Aber diese Wahrnehmung ist falsch. Wer wie Sinn über sein Schlusskapitel das Motto setzt «Für Martin Luther als Dank für den Apfelbaum», der weiss, worum es geht: Luthers Apfelbaum war ein Trost gegen den Weltuntergang.
Das Öl im Boden lassen
Dass Sinn missverstanden wird, mag nur spiegelbildlich dafür stehen, dass auch er seine GegnerInnen nicht sehr präzis wahrnimmt: Ist doch, was er «grüne Politik» nennt, keineswegs «grün» in parteipolitischem Sinn, sondern Mehrheitsmeinung von Grün bis CDU, von Nicolas Sarkozy bis Barack Obama. Man mag darüber hinweglesen wie auch über seine wirtschaftsliberalen Glaubenssätze samt dazugehöriger Wortwahl, und man mag feststellen, dass Sinn im Kapitel zur Atomkraft seine eigenen Hauptargumente ignoriert - er müsste sonst keine «Stromlücke» befürchten. Doch ungeachtet all dessen findet man interessante Aussagen, die so plausibel und fast schon trivial sind, dass man sich (einmal mehr) die Augen reibt darob, dass das nicht Allgemeingut ist.
Nämlich: Öl, Gas und Kohle, die aus dem Boden geholt werden, werden auch verbrannt. Deshalb muss jede Klimapolitik daran gemessen werden, ob es ihr gelingt, dass weniger davon aus dem Boden geholt wird. Klimapolitik «kann nur versuchen, das Tempo, in dem die fossilen Brennstoffe abgebaut werden, zu beeinflussen (...). Eine andere Wahl hat sie nicht.» Mit anderen Worten: Es geht darum, das Angebot zu verknappen. Aber das Angebot, so Sinn, geht vergessen - in der Politik wie in der Wissenschaft. Alle Massnahmen zielen darauf ab, die Nachfrage zu senken, indem sie zum Beispiel aufwendig die Energieeffizienz zu steigern suchen oder erneuerbare Energien via Einspeisevergütung selbst in Zeiten fördern, in denen der Markt übersättigt ist. Die KlimapolitikerInnen vergessen, dass eine punktuelle Senkung der Nachfrage dazu führt, dass das gesparte Öl trotzdem auf den Markt kommt - und zusätzlich, einfach woanders, verbraucht wird. LobbyistInnen von Sonnen- und Windkraft lesen das nicht gerne.
Für ein Kioto ohne Löcher
Laut Sinn führen Sparanstrengungen in einem Teil der Welt sogar zu einem Mehrverbrauch insgesamt - weil die RessourcenbesitzerInnen aus Angst vor schärferen, die Preise drückenden Massnahmen ihre Ressourcen schneller abbauen, als sie das sonst tun würden. Andere ÖkonomInnen widersprechen ihm zwar mit dem Argument, dass Einsparungen der einen nur teilweise durch den Mehrkonsum der anderen obsolet gemacht würden. Aber seis drum: Die Politik pflegt jegliche Kompensation der Sparanstrengungen zu ignorieren.
Für Sinn gibt es nur einen Weg: ein weltumspannendes Nachfragekartell - also ein Kioto-Abkommen für die ganze Welt und ohne Schlupflöcher, eine faktische Teilenteignung der RessourcenbesitzerInnen durch die Uno. Das sei zwar letztlich «ein Stück Kommunismus», mit all den Risiken von Machtmissbrauch, Schwarzmarktbildung und so weiter - aber, sagt der Neoliberale Sinn: «Es könnte sein, dass der Menschheit nichts anderes übrig bleibt.»
Mehr noch: Als einzige zusätzliche Strategie empfiehlt Sinn eine weltweit koordinierte, an der Quelle zu erfassende Kapitalgewinnsteuer, die es für die RessourcenbesitzerInnen weniger attraktiv macht, ihre Vorräte rasch abzubauen und die Gewinne anzulegen. Als Nebeneffekt würde eine solche Steuer die Steueroasen austrocknen. So was schlägt sonst nur Attac vor.
Marcel Hänggi