Jean-Luc Gremaud, 36
«Wenn ich Kriegsfilme sehe, verlasse ich das Kino gewöhnlich vor dem Ende des Films. Ich mag das wirklich nicht. Aber die Faszination kann ich sehr gut nachvollziehen. Krieg ist eine Form der totalen Freiheit. Es ist der Sieg des Instinkts über den Intellekt.
Wenn ich im Kosovo eine Leiche untersuchte, war das keine Sache der Gefühle, sondern in erster Linie eine wissenschaftliche Aufgabe. Ich lebte in einer Welt der Wissenschaft und Technik, einer Welt ohne Emotionen. Es gab nur die Konzentration im Kampf gegen die Anarchie. Die Emotionen holen einen erst nach dem Abschluss der Arbeit ein – Stunden, Tage oder Wochen später. Das ist sehr individuell. Ich selber «destilliere» das Erlebnis: Ich lasse jeden Tag einen kleinen Teil der Gefühle auftauchen. Ich denke, das wird sechs Monate dauern; sechs Monate der Reflexion, bis alles verarbeitet ist. Das geht sehr langsam, da merkt mir niemand etwas an.
Nach der Mission muss ich mich wieder in meiner Welt des Alltags zurechtfinden. Wissenschaftlich ist es dieselbe Arbeit. Aber in der Schweiz gibt es meistens Umstände, die ein Tötungsdelikt erklären können. Im Krieg ist das Verstehen kaum möglich. Es ist schwierig zu verstehen, was einen Menschen in meinem Alter dazu bringt, eine Waffe zu nehmen, um fünf-, sechsjährige Kinder zu töten. Und: In der Schweiz wird ein Mensch aus einer Familie getötet, im Kosovo wurden ganze Familien getötet, und nur einer überlebte. Für diese Überlebenden muss das extrem schlimm sein. Deshalb glaube ich, die Erfahrung im Kosovo hat mich für die alltägliche Arbeit stärker gemacht: Ich weiss, dass ich hier nie etwas so Schrecklichem begegnen werde wie im Kosovo.
Die Teilnehmer unserer Mission reagierten unterschiedlich auf das Erlebte, aber eines war allen gemeinsam: Es wirkte wie eine Droge. Man dachte, nach der Mission wolle man nur noch abschalten und die Batterien aufladen – aber wir kehrten mit einem einzigen Wunsch zurück: möglichst schnell wieder aufzubrechen. Ich glaube, das ist eine Frage des Adrenalins; es ist dieses Dabeisein im Fokus des Weltgeschehens. Danach ist es schwierig, sich wieder zurechtzufinden in der Welt des Schweizers, dem sein Portemonnaie gestohlen wurde.»
Osman Osmani, 42
«Als politischer Flüchtling aus einer unterdrückten Gesellschaft wollte ich etwas tun, das die Sache meiner Leute vorwärts bringt. 1994 übersetzte ich in einer Psychotherapie für eine Kosovarin, die vergewaltigt und gefoltert worden war. Der Therapeut sagte mir, es wäre wichtig, wenn Leute aus derselben Kultur, mit derselben Sprache solche Therapien anbieten könnten. Er vermittelte mir eine Ausbildung in Traumaarbeit. So kam ich zu meiner Arbeit mit kriegstraumatisierten Flüchtlingen.
Nach Beginn der Massenvertreibungen im Frühjahr 1999 hatte ich den Kontakt zu meinen Eltern verloren. Ich sah am Fernsehen die Bilder vom Niemandsland in Blace, die Menschen im Schlamm, und dachte immer, meine Eltern sind nicht dabei, sie sind an einem sicheren Ort. Hätte ich gewusst, dass auch meine Eltern in Blace sind, wäre es sehr schwer gewesen. Ich erfuhr es erst später; auch dass sie von der mazedonischen Polizei schlecht behandelt worden waren. Als ich sie nach ihrer Flucht traf, war ihr Anblick unbeschreiblich. Trotz der Freude, sie lebendig wieder zu sehen, hatte ich das Bedürfnis, zu schreien, zu weinen. Aber das durfte ich ihnen nicht antun. Ich musste beruhigend wirken.
In der schwierigsten Zeit, wo ich keine Nachrichten von meinen Eltern hatte, arbeitete ich sehr viel. Die Arbeit gab mir Trost. Ich wollte die Menschen, die ich betreute, dazu bewegen, nach vorn zu schauen. Aus Gesprächen entstand unsere private Initiative, nach Mazedonien und später ins Kosova zu fahren, um Einheimische in der Traumaarbeit auszubilden. So konnten wir den Menschen zeigen, dass man etwas tun muss und nicht ohnmächtig bleiben darf.
Ich war das erste Mal seit meiner Flucht 1981 in Prishtina*. Es war für mich eine Enttäuschung. Nicht wegen der Zerstörungen. Ich suchte meine alten Treffpunkte auf, aber da war niemand mehr, den ich kannte. Ich verpasste sogar die Strasse, wo das Haus meiner Eltern stand. Meine älteren Kinder aber, die das erste Mal im Kosova waren, wollten gleich dort bleiben.
Ich weiss aus der Theorie, dass Gegensätze und Kämpfe, auch Krieg, die Menschen weiterbringen. Aber ein richtiger Krieg, in dem Unschuldige getötet werden, kann mich nicht faszinieren. Ich bewundere Menschen, die den Mut haben, sich gegen Unterdrückung aufzulehnen, für ihre Sache zu kämpfen, aber das ist keine Faszination. Für den Einzelnen hat das Erlebnis sicher etwas mit Freiheit zu tun. Die Menschen werden durch Erziehung und moralische Werte begrenzt. Im Krieg fallen diese Grenzen weg. Mit der Waffe in der Hand wird man zu einem «Gott», der über das Leben anderer verfügt.
Auch meine Kinder spielen manchmal Krieg. Selbst der Dreieinhalbjährige hat schon klare Vorstellungen, wer Freund und wer Feind ist. Aber ich glaube, sie haben verstanden, dass es in erster Linie um Menschen geht, nicht um ethnische Zugehörigkeiten. Ein Sohn sagte einmal: Ich bin ein Serbe. Das war in der Zeit unserer grössten Ohnmacht. Er hatte gesehen, wie seine Mutter oft vor dem Fernseher weinte. Seine Reaktion ist normal; niemand will ohnmächtig sein.»
Peter Möckli, 66
«Dass ich in die Legion ging, war eigentlich reiner Zufall. Ich hatte Krach mit dem Vater, bin von zu Hause abgehauen. In Frankreich sah ich an einem Gendarmerieposten ein Schild, das für die Legion warb. Da dachte ich, ich geh zu denen. Ich musste zuerst noch warten, weil ich noch nicht 18 war. Ob ich heute wieder in die Legion ginge – das kann man nicht sagen, nachher ist man immer gescheiter.
Das Militärische faszinierte mich schon. Disziplin, Ordnung, Kameradschaft – in der Legion war eine ungeheure Kameradschaft. Den Zweiten Weltkrieg hatte ich nie als Bedrohung erlebt. Wir wohnten nah an der Grenze, es hatte immer viel Militär, aber man sprach damals nicht über so was.
Nach der Ausbildung kam ich nach Indochina, wo ich als Minenwerfer kämpfte, bis ich Ende 53 auf eine Mine trat, die mir ein Bein zerriss. Wir hatten in Indochina vor allem auch schöne Zeiten, und das andere – das vergisst man halt. Gut, Leute, die in Dien Bien Phu waren, die haben natürlich schon einen mitgemacht. Und wir waren auch in Situationen, da dachte man, jetzt ist aber der Teufel los.
Wir haben in der Amicale auch schon darüber gesprochen, ob wir damals benutzt worden seien. Aber was will man? Krieg hat's immer gegeben. Damals dachte man gar nicht an solche Fragen. Es gab ja auch noch kein Fernsehen, das immer fragte, für wen macht man etwas, wofür, hat das überhaupt einen Wert? Es hiess einfach, ihr geht jetzt nach Indochina, ihr müsst den Vietminh bekämpfen.
Mit der lokalen Bevölkerung hatte man keinen Kontakt. Wenn man auf Patrouille war, sah man Leute, vielleicht einen Dorfältesten oder vielleicht mal Frauen, da hat man immer etwas aufpassen müssen. Da durfte man nicht… Also für das gab's extra Militärpuffs, nur schon wegen Syphilis und so.
Dass wir gezielt gegen die Zivilbevölkerung gekämpft hätten, Strafaktionen und solche Sachen – das gab's bei uns nicht. Aber es gab natürlich schon zivile Opfer. Wir haben ja jeweils nicht gesehen, was alles im Busch drin war. Es ist immer die Zivilbevölkerung, die am meisten leidet. Aber man studierte nicht daran herum. Gewissensbisse hatte ich eigentlich keine. Wir machten einfach unseren Job.
Wir haben wegen der Todesnähe nicht intensiver gelebt, nicht bewusst. Ja, man hat natürlich mehr gebechert. Das tut jede Armee. Auch die Schweizer Armee. Wie die rumbechern und manchmal rumlaufen mit offenem Hemd, das ist eine Katastrophe, das hätte es natürlich in der Legion nie gegeben. Wir waren im Ausgang immer korrekt angezogen.
Nach der Legion fand ich mich im Zivilleben gut zurecht. Ich fand bald eine Stelle und heiratete. Die Legion ist für mich erst in den letzten fünf Jahren wieder ein Thema, seit ich in der Amicale mitmache. Die Kriege habe ich natürlich schon verfolgt. Vietnam – da war ich ein bisschen schadenfreudig, weil die Amerikaner uns damals nicht geholfen hatten. Heute ist das sehr anders. Die Amerikaner haben immer noch ihr Vietnam-Trauma, die wollen keine Toten, sonst gibt's in Amerika ein Riesentheater. Über Osttimor weiss ich wenig, dort gibt's sicher auch Dschungel und so, aber im Kosovo hat's keinen Dschungel, da ist es natürlich einfacher, auch mit den technischen Mitteln. Heute haben sie ja kugelsichere Westen – wir gingen mit nacktem Oberkörper herum. Aber man denkt schon ein bisschen daran, wie es war.
Die Eltern haben mich nach meiner Rückkehr natürlich ausgefragt: Warum, weshalb und so weiter. Aber ich sagte, jetzt bin ich wieder da. Nein, ich nahm das immer eher cool.»
Daniel Schwartz, 44
«Als Fotograf bist du immer ein Eindringling. Die Frage ist, wie du mit dieser Situation umgehst. Auch ein Bild des Schreckens musst du gestalten. Zynisch ist, wenn daraus ein Formalismus wird. Ich versuche, eine Distanz der Würde einzuhalten und doch präzis zu sein.
Oft fotografiere ich Menschen in Rückenansicht. Damit will ich zeigen, dass jede Geschichte immer noch eine andere Seite hat, die ich als Aussenstehender nur beschränkt erfahren kann. Wenn ich zu einer Reportage aufbreche, muss ich mir immer bewusst sein, dass ich kein Recht darauf habe, mit den gewünschten Bildern nach Hause zu kommen.
Wer in einem Konflikt alles versteht, hat nichts verstanden. Es geht darum, seine Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren und innerhalb dieser Grenzen das Bestmögliche zu machen – handwerklich wie inhaltlich. Dazu muss ich das Bild des Schreckens in einen Kontext weiterer Bilder einbetten, der etwas aussagt über die Hintergründe des Konflikts. Eine blosse Aneinanderreihung guter Bilder interessiert mich nicht.
Krieg ist ein Skandal der Menschheit. Er fasziniert mich nur insofern, als er sichtbar macht, wozu Menschen fähig sind. Ich gehe nie allein wegen des Konflikts irgendwohin. 1992 arbeitete ich an einem Buch über Deltas. Das war mein Thema, da gehörte Burma dazu. Als ich da war, spitzte sich der Konflikt zwischen der Militärdiktatur und den ethnischen Minderheiten zu. 1998, in Afghanistan, ging es nicht einfach um eine weitere Kriegsreportage, sondern ich arbeitete in verschiedenen Ländern zum Thema Geld. Mich interessierte die Ökonomie des Überlebens in einem Land, wo seit 25 Jahren Krieg herrscht. In der Grenzsituation des Konflikts kommen die Motive verschärft und vehementer zum Ausdruck.
Es gibt schon Situationen, in denen ich denke: Eigentlich muss ich das nicht haben. Dann ist es gut, nicht unter dem Druck zu stehen, unbedingt Bilder liefern zu müssen wie die Nachrichtenagentur-Fotografen. Das sind harte Arbeiter, die mit grossen Frustrationen fertig werden müssen. Ich habe grossen Respekt vor ihnen.
Du kannst dich beim Fotografieren nicht verstecken. Ich arbeite mit Normal- und Weitwinkelobjektiven. Da muss ich mich den Menschen nähern, muss in eine Gruppe hineingehen, da spüre ich, ob sie mich aufnimmt, ob eine Spannung in der Luft liegt, ob ich unerwünscht bin. Ich sehe eine Situation und weiss: Die Elemente für ein Bild sind vorhanden. Ich konzentriere mich auf die Sache und versuche, das Bild zu «machen», bevor ich die Kamera vor dem Gesicht habe. Vielleicht muss ich die Aufmerksamkeit der Leute zerstreuen, mache zum Beispiel eine Notiz, aber ich habe das Bild im Kopf und die Kamera parat. Um mit den Gefahren und Ängsten umgehen zu können, musst du Respekt haben – vor der Situation, vor den Menschen. Vor allem musst du Respekt haben vor dem osttimoresischen Milizionär, der die Machete aus seinem Hemd zieht.»
Marcel Hänggi