«Herr Kaiser, Sie sind einer der Wenigen, die ich um ihren Beruf beneide.»
«Ja», sagt Kaiser, «ich mache das leidenschaftlich.»
«Was macht den Geruch zum sinnlichsten der Sinne?»
«Das müsste man anthropologisch erklären, ich weiss zu wenig darüber. Sicher hat es mit Sex zu tun.»
In seinem Buch «Vom Duft der Orchideen» beschreibt Kaiser die hinterhältige Ophrys insectifera, die den Geruch weiblicher Hymenoptera (Wildbienen) so perfekt nachahmt, dass Hymenoptera-Männchen angelockt und zur Pseudokopulation mit der Blüte veranlasst werden. Das genau will die Parfumerie: Düfte nachahmen und Bouquets komponieren, mit denen Menschen, na, zumindest angelockt werden. Roman Kaiser liefert Ausgangsstoffe für die Parfümeure. Er sucht in der Natur Düfte und «Duftlandschaften» und analysiert diese mit dem Ziel, sie im Labor nachzubauen. 110 olfaktorische Inhaltsstoffe hat Kaiser im Duft der lebenden Rose nachgewiesen, mit 50 reproduziert er diesen. Die erste Duftlandschaft analysierte und rekonstruierte Kaiser 1982: finnische Sauna – Birkenlaub in feuchtheisser Umgebung. Auftraggeber war ein Duschmittel-Hersteller. Für Calvin Klein wurde der Duft 1993 mit Grapefruit, Bergamotte, Wacholder und Sandelholz zu «Escape for Men» kombiniert: «As individual and adventurous as the man who wears it.»
8000 Gerüche hat Kaiser in zwanzig Jahren Berufsleben beschrieben und mit Bild erfasst; die Rekonstruktionen von 250 dieser Gerüche lagern im Kühlschrank. Liest Kaiser eine seiner Beschreibungen und sieht das Bild dazu, hat er den Duft präsent. Zum Beispiel der gabonesische Fluss, dessen Foto im Labor steht. «Brackig und doch sehr frisch, sehr grün, mit Zitrus, Alge und Geosmin», lautet seine Kurzbeschreibung.
Und was fällt Ihnen zur Limmat ein? «Ein wunderbarer Geruch. Hauptsächlich (Z,Z)-4,7-Decadienal, ein Abbauprodukt von Linolensäure, die unter anderem von Algen produziert wird. Davon können wir ungeheuer schwache Konzentrationen, die elektronisch nicht mehr nachweisbar sind, noch wahrnehmen. 10 Pikogramm pro Liter Luft (das entspricht 10 Gramm pro Kubikkilometer) reichen aus.» Weil die Nase empfindlicher ist als die Elektronik, haben alle Gaschromatographen im Labor eine Vorrichtung zum Schnuppern.
Kaisers spektakulärste Expeditionen waren gewiss jene zu den Wäldern von Französisch Guayana und Gabun. Auf einer Plattform, die an einem steuerbaren Luftballon hing, liess er sich über die Baumwipfel tragen, legte Blüten Glasgefässe um und pumpte die Luft aus dem Gefäss durch einen Filter. Die interessanten Blüten oder Früchte fand er nicht nur mit der Nase: Aufgrund von Form und Farbe der Blüte kann Kaiser schliessen, welche Tierart die Pflanze anlocken will. Pflanzen, die Nachtfalter anziehen, müssen möglichst hell sein und haben also weisse Blüten. So riechen weisse Blüten in der Regel gemäss den Präferenzen der Nachtfalter, während aasfarbene eher stinken als riechen. Die Synästhesie wird hier objektivierbar.
Eine erste Geruchsanalyse findet vor Ort statt, mit der Nase: «Ich versuche, das Molekül zu identifizieren, das den Geruch dominiert. Dann subtrahiere ich dieses Molekül in Gedanken vom Gesamtgeruch und suche im Restgeruch wiederum das Leitmolekül.» Und so weiter.
Wohl gegen zwanzig Duftproben bekomme ich bei meinem Besuch in Roman Kaisers Labor zu riechen. Zum Beispiel Zistrose: Ein Tropfen, und ich bin am Mittelmeer. Gerüche sind die sinnlichsten Sinneseindrücke, weil sie Tore zum Unterbewussten öffnen, Erinnerungen wecken, Assoziationen auslösen. Und zu jeder Assoziation hat Kaiser die olfaktorische Illustration zur Hand.
Wieso roch die Luft Mitte November, an einem Föhntag nach dem ersten Frost, nach Frühling? Kaiser sucht das Fläschchen mit Geosmin hervor: Sich erwärmende Erde setzt Geosmin frei. Isoliert riecht der Stoff freilich weniger nach Frühling denn nach muffigem Keller.
Erinnerungen sind individuell. Kaisers Kindheitsgerüche sind Lindenblüte, Weihrauch («Ich wuchs in einem sehr katholischen Dorf auf»), Waldboden. Meine sind Sherpa-Tensing-Sonnencreme und Kuhfladen: Beides riecht nach Sommerferien. Wie kann man da eine überindividuelle Geruchssprache entwickeln?
«Auch wenn Sie bei Kuhfladen positive Assoziationen haben», sagt Kaiser, «möchten Sie wahrscheinlich kein Kuhfladen-Parfüm. Es gibt Gerüche, die allgemein als angenehm gelten – wie die Lindenblüte. Weihrauch hingegen weckt bei einigen positive, bei andern negative Erinnerungen.»
Zu seinem Beruf kam Kaiser nach dem Chemiestudium durch Zufall – heute träumt der Liebhaber Baudelaires und Bewunderer von Süskinds «Parfum» davon, den Geruch für die Welt der Kultur zu erschliessen. Geruchkino, ist er überzeugt, sei nur eine Frage der Zeit. Die Forschung arbeitet daran, das Internet duften zu machen: Ein computergesteuertes Gerät hätte etwa sechzig Riechstoffkartuschen, ähnlich den Tintenkartouchen eines Farbdruckers, aus denen Gerüche angenähert werden könnten. Dann liesse sich in der Online-Version dieses Artikels «Ophrys insectifera», «Schneeglöckchen» oder «Kuhfladen» anklicken. Vor dem Anklicken von «Erdbeeraroma» wäre gewarnt.
Bis es so weit ist, muss man sich mit Umschreibungen behelfen. Bestellt ein Kunde bei Givaudan ein neues Parfüm, gibt er an, welches soziale und kulturelle Segment mit dem Parfüm angesprochen werden soll. Um solche Angaben in Düfte übersetzen zu können, braucht Kaiser nebst einer feinen Nase ein Flair für Trends und Lifestyles («Wenn ich in New York bin, werde ich an so manche Orte mitgenommen»). «Sehr trendig» nennt er einen Geruch, den er in Gabun gefunden hat, gewonnen aus Aframomum longipetiolatum – in einem wissenschaftlichen Paper notiert er, das leuchtende Rot der Frucht habe «so sehr mit dem Waldboden harmoniert, dass wir zögerten, sie zu pflücken». Ihr Geruch sei «ohne Zweifel idealer Ausgangspunkt für eine neue Generation von Unisex-Parfümen».
Aframomum riecht zitronig, sehr frisch, leicht pinienartig – das wäre meine bescheidene Beschreibung. Die Sprache von uns Laien eignet sich kaum für die Geruchswelt. Kein Sinn wird so vernachlässigt wie der sinnlichste. Wir kleistern uns die Nasen mit Überdosen billiger Deodorants zu. Es gibt Menschen, die nicht wissen, wie ein blühendes Weizenfeld riecht. Ja, es soll Leute geben, die sind sogar während der Blütezeit der Linden («Der Geruchshöhepunkt des Jahres in unseren Breiten; Balsam für die Seele») schlecht gelaunt!
Herr Kaiser, fühlen Sie sich nicht wie ein Sehender unter lauter Blinden?
«Ich neige sicher nicht dazu, die Menschen zu unterschätzen. Doch manchmal ist es schon ein Erwachen, wenn ich wieder einmal realisiere, dass meine Welt nicht die Alltagswelt ist.» Der Duftprofi drückt sich vorsichtig aus. Würde unsereiner sagen «Es stinkt!», so sagt Kaiser: «Manchmal wünschte ich mir, die Leute gingen mit Düften bewusster um.» Etwa im Konzertsaal: Da träten oft «dissonante Geruchskombinationen» auf. «Ich versuche dann, die verschiedenen Gerüche zu analysieren. Wer professionell mit Gerüchen arbeitet, ist üblen Gerüchen gegenüber toleranter. Was man versteht, ist nicht mehr bedrohlich.»
Marcel Hänggi