Marcel Hänggi
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Schwarze Löcher vor dem Kadi 

2/18/2010

 

Die Gewissheit, dass der neue Teilchenbeschleuniger des Cern sicher sei, beruht auf dem Bericht einer Cern-internen Arbeitsgruppe. Nun sagt ein Mitglied dieser Arbeitsgruppe, das Resultat der Sicherheitsstudie habe im Voraus festgestanden. Und ein Rechtsprofessor erlaubt sich, den Fall aus juristischer Sicht zu beurteilen. Am Cern ist man nicht erfreut. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 18. Februar 2010 / «Technology Review» online vom 19. Februar 2010 / «Der Standard» vom 24. Februar 2010
Es war der Party-Verderber des Jahres. Im Frühling 2008 bereitete das europäische Kernforschungszentrum Cern bei Genf die Einweihung seines neuesten Teilchenbeschleunigers LHC vor. Doch statt von den schönen Superlativen –  größte je gebaute Maschine, ambitionierteste wissenschaftliche Experimente der Geschichte – schrieben die Zeitungen vom Weltuntergang. Der LHC könnte, meinte der deutsche Chaosforscher und theoretische Physiker Otto Rössler, kleine schwarze Löcher erzeugen, die das Zeug hätten, die Erde binnen einiger Monate aufzufressen. Die Verrücktheit dieser Vorstellung in Verbindung mit der Skurrilität des emeritierten Professors gab die perfekte Geschichte. «Versenken Forscher die Erde in einem schwarzen Loch?» fragte «Bild», während die seriöseren Blätter Entwarnung gaben: Schwarze Minilöcher, wenn es sie denn gäbe, seien ungefährlich. Sie stützten sich dabei auf den Bericht der Cern-internen Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Sicherheit des LHC, kurz LSAG.
Nun zitiert die Zeitschrift «PhysicsWorld» eines der fünf Mitglieder dieser LSAG, den Physiker John Ellis, mit den Worten, das Resultat der Sicherheitsstudien habe «im Voraus festgestanden» und es gebe «keine wissenschaftliche Motivation für solche Studien» («There is no scientific motivation for these reviews. They are a foregone conclusion»). Ellis hatte früher schon gesagt, er sorge sich weniger darum, ob die Menschheit vor dem LHC sicher sei, als ob der LHC vor der Menschheit sicher sei – eine eigenwillige Interpretation von «Sicherheit des LHC».

Anlass für den «PhysicsWorld»-Artikel war ein rechtswissenschaftlicher Aufsatz, der Ende 2009 in der «Tennessee Law Review» erschien.Eric E. Johnson, Rechtsprofessor an der Universität North Dakota, kommt darin zum Aufsehen erregenden Schluss, eine Klage, die auf eine provisorische Verfügung gegen den Betrieb des LHC abzielte, hätte vor einem US-Gericht gute Chancen. Tatsächlich sind schon einige Gerichte gegen den LHC angerufen worden, doch hat keines einen substantiellen Entscheid gefällt: In den Standortländern Schweiz und Frankreich genießt das Cern Immunität; Gerichte in Deutschland und den USA sowie der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof haben sich für nicht zuständig erklärt. Es gehe ihm, sagt Johnson, nicht darum, den LHC zu stoppen – das müssten Gerichte entscheiden. Dass aber Gerichte entscheiden sollten, ist für Johnson essentiell, und in seinem Aufsatz will er zeigen, wie sie dabei vorgehen könnten.

Der «Fall Schwarze Löcher» hat für Johnson «alle Merkmalen eines Lehrbuchfall-Klassikers» und könne als Modell für ähnliche Fälle dienen, wie sie sich im 21. Jahrhundert auch in den Nanowissenschaften, der Biotechnologie oder im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz ergeben könnten. Die Komplexität des Falls hat vor allem drei Gründe:

• Erstens versagen hergebrachte Techniken des Umgangs mit Risiken, wenn schlechterdings die ganze Welt auf dem Spiel steht. Doch auch in der andere Waagschale liegt mehr als «nur» der Fortbestand eines milliardenteuren Experiments: Ein Stopp des LHC könnte das Ende der experimentellen Teilchenphysik bedeuten (einige Physiker meinen freilich, die jüngsten Theorien der Physik hätten die Grenzen der experimentellen Überprüfbarkeit bereits überschritten).

• Zweitens sind die Risikoanalysen derart komplex, dass nur wenige Menschen weltweit in der Lage sind, sie nachzuvollziehen. Juristen dürften keine darunter sein.

• Drittens sind alle Experten befangen: Sie fürchteten, schreibt Johnson, «entweder um ihren Lebensunterhalt (ohne LHC gingen die meisten Stellen in diesem Bereich verloren) oder um ihr Leben.»

Das zentrale Sicherheitsargument des Cern sieht einfach aus: Wenn so genannte kosmische Strahlung auf die Erde (und jeden anderen Himmelskörper) trifft, kommt es am laufenden Band zu Teilchenkollisionen, wie sie der LHC erzeugt. Wären diese gefährlich, gäbe es die Erde längst nicht mehr.

Freilich verwechselt dieses Argument die Wirklichkeit mit der hoch künstlichen Laborsituation. Denn kosmische Strahlung trifft mit hoher Geschwindigkeit auf die Erde, so dass Schwarze Minilöcher diese durchschlagen und wieder verlassen könnten, bevor sie Zeit hätten, sie zu verschlucken. Im LHC erzeugte Schwarze Minilöcher dagegen könnten stationär sein und lange Zeit im Erdinneren gefangen bleiben. Trotzdem besteht Cern-Physiker Michelangelo Mangano darauf, dass die Existenz der Erde die Ungefährlichkeit des LHC beweise: «Wir erwarten, dass solche Schwarze Minilöcher geladen wären. Geladene Teilchen würden beim Durchschlagen der Erde so stark abgebremst, dass sie sich wie stationäre Teilchen verhalten.»

Mangano und sein Kollege Steve Giddings von der Universität Santa Barbara wollten es dennoch genauer wissen und untersuchen, was geschähe, wenn Schwarze Minilöcher doch ungeladen wären. Denn, so schreiben die beiden in ihrer 2008 publizierten Studie, «beim gegenwärtigen Wissensstand können wir diese Möglichkeit nicht vollkommen ausschließen» («our present state of knowledge of quantum black holes doesn't strictly rule out such a possibility»). Nun müssen Mangano und Giddings sehr viel Physik aufbieten und einige Annahmen treffen, um das Argument zu retten. Sie bieten dafür so genannte Neutronensterne und Weiße Zwerge auf: Diese superdichten Sterne würden selbst ungeladene Teilchen der kosmischen Strahlung stoppen, so dass die Vergleichbarkeit mit dem LHC wieder gegeben sei. Die Existenz dieser Sterne beweise also die Ungefährlichkeit des LHC – wobei Mangano und Giddings diese Folgerung in der vollen Konsequenz nur für eine Handvoll Weißer Zwerge gelten lassen. Fazit: «Es gibt kein Risiko von irgend welcher Bedeutung» («of any significance whatsoever»).

Der LSAG-Bericht, der sich wesentlich auf die Studie von Mangano und Giddings stützt, macht daraus die Aussage, es gebe «kein Risiko». Für Johnson ist das eine unzulässige Vereinfachung; Mangano, selber LSAG-Mitglied, dagegen sagt: «Die LSAG anerkannte in ihrem Bericht, dass unsere Annahmen bereits sehr konservativ waren. Es kommt nicht auf die Wortwahl an, sondern auf die Substanz, und in der Substanz besteht kein Widerspruch.»

Wenige Wochen nach der Publikation der Studie Manganos und Giddings’ präsentierte der deutsche Astrophysiker Rainer Plaga seine Kritik daran. Die Studie sei «exzellent», sagt Plaga – doch die Schlussfolgerung, es gebe «kein Risiko von irgend einer Bedeutung», gebe sie nicht her. Plaga hält das Risiko, anders als Otto Rössler, dem er Alarmismus vorwirft, ebenfalls für klein – aber eben nicht für vernachlässigbar; er schreibt von einem «Restrisiko». Eine 2009 publizierte Studie von Roberto Casadio vom Istituto Nazionale de Fisica Nucleare in Bologna kommt zwar wie Mangano und Giddings zum Schluss, es gebe keine Gefahr – weicht in einigen Punkten aber von deren Studie ab. Die Folgerungen stehen also nicht auf unstrittigem Grund.

Wie könnten nun Richter, die den Fall beurteilen müssten, mit den für sie unverständlichen widersprüchlichen Berechnungen umgehen? Mangano, Giddings und Casadio gehören zum Establishment der Teilchenphysik; ihre Position wird von praktisch der ganzen Fachgemeinde geteilt. Rössler und Plaga dagegen arbeiten in Nachbardisziplinen und sind Außenseiter und Alleinkämpfer (Rössler hat sich mit seiner Uni, der Uni Tübingen, in einem bizarren Streit verkracht). Haben erstere also nicht einfach ungleich mehr Glaubwürdigkeit?

Die meisten Journalisten, beispielsweise, argumentierten so. Doch für ein Gericht verbiete sich dieses Argument, schreibt Johnson: «Allgemeine Akzeptanz durch die Fachgemeinde, oder deren Fehlen, bedeutet nahezu nichts, wenn die Fachgemeinde selbst befangen ist» («means next-to-nothing when that community itself has a stake in the matter»). Kapitulieren aber dürfe die Justiz auf keinen Fall: Täte sie das und ließe den LHC weiter laufen, wäre das ein Blankoscheck für die Wissenschaft, soweit sie nur komplex genug ist. Kapitulierte die Justiz aber und verböte den LHC, um auf der sicheren Seite zu sein, würde sie zur «Marionette leichtfertiger Opponenten», die jedes komplexe wissenschaftliche Unternehmen stoppen könnten.

Johnsons Ausweg: «Gerichte mögen schlecht gerüstet sein, wissenschaftliche Dispute zu lösen, aber sie sind recht gut gerüstet, um den menschlichen Aspekt möglicher Katastrophen zu beurteilen.» So könnten Richter psychologische oder soziale Faktoren bewerten, die wissenschaftliche Aussagen beeinflussen könnten. Und sie können selbst bei komplexen Argumenten nachvollziehen, ob eine Partei diese Argumente stringent verwendet.

Angewandt auf das Cern, fällt Johnsons Analyse ernüchternd aus. Die TeilchenphysikerInnen bildeten, wie die (umstrittene) Anthropologin Sharon Traweek festgestellt hat, eine sehr verschworene Gemeinschaft, die sich von der Außenwelt stark isoliere und in der alle alle kennten. Solche Gemeinschaften seien besonders anfällig für «Groupthink». So nennt die Psychologie das Phänomen, dass Menschen in einer Gemeinschaft ähnlich denkender Menschen dazu neigen, störende Gedanken auszuschließen. «Groupthink» hat laut dem offiziellen Untersuchungsbericht etwa zum Absturz der Raumfähre Columbia (2003) beigetragen. Verstärkend kommt hinzu, dass der amerikanische Kongress 1993 den Bau eines anderen riesigen Beschleunigers, des Superconduction Super Collider, in Texas stoppte. Für die Gemeinde der Teilchenphysiker war das ein traumatischer Entscheid, und viele sahen einen Grund für dieses Scheitern im Auftreten der Physiker, das zu wenig geschlossen gewesen sei. Als Beispiel, wie ungehalten Cern-Physiker mitunter auf Kritik reagieren, zitiert Johnson Brian Cox von der Universität Manchester, der an einem LHC-Experiment beteiligt ist, mit den Worten «Wer immer denkt, der LHC werde die Welt zerstören, ist ein Arschloch» («a twat»).

Johnson zeigt ferner, wie sich Sicherheitsargumente rund um Teilchenbeschleuniger innert weniger Jahre geändert haben, weil frühere Gewissheiten im Lichte neuer Theorien plötzlich ungewiss geworden sind. So argumentierte ein Sicherheitsbericht zum Brookhavener RHIC1999, Teilchenbeschleuniger seien gar nicht in der Lage, Schwarze Löcher hervorzubringen. Seit Physiker begonnen haben, im Rahmen derStringtheorie mit mehr als drei Raumdimensionen zu rechnen, ist diese Aussage überholt. 2003 präsentierte das Cern einenSicherheitsbericht, der argumentierte, Schwarze Minilöcher würden sofort in die Hawkingstrahlung zerfallen. Diese von Stephen Hawking 1974 erstmals postulierte Strahlung widersprach seinerzeit der Lehrbuchmeinung, etablierte sich aber, obwohl sie empirisch nicht nachweisbar ist, rasch als wissenschaftlich anerkannte Tatsache. Seit nun aber einer der Väter der Hawkingstrahlung, William Unruh von der Universität British Columbia in Vancouver, Zweifel an der Existenz dieser Strahlung geäußert hat, ist auch dieses Argument schwach geworden. So sagte LSAG-Mitglied John Ellis in seinem Vortrag vor Cern-Mitarbeitern 2008, die Frage der Schwarzen Minilöcher sei «ein sich schnell veränderndes Forschungsgebiet» («a fast moving subject»).

Am meisten freilich stört sich Johnson daran, dass die LSAG eine Cern-interne und keine unabhängige Instanz ist. Würde, schreibt er, ein Medikament die Marktzulassung allein aufgrund eines Berichts erhalten, den fünf Mitarbeiter des Pharmaunternehmens geschrieben haben, das dieses Medikament vertreibt, so wäre dies «ein Skandal von epischem Ausmaß».

In Genf ist man über Johnsons Artikel wenig erfreut. John Ellis ließ sich zu der zitierten Aussage gegenüber «PhysicsWorld» hinreißen. Cern-Sprecher James Gillies sagt, Johnson habe es versäumt, auch «die andere Seite der Medaille» zu betrachten. Zwar stimme es, dass die LSAG-Bericht kein unabhängiges Gremium sei, doch sei deren Bericht der ganzen Wissenschaftswelt zur Begutachtung präsentiert worden. Und das Cern könne nichts tun gegen den Willen des Cern-Rats, in dem die Regierungen der zwanzig Cern-Mitgliedstaaten vertreten seien. Das ist korrekt – allein, diese Staaten haben es versäumt, eine externe Risikoanalyse einzufordern.

Michelangelo Mangano wirft Johnson vor, dass er mit keinem einzigen Cern-Physiker gesprochen habe, um seine Aussagen zu überprüfen. Ob Johnsons Artikel denn substanzielle Fehler enthalte? «Ja. Johnson referiert Statements, die er im Internet gefunden hat, und akzeptiert deren Aussagen, die sich als inkorrekt erwiesen haben» – Mangano meint die Kritiken Rösslers und Plagas. Ein weiterer von Johnson zitierten Krtiker, der Philosoph Toby Ord von der Universität Oxford, verwende eine statistische Analyse, die «in diesem Kontext nicht passt».

Auf Plagas Kritik haben Mangano und Giddings – «in eisigem Tonfall», wie Johnson anmerkt – geantwortet. Auf ein Argument Plagas freilich – es ging um eine Annahme über die Größe schwarzer Minilöcher – gingen die beiden gar nicht ein. Das sei richtig, bestätigt Mangano: Er und Giddings hätten, indem sie Plagas erstes Argument analysierten, gezeigt, dass dieser «um viele Größenordnungen falsch» liege, worin sich «ein fehlendes Verständnis für die zugrunde liegenden Sachverhalte» äußere. Dieses fehlende Verständnis entwerte auch das zweite Argument.

Mag sein, dass es die Physiker einfach Leid sind, zu Kritiken Stellung nehmen zu müssen, die einfach fehlerhaft sind. Ob die Kritiken fehlerhaft sind, vermag der Journalist an dieser Stelle ebenso wenig zu beurteilen wie ein Jurist. Vor Gericht wären die Parteien gezwungen, auf die jeweiligen Argumente einzugehen. Immerhin geht es, so gering die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe sein mag, um nichts Geringeres als den Fortbestand der Erde.

Darum geht es Eric Johnson.
 
Marcel Hänggi

Postscriptum

Es drängt sich dieser Tage ein Vergleich auf: Die «Klimaskeptiker», die bezweifeln, dass wir einen wesentlich vom Menschen verursachten Klimawandel erleben, argumentieren teilweise ähnlich wie Johnson im LHC-Fall. Auch sie monieren, die offiziellen Klimawissenshaften bildeten eine verschworene Gemeinschaft, die für Außenseitermeinungen taub sei, ja diese aktiv ausschließe. Und auch die Klimaforscher hätten ein persönliches Interesse an ihren Aussagen, lebten sie doch gut von den Forschungsgeldern, die weniger großzügig fließen würden, würde der Klimawandel harmloser dargestellt. Diese Kritiken sind sicher nicht einfach nur falsch, wie nicht zuletzt die Affäre um die gestohlenen E-Mails der Universität East Anglia («Climategate») gezeigt hat. Freilich ist das vermutlich bei jeder Wissenschaft so - das Bild der nur der Wahrheit verpflichteten, jeglicher Kritik jederzeit offenen, von keinen außerwissenschaftlicen Interessen geleiteten Wissenschaftler ist eine Chimäre. 

Darüber hinaus sind aber vor allem die Unterschiede zwischen den beiden Fällen groß: An der Erforschung des Klimawandels beteiligen sich weltweit Zehntausende – eine Gruppendynamik wie im Falle der Teilchenphysiker-Gemeinde kann sich da nicht bilden. Das Organ, welches den Stand der klimawissenschaftlichen Forschung periodisch quasi offiziell zusammenfasst – das IPCC –, ist von wissenschaftsfremden Einflüssen tatsächlich nicht frei, denn es wird von den Regierungen der Uno-Mitgliedstaaten getragen. Doch da hier jedeUno-Mitglied mitwirken kann, ist für ein Ausgleich der Interessen gesorgt. Und mögen auch die «Klimaskeptiker» Außenseiter sein, so steht doch hinter ihnen eine finanzstarke, gut organisierte Lobby, die dafür zu sorgen weiß, dass Fehler der «offiziellen» Klimaforschung aufgedeckt und öffentlich ausgeschlachtet werden. Und schließlich: Die grundlegende Theorie, dass gewisse Gase für Licht in unterschiedlichen Wellenlängen unterschiedlich transparent sind und deshalb einen Treibhauseffekt bewirken, kann, ganz im Gegensatz zu den Theorien der modernen Physik, von jedem nachvollzogen werden, der einigermaßen Sekundarschulstoff beherrscht. Schon dadurch ist die Beobachtung dieser Wissenschaften durch die Öffentlichkeit eine ganz andere. 

Eine Parallele zwischen den beiden Fällen muss man freilich gelten lassen: Die «Wahrheit» der einen Partei nur daran festzumachen, dass sie praktisch vom gesamten wissenschaftlichen Establishment geteilt wird, ist immer falsch. Wenn Al Gore mit Blick auf die Klimaforschung sagt «Die Debatte ist vorbei», ist das Unfug.

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    Autor

    Marcel Hänggi, ​Zürich
    wissenschaftlicher Mitarbeiter Verein Klimaschutz Schweiz (Gletscher-Initiative)
    Journalist | Buchautor
    ​dipl. Gymnasiallehrer


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