nur mit winzigen Fenstern versehen, weisen sie mögliche Feinde ab. Nach innen öffnen sich die Wohnungen mit Balkonen einem grosszügigen Innenhof, in dem sich die gemeinsam genutzten Bauten befinden. Sie widerspiegeln so die egalitäre Gesellschaftsordnung: Alle Wohnungen haben denselben Grundriss, keine ist bevorzugt.
Die apulischen «Trulli» schliesslich haben ihre Form, damit man sie vor dem König verbergen kann: Ging das Gerücht, der Steuereintreiber befinde sich in der Gegend, wurden die kegelförmigen, aus Steinen, ohne Mörtel erbauten Speicher innert kurzer Zeit abgebaut.
Architektur ist mehr als Spektakel«Die vernakulären Architekturen», schreibt Ausstellungsmacher Pierre Frey, «erinnern uns daran, dass das Labor und die moderne Wissenschaft kein Monopol auf nützliches Wissen besitzen.» Aber kann man das traditionelle Wissen auf heutige Anforderungen übertragen? Die gezeigten Bauten sind in einem Umfeld lebendiger Tradition entstanden. Die 2,5 Milliarden Menschen, die sehr schlecht untergebracht sind, leben hingegen vor allem in Megalopolen, die alle Tradition auffressen.
Die Ausstellung ist nicht so didaktisch gestaltet, dass hier direkte Wege von einem indonesischen Langhaus oder chinesischen Höhlenbauten zu einem modernen Haus in den Bidonvilles gezeigt würden. Die BesucherInnen sollen selber nachdenken, sagt Frey, denn: «Es geht nicht um eine Übertragung eins zu eins. Ich möchte nicht in den chinesischen Höhlen wohnen müssen. Es geht natürlich um eine Verbindung heutiger Möglichkeiten mit altem Wissen. Dazu braucht es keine naive Haltung, sondern Fantasie. Und es ist beeindruckend, mit wie viel Fantasie die Bewohner von Slums ihre Umgebung gestalten.»
Das Alte und das Neue verbinden, das tönt nach einer Formel, der alle zustimmen können. Doch Frey spricht durchaus Klartext: «Die Mehrheit der Architekturschulen», heisst es auf einem Poster in der Ausstellung, «befindet sich in den Händen von Professoren, die sich auf die Suche nach spektakulären Formen konzentrieren, die weltweit für Aufsehen sorgen.» Wie reagieren seine KollegInnen an der Architekturschule der ETH Lausanne auf solche Aussagen? Sehr positiv, sagt Frey, das habe ihn selber ein wenig überrascht. Das habe vielleicht damit zu tun, dass sich von der Kritik niemand richtig angesprochen fühle: Die Stararchitekten würden sich selber in der Regel nicht als solche bezeichnen.
Auf keinen Fall will Frey seine Aussagen aber als architekturfeindlich verstanden wissen. Eine «Architektur ohne Architekten» zu fordern wie 1964 der Architekt und Architekturtheoretiker Bernard Rudofsky – in dessen Tradition sich Frey durchaus sieht – wäre heute «fast kriminell», denn es würde ignorieren, wie gross die Vielfalt der Architekturen heute sei. Es gebe zahlreiche Architekten und besonders viele Architektinnen, die sich heute von gewissen Abwegen der Architektur der Moderne verabschiedeten.
Pierre Frey schwebt vor, den programmatischen Titel der Ausstellung konkret umzusetzen – etwa in einer Architekturschule an der ETH Lausanne. Mögliche Geldgeber hätten sich in ersten Gesprächen interessiert gezeigt. Vielleicht eignet sich die ETH Lausanne dazu besonders: Hier teilt sich die Architektur mit den Umweltwissenschaften und der Bautechnik die «Fakultät der natürlichen, architektonischen und gebauten Umwelten». Die Website der Fakultät nennt es als ihre wichtigste Aufgabe, «mittels innovativer Lösungen Antworten zu finden auf die grösste Herausforderung unserer Zeit: einen Rahmen für ein nachhaltiges Leben zu schaffen.» «Innovativ» kann auch heissen, Vergessenes wiederzuentdecken.
Die Reise geht weiter: Vom kleinen Bahnhof Rossinière mit dem blauen Züglein das Saanetal abwärts. Eine Frau am Bahnhof betrachtet das Ausstellungsplakat. «Vernaculaire», sagt sie, «ein schönes Wort. Schade eigentlich, dass es aus dem Französischen fast verschwunden ist.