Rund fünfzig Kilometer nordwestlich, unweit von Aleppo, befindet sich das Hauptquartier des Internationalen Zentrums für Landwirtschaftsforschung in Trockengebieten, Icarda (vgl. Kasten, Seite 33). Der sanfte Hügel mit den Büros, Laboratorien und Kühlräumen ist umgeben von Feldern mit fruchtbarer, roter Erde. Jetzt, am Ende des trockenen Sommers, ist nur wenig Grün zu sehen. Auf einem Feld wächst Mais, das Feld ist in Sektoren unterteilt, in denen die Pflanzen deutlich unterschiedlich hoch wachsen. Sie erhalten genau abgemessene Mengen Wasser. Die AgronomInnen des Icarda wollen hier das optimale Verhältnis von Bewässerungsaufwand und Maisertrag bestimmen. Ihre Erkenntnisse sollen nicht einfach in wissenschaftlichen Journalen publiziert werden, sondern direkt den LandwirtInnen zugute kommen. Das Chanassertal dient dem Icarda als Pilotgegend: Hier müssen sich die von den WissenschaftlerInnen ausgetüftelten Methoden in der Praxis bewähren. Denn der dreizehnte Tscherkesse hat Recht bekommen. Zwar ist der Eingang des Tals üppig grün, da ein weit verzweigtes System offener Kanäle, die von einem nahen Fluss gespeist werden, die Sommerkulturen bewässert. In die höher gelegenen Regionen des Tals aber reicht dieses System nicht. Jetzt, gegen Ende der Trockenzeit, ist die dominante Farbe hier das Gelb der Böden und der kuppelförmigen Lehmhütten. Genügten einst vier bis fünf Meter tiefe Brunnen, um Grundwasser zu schöpfen, so muss heute 25 bis 30 Meter tief gegraben werden. Der Dschabbul-See ist zusammengeschrumpft; auf dem trockenen Seegrund sammeln Menschen in Handarbeit Salz, um es zu verkaufen, und die Schafherden wirbeln enorme Staubwolken auf. Zweihundert Millimeter Niederschläge fallen pro Jahr - etwa ein Drittel dessen, was in den trockensten Regionen der Schweiz fällt. Antike Infrastruktur Schallala Saghira, am Rande des Tals in der Höhe gelegen, hat keine Brunnen. Dennoch fliesst ein Bächlein klaren Wassers in ein Bassin, aus dem Gärten mit Feigenbäumen und Gemüse bewässert werden. Das Dorf ist jung, das Bewässerungssystem alt. Vor hundert Jahren, erzählt eine ältere Frau inmitten einer Kinderschar, seien ihre Vorfahren aus Südsyrien in diese Gegend gewandert. Ihr Grossvater habe den Ort gewählt, weil ihm Gräser aufgefallen seien, die auf Wasser hinwiesen. Indem er den Gräsern gefolgt sei, habe er den Kanal entdeckt. «Römische Kanäle» heissen solche Wasserleitungen im Norden Syriens. Der Kanal von Schallala Saghira, schätzt das Icarda, ist 1500 Jahre alt, mindestens so alt wie die griechischen Inschriften an der Fassade des Gemeindegebäudes von Chanasser. Die Kanäle sammeln das wenige vorhandene Wasser in einer grösseren Region und konzentrieren es auf einer kleinen Fläche, und sie verhindern, dass die Niederschläge, wenn sie denn einmal auftreten, ungenutzt abfliessen oder verdunsten. Das gleiche Prinzip nutzt eine Olivenplantage im Chanassertal, ebenfalls am Hang gelegen, die das Icarda angelegt hat. Talseitig werden die Bäumchen von einem halbmondförmigen Erdwall umgeben. Statt dass das Wasser nach einem Regenfall auf den harten Böden einfach abfliesst, wird es hier zurückbehalten und kann langsam in den Boden versickern - dort, wo der Baum seine Wurzeln hat. Erfunden hat diese Art der Wassergewinnung nicht das Icarda: Hier werden derartige Techniken lediglich gesammelt, wissenschaftlich getestet, optimiert, geänderten Umständen angepasst. Wozu aber müssen derart simple Methoden wissenschaftlich erforscht und gefördert werden? Weshalb müssen Menschen mit einer Erfahrung im Umgang mit Landwirtschaft in Trockenzonen, die viele Generationen alt ist, in solchen Techniken unterrichtet werden? Darauf gibt es mehrere Antworten. Einerseits wurde Wasserknappheit in vielen Gebieten erst in jüngerer Zeit ein Problem - weil sich das lokale Klima veränderte oder weil der Druck auf die Wasservorräte stieg. Weltweit leben heute eine Milliarde Menschen in Trockenzonen - 1970 waren es noch halb so viele. Siebzig Prozent dieser Menschen haben weniger als zwei US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Zweitens haben neue Möglichkeiten traditionelle Techniken verdrängt. Die «grüne Revolution», die in den sechziger Jahren die Landwirtschaftserträge vor allem in Asien hat explodieren lassen, beruhte auf leistungsfähigeren Sorten, intensiver Düngung und Bewässerung. Grundwasser mit Pumpen aus dem Boden zu holen, ist weniger aufwendig als das Anlegen von Terrassen oder Dämmen. Nur nachhaltig ist es nicht: In der Gegend um Aleppo sinkt der Grundwasserspiegel um 1,5 bis 2 Meter pro Jahr. Alte Ideen in neuen Schläuchen Schliesslich können Techniken, die sich über Jahrhunderte bewährt haben, mit neuen Geräten und Materialien optimiert werden. Theib Oweis, der Icarda-Spezialist für Wassermanagement, hat eine grosse Zahl traditioneller Methoden zur Wassergewinnung dokumentiert. Viele sind arbeitsintensiv, die Arbeiten wurden in traditionellen Kulturen oft von Kindern ausgeführt - Schulbesuch lag da nicht drin. Mit neuen Techniken und dem Einsatz von Maschinen lassen sich heute Arbeiten, die früher Tage dauerten, in Stunden erledigen. Als Beispiel nennt Oweis die Tropfbewässerung: Das Prinzip sei schon in der Antike in der Negev-Wüste angewandt worden, indem man neben den Wurzeln der Bäume Tontöpfe eingegraben und mit Wasser gefüllt habe - das Wasser sickerte langsam durch den Ton hindurch. Dank Gummischläuchen lässt sich dasselbe heute viel einfacher erreichen. Aber nicht nur neue Materialien führen zu Innovationen, sondern auch die Kombination unterschiedlicher alter Techniken. In einem leicht geneigten Gelände halten Rillen, die genau horizontal verlaufen, das Wasser zurück. Um diese Rillen besser anlegen zu können, übertrug Oweis eine ebenfalls jahrhundertealte Idee von der Bau- in die Landwirtschaft: kommunizierende Röhren. Werden zwei Röhren durch einen Schlauch verbunden und mit Wasser gefüllt, so ist der Wasserstand in beiden Röhren derselbe. Ausgerüstet mit solchen Röhren, erzählt Oweis, hätten ein pakistanischer Bauer und sein Sohn, von ihm instruiert, in einem Arbeitstag fünf Kilometer Konturrillen anlegen können. | Icarda Das Internationale Zentrum für Landwirtschaftsforschung in Trockengebieten (Icarda, gegründet 1977) ist eines von weltweit fünfzehn Forschungszentren, die sich der Landwirtschaftsforschung im Dienste der Entwicklung widmen und unter dem Dach der Beratungsgruppe für internationale Landwirtschaftsforschung (CGIAR, gegründet 1971) mit Sitz bei der Weltbank in Washington, D.C. zusammengefasst sind. Mandatsgebiet der Icarda sind Zentral- und Westasien, Nordafrika und Teile Mittel- und Südamerikas. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Schutz und die effiziente Nutzung von Wasserressourcen, Boden-Fruchtbarkeitsforschung, die Optimierung von Fruchtfolgen, integrierte Schädlingsbekämpfung sowie soziale, politische und ökonomische Faktoren der Landwirtschaft. Ein besonderes Augenmerk gilt Nutzpflanzen, die ihren Ursprung im «fruchtbaren Halbmond» haben, der sich von der Levante über die Südosttürkei ins Zweistromland zieht: Gerste, Weizen, Linsen, Fawabohnen und Kichererbsen. Schliesslich befasst sich das Icarda mit dem Wiederaufbau der Landwirtschaft in Irak und Afghanistan. Finanziert wird das Icarda von internationalen Organisationen (Weltbank, Uno-Unterorganisationen) und staatlichen Entwicklungsagenturen. Die Schweiz rangiert unter den Geldgeberinnen auf Platz zwölf. Biodiversität statt Gentechnik Seit wenigen Jahren hat Syrien ein Biotech-Gesetz. Es verbietet grundsätzlich den Anbau von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) und setzt fest, unter welchen Bedingungen Freisetzungsversuche bewilligt werden können. Das Icarda hat die syrische Regierung bei der Ausarbeitung des Gesetzes beraten - was im Klartext wohl heisst, dass dieses am Icarda geschrieben worden ist. Tatsächlich wachsen in den Hochsicherheitslabors bei Aleppo einige Pflanzen mit artfremden Genen. Zu Freisetzungsversuchen ist es aber bis heute nicht gekommen. Michael Baum, Molekularbiologe am Icarda, zweifelt auch, ob es jemals so weit kommen wird. In dieser Gegend, die die ursprüngliche Heimat vieler Nutzpflanzen darstelle und damit eine besonders grosse Variantenvielfalt besitze, müsse man sich besonders gut überlegen, ob man diese Vielfalt durch die Freisetzung transgener Pflanzen gefährden wolle. Ausserdem sei GVO-Forschung für ein Institut wie das Icarda viel zu teuer. Immerhin, sagt Baum, hätten die Agrofirmen ihr Verhalten in den letzten zwei, drei Jahren aufgrund des öffentlichen Drucks geändert; vereinzelt stellten sie heute Gene, auf die sie ein Patent hielten, den CGIAR-Zentren, zu denen das Icarda gehört, kostenlos zur Verfügung, und Syngenta sitze seit kurzem im CGIAR-Beirat. Abgesehen von Kosten und Risiko ist aber auch fraglich, ob GVO einen geeigneten Ansatz darstellen, um für Trockenzonen besser geeignete Nutzpflanzen zu züchten. Amor Yahyaoui, Pflanzenpathologe und Gerstenspezialist, sagt, es sei wenig sinnvoll, nach artenfremden Genen Ausschau zu halten, solange die arteigenen genetischen Ressourcen noch so wenig bekannt seien. Das Icarda setzt deshalb einen Schwerpunkt auf die Erforschung der biologischen Vielfalt der Nutzpflanzen. In der hauseigenen Genbank lagern 132 000 Proben vor allem von Gerste-, Weizen-, Fawa-, Linsen- und Kichererbsenvarietäten. Expeditionen in entlegene Weltgegenden suchen nach noch unbekannten oder vergessenen Sorten dieser Nutzpflanzen - bevor diese im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft ganz von Hochleistungsrassen verdrängt werden. Unter der Bedingung, dass die Resultate nicht patentiert werden, stellt das Icarda seine Proben Forschenden weltweit zur Verfügung. |
Ein weiterer Schwerpunkt Oweis' ist die ergänzende Bewässerung. Statt eine Kultur permanent zu bewässern, reicht oft eine gezielte Bewässerung während einer kurzen Zeit, um Pflanzen vor Trockenheitsstress zu schützen. Auf dem Icarda-Gelände erzielte Oweis bei Niederschlägen von 234 Millimetern pro Jahr einen Weizenertrag von 0,75 Tonnen pro Hektare. Gab er dem Weizen zusätzlich 183 Millimeter Wasser, erntete er 3,8 Tonnen - das Fünffache. Mit einer permanenten Bewässerung wäre der Ertrag zwar noch höher gelegen - aber nur minim. Und weil in diesen Gegenden nicht der Ertrag pro Hektar die relevante Grösse ist, sondern der Ertrag pro verwendeter Wassermenge, ist die permanente Bewässerung eben weniger effizient.
Der Fortschrittsoptimismus, der viele offizielle Publikationen des Icarda prägt, die von der Weltbank bekannte Wir-werden-die-Armut-besiegen-Rhetorik, relativiert sich freilich in der Praxis. Adriana Bruggeman, Landwirtschaftshydrologin, berichtet von Frustrationen im Alltag. «In Chanasser klagten vor zwei Jahren alle über die Trockenheit. Jetzt hatten wir zwei gute Jahre - und die Leute pumpen, als wäre das Grundwasser unerschöpflich. Wir Wissenschaftler können den Leuten sagen, was für ihr Land gut wäre. Aber sie leben schon sehr viel länger da, die lassen sich nicht so viel sagen. Letztlich finden sie einfach: Die Regierung muss uns mehr Wasser bringen.»
Weshalb die Bauern im Norden Syriens gewisse Methoden der Wassergewinnung anwenden, andere nicht, versucht Sven Defrijn, Student an der Universität Leuven (Belgien), herauszufinden. In einem Gebiet, in dem der Grundwasserspiegel zurückgeht, legen die Bauern keine Erdwälle an, die das Regenwasser zurückhalten und den Bedarf nach Bewässerung minimieren, mithin den Grundwasserspiegel schonen würden. Auf die Frage, weshalb, erhielt Defrjin eine unternehmerische Antwort: Der Aufwand zum Anlegen der Erdwälle übersteigt den dadurch erreichten Mehrertrag. Das ist zwar kurzfristig gedacht. Aber weil die Bauern kaum Aussichten hätten, an Kredite zu gelangen, dächten sie eben in kurzen Zeiträumen. «Fragt man die Bauern nach der Zukunft», sagt Defrjin, «heisst ihre Antwort: «Inschallah».»
Verschwendung ist Prestige
Nachhaltige Bewirtschaftung von Land sei oft mit erhöhtem Aufwand verbunden, der beim einzelnen Bauern anfalle, ergänzt Theib Oweis. Der Nutzen hingegen komme einer ganzen Gegend oder künftigen Generationen zugute. Wieso sollte einer kein Grundwasser pumpen, wenn es sein Nachbar doch tut? Hier seien politische Massnahmen nötig, die LandwirtInnen für Leistungen entschädigen, welche der Allgemeinheit zugute kommen. Wichtig sind auch Besitzverhältnisse: Der Anreiz, einem Land Sorge zu tragen, das einem gehört, ist höher, als wenn man dieses Land nur zur Pacht hat. Mikrokredite und eine Stärkung der gesellschaftlichen Strukturen schliesslich ermöglichen den Einsatz kapitalintensiverer Methoden.
Damit die Erkenntnisse des Icarda tatsächlich zum Einsatz kommen, ist es wichtig, dass die VertreterInnen des Icarda respektive der jeweiligen nationalen Programme bei den LandwirtInnen auf Akzeptanz stossen. Bei der Wahl von Kassem al-Ahmed als Lokalvertreter des Icarda in Chanasser konnten die LandwirtInnen deshalb mitentscheiden. Man versucht heute auch, die lokalen LandwirtInnen besser in die Forschung einzubeziehen: Während die ForscherInnen früher jeweils ein Feld pachteten, ihre Experimente ausführten und wieder abzogen, stellt man den LandwirtInnen heute beispielsweise hundert Kilogramm Samen einer zu testenden Sorte zur Verfügung, die sie nach der Ernte zurück- beziehungsweise an andere LandwirtInnen weitergeben müssen.
Doch auch al-Ahmeds Überzeugungskraft stösst an Grenzen. Der Besitzer des Hauses, in dem das Icarda-Lokalbüro eingemietet ist, pumpt das Wasser zur ständigen Bewässerung seiner Kulturen aus dem Boden. Al-Ahmed versuchte ihn zu überzeugen, zur viel effizienteren ergänzenden Bewässerung überzugehen. Dieser wehrte ab: Er besitze drei Brunnen. Und wenn diese versiegten, so habe er immer noch genug Geld, um Wasser von anderen Brunnenbesitzern einzukaufen. Bewässerte Kulturen bedeuten eben auch Prestige.
Marcel Hänggi