«Anfangs Mai zeigten sich im Amt Nebikon und Langnau gastrische Fieber leichter und schwerer Art, sporadisch auftretend, namentlich bei älteren Kindern. Damals war es, als die ersten Fälle von Fieber bei erwachsenen Männern vorkamen, welche aus der Gefangenschaft in Luzern zurückkehrten, wo bekanntlich das Zusammenpressen von 20 bis 30 Gefangenen in kleine, nicht gehörig der äussern Luft zugängliche Zimmer Anlass geben musste zur Entwicklung der Krankheit. ... Heftigere Fälle, Febris gastrica oder Febris typhoides, kamen mit dem 25. Mai bei drei zurückgekehrten Freischärlern vor, die acht Wochen lang in der Jesuitenkirche Gefangene waren ...»
Dieser Aufsatz des Arztes Hermann Elmiger von Reiden LU, überschrieben mit «Bericht an die ärztliche Gesellschaft des Kantons Luzern über eine Typhusepidemie in den Gemeinden Langnau und Richenthal im Sommer 1845 nach dem Freischaarenzuge», stand am Anfang meines Interesses. Ich bin in einer Ausgabe der «Schweizerischen Zeitschrift für Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe» des Jahres 1847 zufällig darauf gestossen. Autor Elmiger nennt die Freischärler J. K., F. O. und K. P., welche das Fieber aus der Jesuitenkirche mitgebracht haben sollen. Der Bericht weckt die Neugier: Wie viel lässt sich nach anderthalb Jahrhunderten rekonstruieren über Menschen, die sehr arm waren und andere Sorgen hatten, als Spuren zu hinterlassen für die Nachwelt; Menschen, von denen ich vorerst nicht mehr weiss als ihre Initialen, ihr Alter und eine Krankengeschichte? Und wie viel über eine Epidemie, die rund zwei Dutzend Tote gefordert haben musste, die aber in kein amtliches Dokument der kantonalen Sanitäts- oder einer anderen Behörde Eingang gefunden hat?
Ein Abgleich mit den Totenbüchern von Langnau und Richenthal und den Freischarenakten des Kantons Luzern ergibt als Erstes: «J. K.» war Johann Kumschick vom Gugger bei Richenthal; 22 Jahre alt; Sohn des Johann und der Maria Anna, geborene Hofstetter; ledig; Bruder von sieben jüngeren Geschwistern; Landarbeiter und Weber, mittellos; verhaftet worden in Schwarzenburg am 1. April. «K. P.» war Kaspar Pfenniger aus Langnau; 28; ledig; mittellos. Ein «F. O.» findet sich nicht in den Prozessakten – «F. O.» muss wohl Leonz Oetterli gewesen sein aus der hintern Lupfe, Zuname «s'Kleinen»; 29; ledig; mittellos. Die Aussagen Kumschicks, Pfennigers und Oetterlis über ihre Gründe, am Zug teilzunehmen, vergrössern meine Neugierde weiter: Habe ich doch bisher angenommen, die dreitausend Teilnehmer am zweiten Freischarenzug – zu dem auch Gottfried Keller aufgebrochen war, wenngleich er viel weiter als bis ins übernächste Wirtshaus nicht kam – seien dreitausend Liberale gewesen, Fanatiker zwar, gewaltbereite Haudegen, doch überzeugt, für eine gute Sache zu kämpfen.
Undisziplinierter Haufen
Am Osterdienstag 1845, dem 30. März, kommt Knecht Stirnimann vom Löwen in Dagmersellen ins Wirtshaus in Langnau und teilt den Trinkenden mit, am nächsten Tag werde ein Zug von Reiden mit schwarzen Fahnen ins aargauische Zofingen ziehen, um dort mit den Freischaren zusammenzutreffen. (Schwarz ist, als luzernische Besonderheit, die Farbe der Liberalen, rot sind die Konservativen.) So beginnt am 31. März der zweite Freischarenzug mit dem Ziel, die «rote» Luzerner Regierung zu stürzen, die Jesuiten zu verjagen, die Gefangenen vom ersten Zug zu befreien und den politischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen.
Der erste Zug vom Dezember 1844 ist kläglich gescheitert. Jetzt will man besser vorbereitet sein. Der Berner Ulrich Ochsenbein – nachmaliger Bundesrat und Militärdepartementschef – führt die Operation an. Präsident des Kriegsrats ist der ehemalige liberale Regierungsrat Jakob Robert Steiger. Obwohl die gesamteidgenössische Tagsatzung bewaffnete Züge gegen Kantonsregierungen verurteilt hat, unternimmt der Aargau nur wenig, die Vorbereitungen zum Angriff auf seinen ungeliebten Nachbarn zu verhindern.
Avantgarden dringen am Abend des 30. März bis Dagmersellen und Altishofen im Luzerner Wiggertal vor. Am 31. März zieht ein Zug von dreitausend Bewaffneten gegen die Kantonshauptstadt. Ochsenbein rechnet damit, in der Stadt auf Unterstützung durch die mehrheitlich liberalen Bürger zu treffen. Doch nicht nur bleibt die Unterstützung aus: Die Freischärler sind undiszipliniert und unmotiviert, viele desertieren – wenn das kein zu grosses Wort ist: Sie kehren einfach wieder um. Ein verirrter Schuss um Mitternacht löst unter den vor den Stadtgrenzen lagernden Freischärlern Panik aus; noch vor dem Gegenangriff der Regierungstruppen ist die Sache entschieden.
Etwas über hundert Tote bleiben auf den Schlachtfeldern zurück, zweitausend Mann werden gefangen genommen. Das nach dem ersten Zug erlassene Freischarengesetz sähe für sie die Todesstrafe vor. Doch es ist der Regierung klar, dass sie nicht zweitausend Männer erschiessen lassen kann. Ausserdem braucht sie Geld. So lässt sie die ausserkantonalen Gefangenen – Ochsenbein unter ihnen – von ihren Kantonen freikaufen. Die Luzerner Bürger müssen in Gefangenschaft bleiben, bis ein Sondergericht sie verhört hat. Sie sollen täglich dreimal eine Suppe erhalten, die abwechselnd aus Hafermehl, geröstetem Mehl mit Erdäpfeln oder Reis gekocht wird. Jedem Gefangenen stehen pro Tag fünf Viertelpfund Brot zu; die wachhabende Mannschaft hat für frisches Trinkwasser zu sorgen. Wenn die Gefangenen spazieren geführt werden – zu ihrer Erholung oder zur Schaustellung –, erhalten sie von liberalen Bürgern heimlich Zigarren oder Esswaren zugesteckt. Weder dürfen die Gefangenen Briefe schreiben noch welche erhalten.
Das Sondergericht behandelt 706 Einzelfälle. Es spricht vier Todesstrafen aus; drei der Verurteilten werden begnadigt, der vierte, Steiger, wird befreit und flüchtet nach Zürich. Die meisten anderen werden zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, vom Kantonsrat aber kollektiv begnadigt; die Ausländer werden des Landes verwiesen. Die Forderung an die Verurteilten, solidarisch für den entstandenen Schaden zu haften, muss als unrealistisch aufgegeben werden.
Die Krankheit breitet sich aus
Aus keiner andern Region des Kantons stammten so viele Teilnehmer des zweiten Freischarenzugs wie aus dem Wiggertal. Das Wiggertal zieht sich als breites, flaches Band durch eine hügelige Landschaft nach Norden. In einem Seitental liegt die heutige Gemeinde Richenthal (Riidu im örtlichen Dialekt). Der Eingang ins Tal, die Lupfen, ist eng, in die steilen Sandsteinwände des Buechbergs sind Höhlen gegraben, die einst als Keller dienten. Ein Dorf bei der barocken Kirche Richenthal ist erst im 20. Jahrhundert entstanden, die Karte von 1867 zeigt die Gemeinde als eine lose Ansammlung von Höfen in den diversen Seitentälern: der Gugger, das Hasli, der Hueb, die Lupfen. Bis Ende 1844 bildete Richenthal zusammen mit dem landschaftlich ganz anderen Dorf Langnau bei Reiden im Talboden eine Gemeinde. Die neue Gemeindegrenze verläuft mitten durch die Lupfen. Langnau zugeschlagen wurden das Altenthal und die Gishalden (heute befinden sich die Gemeinden wieder in Fusion).
Nachdem die Freischärler aus der Jesuitenkirche entlassen und, krank, zurückgekehrt waren, besuchte Franz Erni ab dem Gishubel seinen Freund Johann Kumschick im Gugger mehrmals. Leonz Oetterli in der Lupfen besuchte «theils aus Langeweile, theils aus Dürftigkeit» die Häuser seiner Nachbarschaft. So nahmen die Ansteckungen ihren Lauf. Am 6. Juli bricht die Krankheit im Gishubel aus; sechs von acht Familienmitgliedern Erni und ein Verdingbub erkranken, drei sterben, darunter Franz. Sein Freund Kumschick , der ihn angesteckt hat, war im Freischarenzug sein Feind gewesen. Nach Ernis Tod tritt eine schwarze, stinkende Masse aus dessen Leichnam aus. «Wie leicht», schreibt Arzt Elmiger in seinem Bericht, «hätte diese Erscheinung als eine Strafe Gottes dem abergläubischen Theil des Volkes erscheinen müssen, wenn Erni statt unter den Kantonaltruppen unter den Freischaaren gestanden hätte!» In der Hintern Lupfe erkranken dreissig Personen und sterben acht; gleichzeitig herrscht das Fieber im Altenthal, wo alle vier Patienten genesen. Elmiger weist darauf hin, dass die BewohnerInnen des Altenthals einen gewissen Wohlstand geniessen: Er ist sich bewusst, dass der soziale Stand der Erkrankten den Krankheitsverlauf beeinflusst. Mitte September erreicht das Fieber die Mittlere Lupfe; im Oktober sterben im Hasli Johannes Zemp junior (7) und senior (45) innert zweier Tage.
War es Typhus ? War es eine Epidemie? Und war diese eine Folge der Freischarenzüge? Elmigers Folgerung ist politisch brisant: Denn die Angst, in den Notgefängnissen könnten Seuchen ausbrechen, war gross – und gross die Erleichterung, als Hermanns Namensvetter Josef Elmiger, Regierungsrat und Präsident der Sanitätskommission, nach Freilassung der Gefangenen bekannt gab, es sei zu keinen Seuchen gekommen.
Krankheitserreger waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht bekannt. Was damals Typhus oder typhoides Fieber – Elmiger verwendet beide Bezeichnungen – genannt wurde, umfasst ein weiteres Spektrum als die heutige Definition von Typhus. Die Krankheit war in den armen Regionen des Kantons endemisch. Wollen wir Hermann Elmiger in seiner Interpretation der Epidemie folgen? Der Dagmerseller Arzt ist eine schillernde Figur, und es gibt durchaus Gründe, an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln.
Arzt, Schütze, Heisssporn
Hermann Elmiger studiert ab 1837 in Zürich und Jena Medizin und wird 1842 im Kanton Luzern als Arzt patentiert. Am zweiten Freischarenzug nimmt er teil, am Aktivenschiessen der Schützengesellschaften des Wiggertals in Langnau Ende 1846 wird er eine Brandrede halten, die ihm eine Busse von achtzig Franken oder vierzig Tage Gefängnis wegen «Aufreizung und Aufruhrsprovokation» einträgt. Ausserdem wird er 1846 wegen Beamtenbeleidigung (gegen den Amtsarzt Kneubühler) verurteilt. Nach dem zweiten Freischarenzug zahlt er eine Loskaufsumme von tausend Franken. Es wird ihm eine Eingrenzung auferlegt, das heisst, er darf seine Wohngemeinde nicht verlassen und ist deswegen in seiner Behandlungstätigkeit eingeschränkt. Diese Strafe ergeht Ende Sommer 1845. Jost Erni, den Jüngsten vom Gishubel, darf Elmiger nach einem Rückfall nicht mehr zur Behandlung aufsuchen; Jost stirbt am 23. November. Einem Gesuch Elmigers, die Gemeindeeingrenzung aufzuheben, wird nicht stattgegeben, im Gegenteil: Weil das Gesuch nicht ordnungsgemäss abgestempelt war, wird der Gesuchssteller noch zusätzlich gebüsst.
Trotz aller Unbill bricht Elmiger seine Kontakte mit den Konservativen nicht ab. An der letzten Sitzung der Luzerner Ärztegesellschaft vor dem Sonderbundskrieg nimmt er 1847 teil – als vermutlich einzig verbleibender Liberaler.
In seinem Bericht an diese Gesellschaft gibt sich der radikale Heisssporn als wissenschaftlich konservativer Arzt zu erkennen. Die Schilderungen des Fiebers sind ganz in der Sprache der vorwissenschaftlich beobachtenden Medizin gehalten. Der Redaktor der Zeitschrift hat denn auch – nichts Unübliches in dieser Zeit – an drei Stellen Fragezeichen in den Text eingefügt.
Mehrere Ungenauigkeiten und ein Widerspruch im Bericht lassen an Elmigers Sorgfalt zweifeln, und nicht alle Todesfälle sind in den Sterbebüchern verzeichnet. Denkbar, dass Elmiger eher zu Dramatisierung neigte: Neben dem Ziel, seine Behandlungsmethode zu propagieren, verfolgte er mit der Publikation ein zweites, politisches Ziel: zu zeigen, dass die Epidemie eine Folge der prekären Haftbedingungen nach dem zweiten Freischarenzug gewesen war.
Warum erscheint die Epidemie in anderen Quellen nicht? In der Luzerner Ärztegesellschaft, an die der Bericht Elmigers gerichtet war, hält Präsident Johann Häller am 2. Juni 1847 «einen Überblick «Über die Pestilenzen und Epidemien, welche so weit die Geschichte reicht, den Kanton Luzern betroffen haben bis auf die heutige Zeit»». Elmiger wird nicht erwähnt. Auch in den Protokollen der kantonalen Sanitätskommission, an die eine Epidemie hätte gemeldet werden müssen, ist keine Rede davon – obwohl Elmiger in der fraglichen Zeit mit der Kommission in einer anderen Sache (Pockenimpfstoff) korrespondierte. Präsident der Kommission war Regierungsrat Josef Elmiger, derselbe, der nach Entlassung der letzten Freischärler mitgeteilt hatte, es seien keine Seuchen ausgebrochen. Hatte er eine Meldung seines Namensvetters Hermann unterschlagen, um seinen Irrtum nicht eingestehen zu müssen? Wahrscheinlicher scheint mir, dass Hermann es versäumt hat, die Epidemie zu melden.
Keine Liberalen
Zurück zu unseren Freischärlern und Patienten und der Frage nach ihrer Herkunft. «In Langnau keine Arbeit findend», gibt Leonz Oetterli dem Verhörrichter zu Protokoll, «suchte ich letzten März Verdienst beim Zimmermeister Klöti in Brittnau [im aargauischen Wiggertal], der mir Arbeit unter der Bedingung zusicherte, dass ich mit den Freischaaren ziehe.» Kaspar Pfenniger wollte für den Fabrikanten Staub in Brittnau arbeiten. Staub machte die Teilnahme am Freischarenzug zur Bedingung, ebenso potenzielle Arbeitgeber im ebenfalls aargauischen Zofingen. Pfenniger war bereits zum ersten Zug aufgebrochen – im Glauben (wie er behauptet), zur Unterstützung der Regierung zu ziehen; als er erfahren habe, dass das Gegenteil wahr sei, habe er kehrtgemacht. Johann Kumschick erhoffte von einem Fabrikanten namens Breitenstein Arbeit – die Bedingung war dieselbe.
Viele der Freischärler waren alles andere als Liberale, die bereit waren, für ihre Überzeugung zu den Waffen zu greifen. Was hätte ihnen als Heimarbeiter oder Landarbeiter so viel am Liberalismus liegen können? Drei Viertel aller Gefangenen versteuerten in ihren Gemeinden kein Vermögen. Über die Absichten des Zugs waren viele nur rudimentär informiert. Aus Richenthals Nachbargemeinden Altishofen und Pfaffnau stammten achtzehn respektive sechzehn der Gefangenen. In beiden Gemeinden hatte 1844 anlässlich eines Referendums über die Berufung der Jesuiten aber nur je einer gegen die Berufung gestimmt (wobei von Manipulationen ausgegangen werden muss). Gross war damals der soziale Druck, jesuitenfreundlich zu stimmen; mindestens so gross war jetzt der Druck auf gewisse Leute, gegen die Jesuiten ins Feld zu ziehen.
«Blinde Geschlechtslust»
Konzentrieren wir uns auf Johann Kumschick . Sein Kontakt mit den Strafbehörden war nicht der erste in der Familie: Johann senior hatte als Jugendlicher sechs Wochen im Zuchthaus gesessen – wegen Beihilfe zu Diebstahl einer Pfanne. Es war eine Zeit drückender Armut. Die Feindschaft zwischen den Kantonen Luzern und Aargau belastete die Wirtschaft gerade im Wiggertal zusätzlich. Luzerns Wirtschaft war noch vorindustriell. Wer sein karges Auskommen als Landarbeiter durch Heimarbeit aufbessern wollte, musste für ausserkantonale Fabrikanten arbeiten. Die Kantonsgrenzen waren Handelshemmnisse. Wollte Johann Kumschick senior Holz über die Grenze verkaufen, brauchte er dazu eine Exportbewilligung des Gemeinderats, wie er sie 1842 für sieben Bautannen aus seinem 5 Jucharten (1,8 Hektaren) umfassenden Waldbesitz erhalten hat.
Johann junior brauchte Geld, und dabei ging es nicht nur um das eigene Überleben. Was wäre das für ein Leben, wenn einer jahraus, jahrein nur ums eigene freudlose Auskommen kämpfen muss? Johann Kumschick will eine Familie gründen. Im Mai 1844 ersucht er beim Gemeinderat von Langnau um die Bewilligung, seine Liebe, Jungfrau Maria Josefa Lang aus Pfaffnau, heiraten zu dürfen.
Doch «nur blinde Geschlechtslust» vermutet der Gemeinderat hinter dem Begehren. Denn Jungfrau Lang ist nicht Jungfrau, sondern schwanger. Kumschick sei «zwar jung und der Arbeit kräftig», allein «gebreche ihm hierzu an Liebe und Lust, und namentlich an Professions-Geschicklichkeit, um Grosses und Bedeutendes sich erwerben zu können». Selbst wenn er Arbeit als Weber fände und wöchentlich vier Franken verdiente – «was sicher nie geschehen würde» –, würde das Geld nicht ausreichen, «daraus die Familien-Bedürfnisse, in Hauszins, Milch, Anken, Brod, Mehl, Kaffee, Gemüse & Kleidung» zu bestreiten. Johann Kumschick senior verfüge über kein Vermögen, «während 4 Knaben und 4 Mädchen Kumschick theils noch unerzogen sich vorfinden». Überdies stellt der Gemeinderat des Gesuchstellers «bisheriges wüstes, rohes, unchristliches u. schwelgerisches Benehmen» fest; seine Bosheit sei ohne Grenzen. Das Gesuch wird abgelehnt, ein Wiedererwägungsgesuch des Vaters – von diesem widerwillig gestellt, wäre ihm doch eine Schwiegertochter lieber, die über mehr Vermögen verfügte als 143 Franken 30 Rappen Bares – nützt nichts; das uneheliche Kind soll der Nachbargemeinde Pfaffnau zur Last fallen.
Die Versorgung der Armen war damals die hauptsächliche Aufgabe der Gemeinden. Bei der Aufteilung der Allmend war der Anteil, den man zur freien Benutzung den Armen überliess, wie fast überall zu knapp ausgefallen. Streit um die Armenkasse führte – nebst dem politischen Gegensatz zwischen mehrheitlich liberalen Langnauern und mehrheitlich konservativen Richenthalern – zur Abtrennung Richenthals und seiner Berghöfe von Langnau per 2. Januar 1845. Langnau hatte mehr Arme, und die Richenthaler warfen dem Langnauer Gemeinderat vor, diese geradezu zu «züchten», da er mit den Heiratsbewilligungen zu grosszügig sei. Im Falle Johann Kumschick war er es nicht.
«4 Knaben und 4 Mädchen Kumschick theils noch unerzogen» – und vier (bald fünf) weitere Kinder der Familie waren bereits tot: ein Knäblein, ungetauft bei der Geburt gestorben; zwei Knäblein, nach der Nottaufe, aber ohne Namen am Tag ihrer Geburt verschieden; Christian im Alter von drei Tagen und Zäzilia im Alter von zwei Monaten gestorben. Maria Anna, bereits achtfache Mutter, brachte in elf Jahren noch einmal sechs Geburten hinter sich, woraus nur Franz Xaver Alois das Erwachsenenalter erreichte. Bei der letzten Geburt war Mutter Kumschick sechsundvierzig und bereits mehrfach Grossmutter – der unehelichen Kinder Johanns und Martins. Martins Tochter (sie hiess Maria Anna wie die Grossmutter) überlebte ihren ersten Geburtstag um eine Woche.
Was Johanns Karriere als Heimweber betrifft, hat sich der Einsatz als Freischärler nicht gelohnt. Ob er seinen Auftraggeber Breitenstein, der ihn damals zur Teilnahme am Zug genötigt hatte, nach seiner Entlassung noch einmal getroffen hat, lässt sich nicht mehr eruieren. Die Berufsbezeichnung Weber taucht im Zusammenhang mit Johann Kumschick nur 1846 noch einmal auf. Danach sucht er sein Glück in verschiedenen Berufen: 1848 bis 1852 wird er als Exerziermeister in den Quellen im Staatsarchiv geführt, also als der Beamte, der, ernannt vom Kriegsrat, zu Friedenszeiten den Militärpflichtigen seiner Gemeinde vorsteht. Seine Freischarenvergangenheit ist ihm nun, unter der neuen Regierung, Empfehlungsschreiben statt Handicap. 1852 und 1853 erscheint er in den Quellen als Zimmermann, von da an wieder als Landarbeiter, wobei er sich 1858 Landarbeiter und Holzhändler, 1865 bloss Holzhändler nennt; im Totenregister ist er als Landwirt eingetragen.
Maria Josefa, Katharina, Maria
Nach der Abtrennung Richenthals von Langnau lehnt auch der konservativere und in Heiratssachen restriktivere Richenthaler Gemeinderat es ab, Johann und Maria Josefa die Heirat zu erlauben. Rekurse an den Regierungsrat fruchten nichts. Das Amt des Exerziermeisters gibt Kumschick nun aber erstmals ein bisschen Macht. Er ist der schwarzen Kantonsregierung unterstellt. Im August 1848 klagt er gegen den roten Gemeinderat: Dieser habe ihn in seiner Begründung des Heiratsabschlags gegenüber dem Regierungsrat verleumdet. Der Gemeinderat muss dem ungeliebten Bürger Satisfaktion gewähren. Als im November die basel-landschaftliche Justiz Kumschick verdächtigt, im Sommer als Landstreicher im Bezirk Sissach mehrere Diebstähle («Lebensmittel und geistige Getränke») verübt zu haben, und starke Indizien vorlegt, können – oder wollen – die luzernischen Untersuchungsbehörden ihm keine Schuld nachweisen.
Der Kleinkrieg zwischen Kumschick und der Gemeindebehörde geht weiter. Kumschick lebt unterdessen mit seiner Braut und deren Schwester zusammen und zeugt mit beiden mehrere Kinder, bis ihm der Gemeinderat 1850 nach langem Hin und Her endlich die Heiratsbewilligung erteilt – erteilen muss. Jetzt will Kumschick aber nicht mehr. Er stellt stattdessen das Gesuch, Jungfr. Katharina Schlüssel von Altishofen zu ehelichen, was ihm der Gemeinderat widerwillig am 5. September erlaubt. Als Kumschick zwei Tage darauf wieder vor der Behörde erscheint mit dem Ansinnen, es sei ihm die Heiratsbewilligung mit Jungfr. Schlüssel gegen eine mit seiner (bereits schwangeren) neunzehnjährigen Magd Maria Berbet von Roggliswil umzuwandeln, platzt den Gemeinderäten der Kragen. Sie lehnen ab. Der Regierungsrat aber gibt Kumschicks Rekurs statt, der Einspruch aus Richenthal wird am 3. März 1851 abgewiesen. Maria und Johann heiraten in Richenthal noch am selben Tag, bei Sonnenschein und eisiger Kälte.
Auch wenn Kumschicks Gründe spezielle waren: Dass es so lange dauerte von Johanns erstem Heiratsversuch bis zur Heirat mit Maria, ist bezeichnend. Die Hungersnot von 1846-1849 (auf die Luzern bei weitem nicht so gut vorbereitet war wie etwa Zürich oder Bern, als noch fast rein agrarischer Kanton aber umso stärker getroffen wurde), der Sonderbundskrieg von 1847, die Bundesstaatsgründung von 1848 mit dem Regierungswechsel im Kanton Luzern lagen dazwischen. In diesen Krisenjahren wurde wenig geheiratet, das Taufbuch von Richenthal verzeichnet kaum Einträge. Wurden im ganzen Kanton Luzern 1840 achthundert Ehen geschlossen, so waren es 1850 noch vierhundert. Die Zahl der Armengenössigen im Kanton stieg von 1828 bis 1850 auf das Zweieinhalbfache. Am 20. April 1851 stirbt der vor der Heirat geborene Sohn Leonz. Aus der Ehe gehen sechs weitere Kinder hervor, nur eines davon, Konrad, stirbt als Kleinkind. Der älteste legitime Sohn heisst, wie seit Generationen die Erstgeborenen der Familie, Johann, geboren an Heiligabend 1853. Vater Johann stirbt 1879 an Speiseröhrenkrebs. Seinen Söhnen hinterlässt er 41 Jucharten (15 Hektaren) Land und ein Haus in der Lupfe, wo heute ein Urenkel Johanns lebt; eine andere Urenkelin heisst Josi Meier und brachte es, als «Rosarote» (christlich-sozial), bis zur Ständeratspräsidentin. Hinter «J. K.», den Initialen aus der «Zeitschrift für Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe», hat sich ein Leben abgezeichnet – mit einem Detailreichtum, den ich zu Beginn der Recherchen niemals erwartet hätte.
Tod in der «Hoffnung»
Und Elmiger, der Arzt? Er verbrachte seine letzten 31 Jahre im Irrenhaus, fern von seiner Familie. Der Aargauer Sanitätsrat beschwerte sich 1850 ein erstes Mal bei der Luzerner Sanitätskommission über Elmigers «geistesverwirrtes Benehmen». Eine Kommission wird eingesetzt, die Elmiger zwangsweise in die Privatirrenanstalt Schinznach schickt, von wo er einige Wochen später zurückkehrt. Mit hoffnungsloser Prognose des Anstaltsarztes: er halte Elmigers Zustand «als den von Manie in einem durch Trunksucht und vorausgegangenes wirkliches Delirium tremens geistig und körperlich geschwächten Individuum». 1855 wird Elmiger wieder interniert, diesmal für den Rest seines Lebens.
Zu Recht? Das lässt sich nicht mehr sagen; nicht ganz abwegig wäre der Verdacht, einige Feinde des jähzornigen Elmiger aus den Zeiten des Bürgerkriegs hätten ihn loswerden wollen. Der von der Sanitätskommission mit Abklärungen beauftragte Amtsarzt Kneubühler nämlich – selber kein Freund Elmigers – hielt «Herrn Hermann Elmiger nicht für geisteskrank, sondern für ganz befähiget, zurechnungsfähige Handlungen zu vollziehen»; nur sei «eine Selbstüberschätzung seiner geistigen Bildung bei ihm bemerkbar». 1855 wird auf eine erneute Untersuchung verzichtet mit dem lakonischen Hinweis, Elmiger befinde sich bereits in der Anstalt. Er stirbt 1886 in der «Hoffnung» in Bern.
Marcel Hänggi
Ein ganzes Forschungsprojekt hat der renommierte französische Historiker Alain Corbin einem Analphabeten und seiner Lebensumwelt im 19. Jahrhundert gewidmet. Er hatte diesen Protagonisten zufällig ausgewählt, indem er im Archiv seines Heimatdepartements einen Band des Einwohnerregisters blindlings aus dem Regal zog und mit dem Finger hineinstach («Auf den Spuren eines Unbekannten», 1999). Was wie eine akademische Spielerei aussehen mag, reiht sich ein in eine lange Tradition der Geschichtsschreibung, die vor allem im Umfeld der Zeitschrift «Annales» seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden war. Diese Tradition will unter Verwendung von Methoden aus Ethnologie und Soziologie die Geschichte der «kleinen Leute», Alltags- oder Mentalitätsgeschichten entwerfen. Sie verabschiedet sich von der Idee, Geschichte bestehe nur aus «wichtigen» Ereignissen und werde von den «grossen» Figuren gemacht, und verfolgt damit einen emanzipatorischen Anspruch.
Die andere Perspektive ergibt andere Bilder: Wer etwa die Freischarenzüge gegen Luzern von 1844 und 1845 aus der Sicht ihrer Führer betrachtet, sieht liberal-revolutionäre Bewegungen auf dem Weg zur modernen Schweiz. Fragt man nach dem Fussvolk, wird diese Sicht relativiert.