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Pionierleistung, rückwärts
Von Marcel Hänggi
Sie haben vor gut einem halben Jahrhundert mit einigem Stolz ein Atomkraftwerk in Betrieb genommen. Wohl gab es ein paar Widrigkeiten – Widerstand gegen die Atomtechnik kam auf und schrammte manchmal nur knapp an der politischen Mehrheit vorbei, für die anfallenden Abfälle gibt es bis heute keine Lösung und Ihrem Image tat das AKW auch nicht immer so gut. Doch das Werk lieferte Ihnen brav Strom und gutes Geld. Doch schliesslich ist es an der Zeit, das Ding abzuschalten.
Wie wird man ein AKW los?
Wir fragen die Bernischen Kraftwerke (BKW) AG, das erste schweizerische Unternehmen, das sich in der geschilderten Situation befindet. Am 20. Dezember 2019 stellt sie ihr Kernkraftwerk Mühleberg ab. Und soviel vorweg: Wenn Sie hier die investigative Geschichte über einen AKW-Betreiber erwarten, der sich seiner Aufgabe billig zu entledigen versucht, werden wir Sie enttäuschen. Selbst kritische Beobachter attestieren der BKW, die Aufgabe mit grosser Seriosität anzugehen.
Das ist keine Geschichte eines Unternehmens, das Mist baut. Es ist eine darüber, wie man gebauten Mist rückbaut.
Cooler Job: «Pionierleistung»
«Die Geschichte der BKW ist geprägt von technischen Pionierleistungen. Mit dem ersten Rückbau eines Kernkraftwerks in der Schweiz werden wir dieser Geschichte ein weiteres Kapitel hinzufügen.»1
Stefan Klute ist Gesamtprojektleiter Stilllegung bei der BKW. Gerechnet ab Betriebsbeginn, ist das Kraftwerk, das er zum Verschwinden bringen soll, gleich alt wie er – Jahrgang 1972 –, gerechnet ab Baubeginn fünf Jahre älter. Schon seine Diplomarbeit als Maschineningenieur mit Spezialgebiet Reaktorsicherheit an der RWTH Aachen schrieb Klute zum Thema Rückbau – und gehörte damit, Ende der 1990er Jahre, zu einer «Randgruppe in der Branche», wie er sagt. Dann arbeitete er bei einem internationalen Nuklear-Dienstleister ebenfalls zum AKW-Rückbau. 2014 – ein Jahr, nachdem die BKW beschlossen hatte, Mühleberg abzuschalten – trat Klute seine jetzige Stelle an.
Die BKW versteckt nicht, was sie vorhat. Während die Websites mancher deutscher Atomkraftwerke, die sich im Rückbau befinden, kaum informativ sind und mehrere angefragte Werke, die die Republik besuchen wollte, ablehnten, erklärt die BKW den Rückbau auf einer professionell gestalteten Website. Baut man sich da ein neues Geschäftsfeld auf? Die BKW sagt nur: «Wir wollen jetzt unsere Aufgaben erledigen und Mühleberg gut rückbauen. Was dann kommt, sehen wir.»
«Pionierleistung», Herr Klute? Liegt der Stolz des Ingenieurs nicht darin, etwas aufzubauen – während Sie abbauen müssen?
«Der Rückbau von Mühleberg ist das grösste Projekt der BKW seit dem Bau des Kraftwerks. Und ich kam nicht wegen der schönen Aare nach Bern. Ich habe den coolsten Job in der Nuklearbranche in der Schweiz. Wir legen jetzt Gleise, auf denen die anderen Betreiber, wenn sie ihre Werke abschalten, dann auch fahren. Das ist Pionierarbeit, ungeheuer abwechslungsreich, und es begeistert mich jeden Tag.»
So könnten Floskeln tönen. Aber Klute ist einer, den zu interviewen Spass macht, weil man seinen Augen ansieht, dass er liebt, wovon er spricht.
Viel Papier: Vorbereitungen
«Bis Ende 2017 haben wir bereits 40 Mio. Schweizer Franken für die Stilllegung und 9 Mio. Schweizer Franken für Change Management bezahlt.»
2013 fiel der Stillegungsentscheid, die Vorbereitungen begannen. Idealerweise hätten sie 1967 begonnen: Man baute ein Werk, von dem man wusste, dass man es eines Tages würde rückbauen müssen. Hat man den Rückbau beim Design der Anlage schon mitbedacht?
Nein, sagt Klute und lacht, hat man nicht. Es war eine andere Zeit. Radioaktive Abfälle versenkte man im im Nordatlantik (die Schweiz tat dies bis 1982). Eine atomkraftkritische Bewegung entstand erst während der Bauzeit.
Denkt man den Rückbau beim Bau heutiger Kraftwerke mit? Ja, sagt Horst-Michael Prasser, Professor für Kernenergiesysteme an der ETH. Sein Kollege Sascha Gentes am Karlsruher Institut für Technologie relativiert: «Kernkraftwerke werden für den Betrieb, nicht für den Rückbau ausgelegt. Die Sicherheit hat oberste Priorität – da können Sie keine Sollbruchstellen einbauen. Aber man plant heute mehr Platz ein, den man beim Rückbau braucht.»
Doch der Bau ist dokumentiert. Man weiss, welche Materialien wo verbaut sind. Sein sollten: «Wir gehen davon aus», sagt Klute, «dass wir vorfinden, was in den Plänen steht. Aber das wissen wir erst, wenn wir mit dem Rückbau beginnen. In 46 Betriebsjahren wurde auch nicht Vorfall dokumentiert.» Kleinigkeiten können grosse Auswirkungen haben – wie in Hinkley Point, Grossbritannien: Da pinkelte 1961 ein Bauarbeiter an eine Leitung, die darauf zu rosten begann. 25 Jahre später musste die Anlage zu Millionenkosten für zehn Tage abgeschaltet werden.
Den Rückbau vorbereiten heisst zunächst: Bewilligungen einholen. Bis sich kein radioaktives Material mehr im Kraftwerk befindet – die BKW rechnet damit, dass dies 2031 soweit sein wird – untersteht die Anlage dem Kernenergiegesetz und der Aufsicht durch das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi). Ende 2015 reichte die BKW ihr Stilllegungsgesuch ein – 579 Seiten inklusive Beilagen. 2017 übergab das Ensi sein Gutachten zum Stillegungsgesuch dem zuständigen Departement Uvek, im Juni 2018 verfügte das Uvek auf 139 Seiten die Stilllegung. Aber der Prozess ist damit nicht abgeschlossen. Weitere behördliche Freigaben müssen eingeholt werden. Treten im Verlauf des Rückbaus Umstände auf, die die BKW zwingen, vom verfügten Rückbauprocedere abzuweichen, braucht es jedesmal eine neue Freigabe.
Die BKW ist nicht der einzige Akteur in der Schweiz, der sich in diesem Prozess befindet: Die Universität Basel bereitet einen Rückbau des AGN-211-P vor. So heisst ein Reaktor, der an der Weltausstellung 1958 unter dem Atomium in Brüssel stand und den die Uni Basel kaufte, um Studierende auszubilden. Seit 2013 ist er abgeschaltet, 2,2 Kilogramm Brennelemente sind von den USA zurückgenommen worden. Die Universität erwartet die Rückbaubewilligung noch in diesem Jahr. Ende 2019 soll die Anlage aus dem Kernenergiegesetz entlassen werden können.
Im Vergleich zu einem Kraftwerk ist AGN-211-P winzig, Probleme beim Rückbau sind laut Jörg Thiess von der deutschen IGN Consult, die die Anlage im Auftrag der Universität rückbaut, keine zu erwarten. Gleichwohl musste auch die Universität Basel ein Rückbaukonzept mit Störfallbetrachtungen einreichen, die sich beispielsweise mit der Frage befassen, was wäre, wenn während der Arbeiten ein Flugzeug auf den Reaktor abstürzte.
Forschungsreaktoren wurden in der Schweiz schon mehrere rückgebaut, ausserdem das 1969 havarierte Versuchskraftwerk in einer Felskaverne bei Lucens (VD). 1991 bis 1993 wurde es endgültig stillgelegt, die Reaktorkaverne mit Beton gefüllt, die Abfallbehälter 2003 ins Zwischenlager (Zwilag) in Würenlingen gebracht. 35 Jahre nach dem Unfall hat der Bundesrat Lucens ganz aus der Atomaufsicht entlassen.
Doch der Rückbau eines kommerziellen Kraftwerks ist auch für die Aufsichtsbehörde neu. Das Ensi teilt auf Anfrage mit, es baue «sein Wissen bezüglich Stilllegung und Rückbau seit einiger Zeit kontinuierlich aus. So werden Erfahrungen aus europäischen Ländern mit Stilllegungsprojekten in direktem Kontakt mit externen Fachexperten und bei Besichtigungen von Rückbauprojekten ausgetauscht.» Während des Rückbaus wird es angemeldete und unangemeldete Inspektionen geben.
Hand in Hand mit dem Einholen der Bewilligungen laufen die technischen Planungen und das, was im Management-Jargon «Change Management» heisst: Belegschaft und Abläufe müssen auf die neue Aufgabe vorbereitet werden.
Sein Baby töten: «Change Management»
«Aus der Stilllegung eröffnen sich interessante berufliche Perspektiven, auch wenn das definitive ‹Aus› manchem anfänglich unter die Haut gehen wird.»
Das Gesetz lässt zwei Arten des Rückbaus zu. Der eine Weg ist der «direkte Rückbau»: Man beginnt gleich nach dem Abschalten rückzubauen und bringt die radioaktiven Abfälle ins Zwilag nach Würenlingen, bis ein Endlager bereit steht (niemand weiss, wann). Der andere Weg wäre der «sichere Einschluss»: Man entfernt die Brennelemente, lässt aber das Gebäude stehen und sichert es bis zur Inbetriebnahme eines Endlagers. So entfällt die Zwischenlagerung und es ist damit zu rechnen, dass die Rückbautechnik dannzumal weiter entwickelt ist.
Mühleberg wird direkt rückgebaut. Der wichtigste Grund dafür seien die Mitarbeiter, die das Werk kennen, sagt Klute.
Braucht es diese Kenntnis denn, wo doch alles dokumentiert ist?
«Diese Leute kennen jedes Ventil und jede Schraube. Sie können mit den Systemen umgehen. Es wäre schwierig, jemand Aussenstehendes so zu schulen, dass er das ebensogut könnte, allein aufgrund der Dokumentation.»
Weil Technik nichts bloss Rationales ist, sondern viel mit Intuition zu tun hat – mit Gefühl?
Klute schweigt ein paar Sekunden. «Genau so ist es. Ich habe Kollegen, die bezeichnen das Werk als ihr Baby.»
Und nun müssen die ihre Kenntnis dazu nutzen, das Baby zu töten.
«Wenn ein Werk Knall auf Fall abgeschaltet wird, wie das in Deutschland vorgekommen ist, und Sie sagen den Leuten, die das Werk jahrelang betrieben haben, nun müssten sie es auseinandernehmen … das frustriert. Wir können die Mitarbeiter vom Entscheid bis zur Abschaltung sechs Jahre lang vorbereiten. Wir haben sogar zwei Rentner im Team, die viele Jahre lang in Mühleberg gearbeitet haben und nun die Planungen für den Rückbau massgeblich unterstützen. Sie finden es spannend, ihr Wissen für etwas Neues einsetzen zu können!»
Das Szenario «Stilllegung Knall auf Fall» drohte auch einem Schweizer AKW: Beznau I, eines der dienstältesten der Welt, konnte 2015 wegen Mängeln im Reaktorbehälter nach einer Revision nicht wieder angefahren werden. Erst im März 2018 erhielt Betreiberin Axpo von der Ensi die Bewilligung, den Betrieb wieder aufzunehmen. Die Axpo hat 2016 ein Projekt gestartet, um sich auf ein vorzeitiges Aus vorzubereiten. Wir hätten gern mit der verantwortlichen Person gesprochen, aber die Axpo scheint sich bedeckt halten zu wollen. Eine Anfrage der Republik beantwortete sie trotz mehrfacher Nachfrage nicht.
Sägen, bohren, verpacken: der Rückbau
«Sobald wir den Leistungsbetrieb eingestellt haben, beginnen wir unverzüglich mit der Vorbereitung des Rückbaus. Wir verlagern die Brennelemente vom Reaktor ins Brennelementlagerbecken, wo sie einige Jahre abklingen werden. Gegen Ende 2020 betreiben wir das Brennelementlagerbecken autonom. Jetzt ist die Anlage bereit für den Nachbetrieb. Parallel dazu haben wir damit begonnen, das Maschinenhaus leerzuräumen.»
Wie unterscheidet sich der Rückbau eines Atomkraftwerks vom Rückbau einer anderen Industrieanlage – und was ist gleich?
«Sie fragen richtig», sagt Stefan Klute: «Wenn die Brennelemente entfernt sind, ist das im Grunde wie bei jedem Rückbau. Sie müssen die Maschinen- und Gebäudeteile so zerkleinern, dass Sie sie entsorgen können, und müssen Mitarbeiter und Umwelt vor den schädlichen Stoffen schützen, die dabei frei werden – ob die nun toxisch sind oder radioaktiv.» Damit kein verseuchter Staub an die Umwelt gelangt, werden stark radioaktive Anlagenteile unter Wasser zersägt und verpackt. Eine so genannte Unterdruckstaffelung sorgt dafür, dass die Luft stets nur in eine Richtung – in Räume mit jeweils tieferem Druck – strömt; Filter halten Staubteile zurück.
Beim Rückbau fallen unterschiedliche Kategorien radioaktiver Abfälle an. Erstens die Brennelemente. Ihr Strahlen lieferte Energie, bis sie ausgebrannt waren, aber nach dem Ausbrennen strahlen sie weiter. Sie müssen als hochradioaktive Abfälle in einem Lager für eine Million Jahre sicher entsorgt werden. Doch ihr Ausbau ist Routine: Bei jeder Jahresrevision wurden Brennelemente ersetzt.
In die zweite Kategorie fallen aktivierte Materialien. Sie waren während des Kraftwerksbetriebs starker Strahlung ausgesetzt und begannen dabei selber zu strahlen – beispielsweise der Beton im Reaktormantel. Aktiviertes Material muss ebenfalls in einem Endlager entsorgt und zuvor konditioniert, das heisst zur Entsorgung vorbereitet und so verpackt werden, dass keine Strahlung mehr entweicht. Das heisst konkret: es wird in Beton eingegossen. Jedes Material muss anders konditioniert werden: Das Material darf während seiner Lagerung nicht mehr chemisch reagieren, denn das würde die Stabilität der Lagerung gefährden. Organische Stoffe verbrennt man, die Radioaktivität bleibt in den Rauchgasfiltern hängen; Flüssigkeiten kondensiert man und die Radioaktivität sammelt sich in den verbleibenden Feststoffen. Alles aktivierte Material muss säuberlich getrennt werden: jedes Armierungseisen und jeder Dübel raus aus dem Beton, jeder Lack weg.
Die dritte Kategorie umfasst kontaminiertes Material: Es ist lediglich mit radioaktiven Stoffen verschmutzt. Es wird gereinigt, wozu mitunter ein einfaches Abwischen genügt, mitunter ein Hochdruckreiniger nötig ist. 2000 Bar Wasserdruck kann die Nassstrahlanlage erzeugen. Misst man nach der Reinigung keine Radioaktivität mehr oder liegt die Radioaktivität unter dem Grenzwert, gilt das Material als «freigemessen» und ist aus der Atomaufsicht entlassen. Gebrauchte Putzutensilien und Schutzkleider werden verbrannt, Putzwasser gefiltert und kondensiert, was übrig bleibt für die Endlagerung verpackt.
Giftiges Material muss nach den üblichen Umweltvorschriften vernichtet oder entsorgt werden – etwa PCB-haltige Lacke. Dass beim Rückbau sowohl radioaktives wie giftiges Material anfällt, kompliziert die Sache, denn die Abfallkategorien müssen unterschiedlich behandelt werden.
200 000 Tonnen Material gibt es rückzubauen. 16 000 Tonnen sind radioaktiv verunreinigt. 10 000 Tonnen davon werden gereinigt und 2000 Tonnen lässt man abklingen, bis sie nicht mehr strahlen. 4000 Tonnen bleiben als radioaktiver Müll übrig, davon sind 120 Tonnen – inklusive der Brennelemente – hochaktiv.
Vieles ist Handwerk. Und mithin: Erfahrung. Es stellen sich eher handfeste denn nukleartechnische Fragen. «Man versucht zum Beispiel zu rekonstruieren, wie ein gewisses Anlagenteil ins Gebäude rein gekommen ist», sagt Klute: «Mit einem Kran, als das Gebäude noch keine Decke hatte, oder durch eine Lücke in der Wand?»
Es wird Überraschungen geben. Auch da hilft Erfahrung: «Sie überlegen sich: Wenn irgendwo kontaminierte Flüssigkeit ausgelaufen sein sollte, wo wäre die jetzt? Am tiefsten Punkt der Gebäudehülle, im Gebäudesumpf. Also werden wir da gleich messen, sobald das zugänglich ist, und zusätzliche Probebohrungen durchführen.»
Das klingt banal.
«Ja. Aber man muss dran denken. In Stade in Niedersachsen glaubte man, fast fertig zu sein, als man feststellte, dass Teile des Reaktorsockel noch kontaminiert waren. Das hat dann für negative Presse gesorgt und den Rückbau um Jahre verzögert.»
Vom Katastrophen- zum Rückbauspezialisten: Forschung und Lehre
Jörg Thiess von der IGN Consult, die den Forschungsreaktor der Universität Basel rückbaut und weltweit Unternehmen zu nukleartechnischen Fragen berät, sieht ein Problem kommen: Es dürfte bald einmal zu wenige Fachleute geben. In den nächsten Jahren werden weltweit zahlreiche Atomkraftwerke abgestellt.
2016 hat Nationalrat Jonas Fricker (Grüne/AG) eine Motion eingereicht, mit der er den Bundesrat beauftragen wollte, für ausreichend qualifizierte Fachleute für den Rückbau von AKWs zu sorgen. Unnötig, fand der Bundesrat: Die Verantwortung für die Ausbildung von Fachleuten liege primär bei den Betreibern. Der Nationalrat lehnte die Motion vergangenen März ab.
Wie bildet man AKW-Rückbauer aus?
Die beiden ETH und das Paul Scherrer Institut bieten seit 2008 gemeinsam einen Masterstudiengang in Nukleartechnik an. Der Studienleiter Horst-Michael Prasser, Professor für Kernenergiesysteme an der ETH, sagte 2011 nach dem Super-GAU von Fukushima und dem Atomausstieg Deutschlands (und dem halben Ausstieg der Schweiz), es brauche auch in Zukunft Nuklearfachleute, und sei es, um geordnet aus der Atomtechnik auszusteigen.
Aber erst seit 2016 gehört eine einsemestrige Vorlesung «Decommissioning» – also Rückbau – zum Curriculum des Masterstudiengangs. Warum erst seit zwei Jahren?
«Ja, wir hätten das schon früher anbieten können», sagt Prasser. «Wir haben den Kurs halt neu aufgebaut … und es war auch die Stilllegung von Mühleberg, die uns auf die Idee brachte. Wenn die Studenten in unseren anderen Vorlesungen gelernt haben, wie ein Kernkraftwerk gebaut ist, dann verfügen sie über die nukleartechnischen Grundlagen, die sie für den Rückbau brauchen. Was fehlt, sind mehr handwerkliche Fähigkeiten: Wie zersäge ich Beton, oder wie bringe ich den Lack von einer Oberfläche weg? Das hatten wir zu wenig im Auge.»
Erste Adresse dafür im deutschen Sprachraum ist das Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sascha Gentes, Professor am Institut für Technologie und Management im Baubetrieb des KIT, begann seine Wissenschafterkarriere mit Publikationen zur Bergung von Erdbebenopfern. Von der Katastrophe zum AKW-Rückbau, ein logischer Weg?
«Nein», sagt Gentes, «das war eher zufällig. Aber bei der Bergung von Erdbebenopfern geht es unter anderem darum, wie man Beton zerkleinert. Das brachte mich zu meinem heutigen Fachgebiet.»
«Untersuchungen zum Geometrieeinfluss von Hartmetalllamellen beim Betonfräsen» ist der Titel von Gentes’ jüngster Publikation. «Der Rückbau eines Atomkraftwerks ist nichts anderes als der Rückbau einer anderen grossen Industrieanlage unter verschärften Bedingungen. Sie müssen alles behördlich bewilligen lassen. Bei konventionellen Rückbauten können Sie hemdsärmeliger vorgehen.»
Wo gibt es Forschungsbedarf?
«Man weiss, was man wissen muss, um Kernkraftwerke sicher rückzubauen. Aber man kann die Verfahren noch optimieren und Arbeitsschritte automatisieren. Das grösste Problem sind nicht Wissenslücken zum Rückbau, sondern dass es noch keine Endlager gibt.»
Seriosität attestiert: der Kritiker
Marcos Buser ist Geologe und Sozialwissenschafter und einer der profiliertesten Kritiker der Atompolitik der Schweiz, vor allem in der Frage der Endlagerung. Er war Mitglied der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit, aus der er 2012 aus Protest zurücktrat, weil die Aufsichtsbehörden nicht unabhängig seien.
Buser kritisiert die Rückbaumethode an sich: Statt eines direkten Rückbaus würde er den sicheren Einschluss bevorzugen, bis ein Endlager bereit steht. Die Radioaktivität in Gebäude und Anlagen sei am sichersten verwahrt, wenn man sie bis zur Endlagerung in ihren Strukturen belasse. Doch wenn er sich auch für eine andere Methode entschieden hätte, decken sich seine Einschätzungen ansonsten durchaus mit denen Klutes, Prassers oder Gentes’: Ein AKW-Rückbau ist in erster Linie ein Industrierückbau, die Herausforderungen sind handfester Art, aber die Sache ist machbar. Es brauche Fachleute mit Erfahrung im Rückbau: Leute, die wüssten, wie man Beton zersägt, Maschinen bedient oder den Arbeitsschutz sicherstellt. Das grösste Problem, sagt Buser, sei die Aufsicht. Das Ensi sei mit der Aufgabe überfordert, denn da arbeiteten Akademiker «mit schönen Doktortiteln guter Hochschulen». Aber keine Praktiker.
Die BKW aber kommt beim Kritiker gut weg. Sie habe mit Stefan Klute einen Mann geholt, der sich auskenne, ihre Planung sei seriös. Fast entschuldigend sagt Buser: «Wenn etwas schlecht läuft, kritisiere ich das. Aber wenn jemand seine Sache gut macht, soll man das auch sagen.»
Jede Menge Probleme: Blick ins Ausland
«In der Schweiz sind wir die ersten, die ein kommerziell betriebenes Kernkraftwerk stilllegen. Weltweit bietet sich hingegen ein anderes Bild. Deutschland hat zum Beispiel bereits viele technische Hilfsmittel und Verfahren für den Rückbau entwickelt und sich dabei spezifisches Know-how erarbeitet. Von diesen Erfahrungen können wir profitieren.»
Weltweit sind 413 kommerzielle Atomreaktoren in Betrieb. 173 sind abgeschaltet worden, bei 115 wurde mit dem Rückbau begonnen, aber erst 19 Reaktoren in drei Staaten (USA, Deutschland, Japan) sind aus der Atomaufsicht entlassen und 10 davon vollständig rückgebaut. 14 der 19 bisher rückgebauten Reaktoren waren weniger lang in Betrieb, als Bau und Rückbau zusammengenommen dauerten.
Gab es dabei nennenswerte Probleme? «Jede Menge Menge», sagt Mycle Schneider – Probleme organisatorischer, finanzieller und rechtlicher Art. Schneider ist Hauptautor des jährlich erscheinenden, von atomkritischen Organisationen finanzierten World Nuclear Industry Status Report.
Der jüngste Bericht vom September 2018 enthält erstmals ein Kapitel zum Rückbau. Der Rückbau sei ein «wichtiger Schritt im Lebenszyklus eines Reaktors», heisst es da, habe aber «in den letzten Jahrzehnten nicht viel Aufmerksamkeit erhalten. Der Rückbau wurde beim Design der Anlagen selten in Betracht gezogen und die Kosten wurden weitgehend ignoriert».
300 weitere Atomkraftwerke werden bis 2050 weltweit rückzubauen sein. Die Internationale Atomenergieagentur IAEA schätzte das Volumen des Rückbaumarkts im Jahr 2004 auf eine Billion Dollar für die erste Jahrhunderthälfte – ein Drittel dieser Kosten wird für zivile, zwei Drittel für militärische Anlagen anfallen. Frankreich und Grossbritannien, die beide zu den Pionierstaaten der Atomkraft gehören, haben noch keinen Reaktor vollständig rückgebaut. In Grossbritannien ist eine nationale Behörde für den Rückbau verantwortlich. Bei der Vergabe von Lizenzen zum Rückbau an private Unternehmen «versagte sie» laut einem Bericht des britischen Parlaments «komplett»; allein die gerichtlichen Auseinandersetzungen um eine unkorrekte Auftragsvergabe kosteten die Steuerzahler nahezu hundert Millionen Pfund (124 Millionen Franken). Für Calder Hall 1 und 2, die ihren Betrieb als erste kommerzielle Reaktoren 1956 aufnahmen und bis 2003 in Betrieb waren, rechnet die britische Rückbaubehörde NDA mit einem Rückbau bis ins 22. Jahrhundert.
Auch Frankreich rechnet mit Rückbauten bis ins nächste Jahrhundert. Für ihre bisher 25 stillgelegten Reaktoren veranschlagt die Betreibergesellschaft EDF Kosten von 6,5 Milliarden Euro. Rückgestellt hat sie dafür nur 3,3 Milliarden.
Rückstellungen heizen dem Klima ein: Finanzierung
«1 517 000 000 Franken Rückstellungen hat die BKW für die Stilllegung und Entsorgung bereits gebildet.»2
Wer zahlt den Rückbau von Mühleberg? Die BKW. Das Kernenergiegesetz schreibt vor, dass die Betreiber von Atomkraftwerke alle fünf Jahre eine Kostenstudie vorlegen. Die entsprechenden Rückstellungen zahlen sie dem Stilllegungs- und dem Entsorgungsfonds (Stenfo) ein, der die Gelder treuhänderisch verwaltet. 550 Millionen Franken soll der Rückbau kosten, 340 Millionen der Nachbetrieb und 35 Millionen das Change Management, aber der grosse Brocken ist die Entsorgung der radioaktiven Abfälle: 1,25 Milliarden laut der aktuellsten Kostenschätzung der BKW. Wobei wir hier von einem Endlager sprechen, von dem noch nicht einmal der Standort bekannt ist.
Werden Rückbau und Entsorgung teurer als geplant oder wirft der Fonds weniger Ertrag ab als erwartet, haftet die BKW, und wenn sie das nicht kann, greift eine im Gesetz festgeschriebene «Haftungskaskade». Es ist also alles geregelt – besser als in Grossbritannien oder Frankreich?
Ganz so rund läuft es auch in der Schweiz nicht. Mitte September hat das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde der Schweizer AKW-Betreiber abgewiesen: Sie wehrten sich gegen einen Sicherheitszuschlag auf die Rückstellungen, den der Bundesrat 2015 eingeführt hatte, um das Risiko zu vermindern, dass der Bund zahlen muss. Das Gericht begründete seinen Entscheid unter anderem mit Verweis auf Erfahrungen aus Deutschland, die zeigten, «innert welch kurzer Zeit sich die mutmasslichen Stilllegungs- und Entsorgungskosten erheblich erhöhen können».
Die Gelder für die Stilllegung von Mühleberg sind zu einem Drittel in Aktien und zu 40 Prozent in Obligationen angelegt. Aktien und Obligationen von Unternehmen, an denen die Schweizer Atomkraftwerkbetreiber zu mindestens 20 Prozent beteiligt sind, sind nicht zugelassen, ebensowenig solche von Unternehmen, die grosse Abnehmer von Schweizer Atomstrom sind. Aber andere Energieunternehmen? Welche Energiezukunft finanzieren die Stilllegungs- und Entsorgungsgelder mit? Heizt der als CO2-frei gepriesene Atomstrom via Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen dem Klima ein – so wie die Pensionskassen, deren Investitionsverhalten laut dem Bundesamt für Umwelt «eine Erwärmung um 4 bis 6 Grad unterstützt»?
Es ist davon auszugehen, denn der Stenfo hat keine Strategie zur klimaverträglichen Anlage seiner Gelder. Auf Anfrage teilt er mit: «Eine Auswertung, in welche Energieunternehmen die Fonds investiert, existiert nicht, da die Fonds insbesondere im Bereich der Aktien mehrheitlich passiv investiert sind und grundsätzlich keine aktive Rolle bei der Auswahl der einzelnen Titel wahrnehmen.»
Gletscher und intelligente Wesen: Endlagerung
«Im Zwilag werden die radioaktiven Abfälle so lange aufbewahrt, bis ein geologisches Tiefenlager gebaut und in Betrieb ist. Dafür bleibt reichlich Zeit.»
Sind alle radioaktiven Abfälle konditioniert und verpackt, ist das Zwischenlager (Zwilag) vorläufig Endstation. Es ist gross genug, um die Abfälle aller fünf Schweizer AKW aufzunehmen. Aber es ist nicht für die Ewigkeit gebaut.
Ein Tiefenlager für die Endlagerung mittel- und hochradioaktiver Abfälle aus Atomkraftwerken gibt es noch nicht, nicht in der Schweiz und nirgends auf der Welt. Am weitesten fortgeschritten ist der Bau des Tiefenlagers auf der Insel Olkiluoto in Finnland. Die Betreiberin gräbt es in ein Gestein, das in der Schweiz als zu wenig sicher aufgegeben wurde: Granit. Die hochaktiven Abfälle müssten aber auch dann ins Zwischenlager, wenn ein Endlager bereitstünde: Sie müssen erst einige Jahrzehnte abkühlen. Würden sie sofort vergraben, versprödete das umliegende Gestein wegen der Hitze, die sie abstrahlen, und das Lager verlöre Stabilität. Die Gesellschaft muss noch Jahrzehnte nach Abschalten des letzten AKW in der Lage und willens sein, diese Abfälle sicher zu entsorgen.
Der Bau eines Endlagers wäre eine Geschichte für sich; hier nur ein paar Stichworte: Der Bundesbeschluss zum Atomgesetz von 1978 sah vor, dass die schweizerischen AKW abgeschaltet werden müssten, wenn bis 1985 kein Nachweis vorläge, dass ein sicheres Endlager gebaut werden kann. Es kam anders: Erst 2006 lag der Entsorgungsnachweis für ein Lager in Opalinuston vor – doch die AKW liefen weiter. Nun werden mehrere mögliche Standorte sondiert, deren Untergrund aus Opalinuston besteht. 2050 soll das Tiefenlager einsatzbereit sein. Wenn sich die Nationale Gesellschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) nicht wieder verschätzt.
Es bleibt reichlich Zeit.
Und dann muss das Lager für eine Million Jahre sicher sein. Nimmt man die ersten Hochkulturen als den Beginn der historischen Zeit, so entspricht eine Million Jahre 140 aneinandergereihten historischen Zeiten.
So lange darf nichts und niemand den Müll ausgraben. Nach menschlichem Ermessen sind zwei Ausgräber denkbar: intelligente, technikfähige Wesen und Gletscher. Gletscher? In einer Million Jahren ist mit mehreren Eiszeiten zu rechnen. Vorerst steuern wir ja auf eine Heisszeit zu. Aber Jahrhunderttausende werden auch die überwinden.
Intelligente Wesen? Vielleicht unsere Nachfahren, vielleicht ein anderes intelligentes Tier. Unsere Art, der Homo sapiens, existiert seit 300 000 Jahren. Dreimal so lange wird seine Hinterlassenschaft strahlen.
1Die Zitate entstammen der Broschüre «Stilllegung Kernkraftwerk Mühleberg» der BKW respektive dem Video «Die Stilllegung im Überblick» auf der BKW-Website.
2Basis: Jahresabschluss 2017.