Es gab aber nicht nur diese auf Partikularismus und Exklusion abzielende Rolle der Geschichtswissenschaft. Während der dreijährigen Belagerung fanden in Sarajevo historische Tagungen wie die genannte über das Judentum statt, an denen die Gemeinsamkeiten aller BosnierInnen betont wurden – eine Art geistigen Widerstands gegen die Belagerer. Die Geschichtswissenschaft reflektierte ihre eigene Rolle. «Die intellektuelle Atmosphäre während der Belagerung war grossartig», sagt der Mediävist Dubravko Lovrenovic.
Der Schaden des Kriegs war zuallererst ein materieller. Rund fünfzig Prozent der Archivmaterialien wurden laut Schätzungen zerstört oder geraubt. Davon betroffen ist insbesondere die Periode der türkischen Herrschaft (15. bis 19. Jahrhundert). Bereits in den ersten Kriegswochen wurde das Orientalische Institut in Brand geschossen – das einst führende Institut kann heute nur noch Kopien verwalten. Ebenso zerstört wurde die Nationalbibliothek. Auch sie wurde Opfer gezielter Angriffe der serbischen Belagerer auf das kulturelle Erbe der Stadt.
Der Krieg ist vorbei, und es ist eine weitere grausame Ironie der Geschichte , dass von der intellektuellen Atmosphäre zur Besatzungszeit wenig übrig geblieben ist. Heute, so sind sich führende Bosnien-Historiker einig, ist die Geschichtswissenschaft in drei nationale Versionen gespalten. Dzevad Juzbasic spricht von einem «ethnonationalistischen Autismus». «Wir nichtnationalistischen Historiker werden heute von unseren Kollegen angegriffen», sagt Lovrenovic. «Auch einige Professoren der Sarajevoer Universität stehen dem Mythos der Bogumilen-Abstammung sehr nahe.» Im Krieg habe die Hoffnung gelebt, das Zusammenleben würde nach Friedensschluss weitergehen. Sie hat sich nicht erfüllt.
HistorikerInnen, die vor dem Krieg der offiziellen sozialistischen Ideologie zugedient hätten, seien leicht zu DienerInnen der neuen Ideologien geworden, sagt Lovrenovic. Der Übergang zur nachkommunistischen Zeit habe in der bosnischen universitären Geschichtsschreibung noch nicht stattgefunden. Geschichte heisst in den Lehrplänen nach wie vor politische und Militärgeschichte – auch wenn jüngere Dozenten sich bemühen, modernere Ansätze wie Alltags- oder Wirtschafts- und Sozialgeschichte einzubringen.
Erinnert man sich etwa an die Diskussionen zum «700-Jahr»-Jubiläum der Schweiz 1991, sieht man deutlich, wie hartnäckig historische Mythen selbst in Friedenszeiten sind. Gegen die nationalistischen Sichtweisen haben die aufgeschlosseneren unter den bosnischen HistorikerInnen wenig Macht. Solange die politische Situation des Landes nicht ändert, sind sie chancenlos.
Literatur: Dzevad Juzbasic: «Die Geschichtsschreibung in Bosnien-Herzegowina im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts», in: Klio ohne Fesseln? Österreichische Osthefte Nr. 1-2/2000, Seiten 421-433.
Marcel Hänggi