Für eine Woche bin ich, Nichtbiologe, Gast in der «Fliegenwelt». Wie lebt es sich mit der Fliege? Auf jeden Fall setzt dieses Leben zwei Eigenschaften voraus; die eine teilt der Journalist mit den ForscherInnen, die andere nicht. Die eine heisst Neugier, die andere Geduld.
Als Erstes werde ich angeleitet, eine Polymerase-Kettenreaktion zur Vervielfältigung von Fliegen-DNA (Erbsubstanz) und eine Elektrophorese zur Analyse derselben durchzuführen. Ein Standardverfahren, das etwa in der Forensik oder bei Vaterschaftstests routinemässig zum Einsatz kommt. Die erste Anweisung lautet: «Zerquetsche die Fliege. Du kannst dazu die Pipettenspitze benützen.» Aus zerquetschten Fliegen Erkenntnis gewinnen: Das ist für molekularbiologische Forschung durchaus typisch. Für präzise Fragestellungen werden mitunter krude Methoden verwendet. Ein wichtiges Beispiel: Bestimmte DNA-Abschnitte, so genannte P-Elemente, haben die Eigenschaft, im Genom zu «springen». Grob gesagt, schleusen WissenschaftlerInnen P-Elemente in die Fliegen-DNA ein. Springt ein P-Element zufällig in ein Gen (nur der kleinere Teil der DNA besteht aus Genen), so wird dieses beschädigt. Die Fliegen, die aus Keimzellen mit dem beschädigten Gen hervorgehen, haben beispielsweise verkrüppelte Flügel. Das beschädigte Gen muss in dem Fall an der Flügelbildung beteiligt sein.
Ein Prozent Überblick
Die Wissenschaftssoziologin Karin Knorr Cetina, die die Arbeit am MPIbpC jahrelang begleitet hat, verwendet die Begriffe «blinde Variation und Selektion»: Man verändert die Versuchsanordnung ziemlich zufällig und wählt dann die Versuche aus, die Erfolge zeitigen. Ein Postdoktorand (neun Jahre Fliegenforschung) witzelt: «Wir betreten einen dunklen Raum mit einem Hammer, schlagen wild um uns, drehen dann das Licht an und schauen, was herausgekommen ist.»
Da das Fruchtfliegengenom seit fünf Jahren vollständig entschlüsselt ist und diese Daten im Internet zugänglich sind, lässt sich die Beziehung einer Mutation zu einem bestimmten Gen relativ leicht erkennen. Auf diese Weise hofft man, Mechanismen der Genetik zu erkennen.
10 000 wissenschaftliche Artikel werden jährlich zur Fruchtfliege publiziert. Wenn ein Forscher pro Woche zwei Artikel liest, kann er also ein Prozent des Outputs der Drosophila-Forschung überblicken. In Göttingen interessiert die Entwicklungsbiologie der Fliege. Die WissenschaftlerInnen hantieren nicht nur mit Fliegen, sondern auch mit deren Embryonen. Durch chemische Reaktionen können Muster der Zelldifferenzierung im Embryo sichtbar gemacht werden: mein zweites Experiment. Mit Präzisionspipetten gebe ich nacheinander verschiedene Lösungen zu den Embryonen, sauge die Lösungen nach einer bestimmten Zeit wieder ab – wobei möglichst wenige der staubkorngrossen Embryonen mitgesaugt werden sollten. Zwischen den Arbeitsschritten muss man warten, mal ein paar Minuten, mal eine halbe Stunde. Forschung ist langweilig.
Und Forschung ist spannend, wenn man es ertragen kann, monatelang auf die Resultate zu warten und immer mit dem Scheitern zu rechnen. Man weiss heute, dass man weniger weiss, als man noch vor kurzem zu wissen glaubte.
Bis vor wenigen Jahren nannte man diejenigen Abschnitte der DNA (beim Menschen sind das 98 Prozent seines Genoms), die keine Gene bilden, «Junk-DNA» (Schrott-DNA). Dahinter verbarg sich die Idee, dass alle Erbinformation in den Genen enthalten sei. Ausdruck dieses Denkens ist eine Metaphorik, die noch heute dominiert: die DNA als «Buch des Lebens», das «gelesen» werden muss; die Gene als «Wörter», die Proteine «codieren». Dass der Informationsfluss in der Zelle ausschliesslich vom Gen zum Protein laufe, war als «zentrales Dogma» der Molekularbiologie bekannt.
Dogmen verworfen
Unterdessen ist offensichtlich, was jahrelang eine Aussenseiterposition war: So einfach ist es nicht. Niemand glaubt heute mehr, dass die «Junk-DNA» ausschliesslich Schrott sei – wenn auch ein Grossteil davon für den Organismus offensichtlich entbehrlich ist. Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms wurden viel weniger Gene gezählt als erwartet. Die Zahl hängt davon ab, wie man «Gen» definiert; einige Wissenschaftler in Göttingen sprechen von 40 000 menschlichen Genen, andere von maximal 25 000. So oder so: Dass in so wenig Genen nicht alle Information steckt, die einen Organismus definiert, ist keine Aussenseitermeinung mehr. Ein Gen kann verschieden «gelesen» werden; den Weltrekord hält ein Fliegen-Gen, das auf 38 000 verschiedene Arten in RNA (eine «Boten»-Substanz) und schliesslich in Protein «übersetzt» werden kann. In welcher Form die Information, wie ein Gen zu «lesen» sei, gespeichert ist, ist noch wenig erforscht.
Zur Illustration der Tatsache, dass heute in der Biologie selbst scheinbar absolute Gewissheiten wanken, weist mich ein Wissenschaftler auf die Nature-Ausgabe vom 23. März 2005 hin: Experimente mit der Ackerschmalwand haben gezeigt, dass diese Pflanze Eigenschaften ihrer Eltern weitervererben kann, die sie selber laut Theorie gar nicht geerbt haben dürfte. «Kraut stürzt Schulbuchgenetik um», kommentierte Nature. Die Molekularbiologie entwickelt sich in einer Weise, die für Dogmen keinen Platz lässt, und einigermassen erstaunt nehme ich die Antwort zweier Wissenschaftler auf meine Frage zur Kenntnis, ob es denn noch sinnvoll sei, den Begriff «Gen» zu verwenden: Nun, sagen sie unabhängig voneinander, eigentlich stifte der Begriff mehr Verwirrung, als er Klarheit schaffe. Darauf verzichten könne man mangels Alternative freilich (noch) nicht.
Fettpillen
Die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) besitzt eine Tochterfirma für Technologietransfer. Ergeben sich aus der Forschung Anwendungen, sei man offen, heisst es; Einnahmen aus Lizenzgebühren tragen rund fünf Prozent zum MPG-Budget bei. Doch Anwendungen sind nicht das Ziel: Die MPG betreibt Grundlagenforschung.
Das Institut liegt oberhalb von Göttingen, beim Dorf Nikolausberg, im Grünen. Wald, Pferdeweiden, bei Sommerwetter der Kinderlärm vom öffentlichen Schwimmbad. Eines Morgens spaziere ich am Schulhaus vorbei. Mehr als die Hälfte der Kinder wird mit dem Auto zur Schule gebracht; keines hat einen Schulweg von mehr als einem Kilometer. An diesem Tag stellt der Direktor der Fliegenabteilung ein Projekt vor, das Gene erforscht, die die Fettspeicherung regeln. Er zeigt in seiner Powerpoint-Präsentation ein Spiegel-Titelblatt mit übergewichtigen Kindern: Vielleicht würden sich die Erkenntnisse über die Fliegenfettgene eines Tages dazu nutzen lassen, ein Medikament gegen Fettleibigkeit zu entwickeln.
Hat nicht meine Beobachtung vor dem Schulhaus mit Fettleibigkeit mehr zu tun als Gene? Natürlich, sagen die ForscherInnen, man wolle ja auch nicht ein Medikament entwickeln, sondern Grundlagenforschung betreiben, und auf die Fettgene sei man eher zufällig gestossen. Aber man stehe eben unter dem Druck, die eigene Arbeit immer wieder zu rechtfertigen.
Die reine, vollkommen freie Grundlagenforschung gibt es auch hier nicht.
Prekäre Arbeitsplätze
Die Mitarbeitenden am Institut befinden sich in allen Stadien der akademischen Karriere – Abstellgleis inbegriffen. Die meisten haben Zeitarbeitsverträge. Läuft der Vertrag aus, sucht man sich eine Stelle für die nächste Karrierestufe. Kommt ein neuer Direktor ans Institut, wechselt er in der Regel einen Grossteil der Belegschaft seiner Abteilung aus und bringt seine eigenen Leute und seinen eigenen Forschungsschwerpunkt mit. Der Direktor (selten: die Direktorin) steht im Zentrum der Macht, um ihn ist die Abteilung aufgebaut.
Etwa bis vierzig arbeitet man in der Regel in eher prekären Arbeitsverhältnissen an der eigenen Karriere – Doktorat, Postdocs, Habilitation –, bis man entweder rausfällt oder sich mit einer eigenen Professur, einer eigenen Forschungsgruppe im akademischen Betrieb etabliert. Wer zu wenig publiziert, zu wenig Glück hat – und einige sagen: wer seine Chefs zu wenig hofiert – und nicht rechtzeitig in die Industrie wechselt, riskiert, hoch qualifiziert als besserer Laborgehilfe, als bessere Laborgehilfin zu enden.
Der Konkurrenzdruck findet auf allen Ebenen statt. Am Institut zwischen den einzelnen WissenschaftlerInnen. Zwischen den Forschungsinstitutionen. Zwischen Staaten. Bei der Entschlüsselung des Drosophila-Genoms bestand ein Gentlemen's Agreement zwischen der EU und den USA: Beide sollten ihren Anteil dazu beitragen dürfen. Als aber in den USA mit Celera ein privates Forschungsinstitut auftauchte, das viel schneller arbeitete, hielten sich die AmerikanerInnen nicht mehr an die Abmachungen. Dass sich die EuropäerInnen doch noch mit einem kleinen Beitrag an der Publikation der Ergebnisse beteiligen durften, war Resultat von Verhandlungen.
Verhandeln ist Teil des Wissenschaftsalltags. «Der Direktor hängt die halbe Zeit am Telefon», sagt ein Wissenschaftler. Erfährt man, dass woanders auf der Welt am gleichen Problem geforscht wird, gibt es zwei Möglichkeiten: Man macht auf Konkurrenz und hofft, schneller zu sein. Eine Doktorandin aus Frankreich wurde im Laufe ihrer Doktorarbeit zweimal von japanischen Teams überholt; jetzt verabschiedet sie sich nach dem Abendessen und geht noch einmal ins Labor, um schnell genug zu sein, dass ihr das nicht ein drittes Mal passiert. (Dass die Mitarbeitenden ihre Ferien nur teilweise beziehen, ist hier sowieso normal.)
Oder man schlägt den KonkurrentInnen eine Kooperation vor. Die Abteilung für molekulare Entwicklungsbiologie in Göttingen arbeitet beispielsweise mit dem Basler Biozentrum zusammen. In einem solchen Fall rät es sich, schon zu Beginn der Zusammenarbeit auszuhandeln, wessen Name an welcher Stelle unter der Publikation stehen wird. Ansonsten ist Streit programmiert.
Diese Konkurrenz steht im Widerspruch zum Wissenschaftsethos, wonach alle Information allen Interessierten offen stehen sollte. So ist es eine ungeschriebene Regel, dass andere Labors, die um Fliegen einer bestimmten Zuchtlinie anfragen, diese auch erhalten. In der Realität kommt es aber vor, dass angeblich die zuständige Person gerade in den Ferien weilt ... Durch Verzögerung wird versucht, die Konkurrenz zu bremsen (laut einer Umfrage, die 2002 im Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde, hatten 47 Prozent aller befragten GenforscherInnen mindestens einmal erlebt, dass ihnen von anderen ForscherInnen Informationen oder Material vorenthalten wurde).
Einige der älteren ForscherInnen betrachten die Entwicklung der Molekularbiologie mit Argwohn. Bei der immer stärkeren Fokussierung auf winzige Teilaspekte, sagt ein bald pensionierter Biologe, gehe leicht der Blick für das Ganze verloren. Ein methodischer Reduktionismus habe sich als sehr leistungsfähig erwiesen, aber wenn es ausschliesslich bei der reduktionistischen Sicht bleibe, sei das problematisch. Als Beispiel erwähnt er die Arbeit der Abteilung für theoretische und computergestützte Biophysik. Sie simuliert mit enormem Rechenaufwand molekulare Prozesse in den Zellen, genauer: die Interaktion einer Handvoll Moleküle für Sekundenbruchteile. Es sei unwahrscheinlich, dass sich so jemals Prozesse auf der Ebene ganzer Zellen simulieren liessen.
Die Menschen, deren Beruf es ist, das Genom zu erforschen, indem sie es manipulieren, die tagein, tagaus mit gentechnisch manipulierten Fliegen arbeiten, sind auch den Anwendungen ihrer Wissenschaft gegenüber keineswegs unkritisch. Zu gentechnisch veränderten Nutzpflanzen etwa findet sich am Institut die ganze Bandbreite der Meinungen. Die einen glauben, Wissenschaft lasse sich nie aufhalten und die Fortschritte der Wissenschaft würden eines Tages auch die Probleme lösen, die heute noch bestünden. Andere halten eine Freisetzung gentechnisch manipulierter Pflanzen für verantwortungslos, gerade weil sie so viel über Molekularbiologie wissen – weil sie wissen, wie viel man noch nicht weiss. Was wirklich geschehe, wenn ein Gen künstlich in eine fremde Umgebung eingepflanzt und die so entstandene Pflanze in ein Ökosystem ausgesetzt werde, sei einfach noch nicht bekannt.
Tamagotchi-Zärtlichkeit
Die Fliegenforscher sind speziell gewarnt, weil sie wissen, wie schnell sich neue Gene zumindest im Tierreich über die ganze Welt verbreiten können: 1930 tauchte in den USA erstmals eine Mutation im Genom der Drosophila melanogaster auf (das P-Element, das heute für die Forschung so fruchtbar ist). Ihre Herkunft ist unbekannt, man vermutet einen «horizontalen Gentransfer» von einer anderen Fruchtfliegenart. Die Mutation verbreitete sich in 75 Jahren fast über die ganze Welt. Lediglich in Australien gibt es noch eine Population, die diese Mutation nicht aufweist – sowie in den Labors: Die Laborfliegen stammen aus Inzuchtlinien, die älter sind als 75 Jahre.
Im Verlauf meines Aufenthalts töte ich nicht nur viele Fliegen, sondern trenne auch mit feinen Nadeln unter dem Mikroskop die Eierstöcke einer lebenden Fliege aus ihrem Hinterkörper heraus. Nun haben die wenigsten Menschen Skrupel beim Töten von Insekten, doch wenn man sein Leben «der Fliege» widmet, ist das Verhältnis ein besonderes. Der Postdoktorand, der mich bei der Operation am lebenden Objekt anleitet, glaubt, Fliegen kennten keinen Schmerz. Er glaubt das, weil Fliegen keinen Vermeidungsreflex hätten – während wir, wenn wir uns die Hand verbrennen, diese sofort zurückziehen. Aber er weiss, dass er es nicht wissen kann.
Die Tierchen werden gezüchtet, gefüttert, gehegt; vom gemeinsamen Nachtessen verabschieden sich einzelne ForscherInnen mit der Bemerkung «Ich muss noch rasch nach meinen Fliegen schauen». Die Fliege ist ein Modellorganismus und ein Experimentalsystem, aber auch ein Gegenstand von Zärtlichkeit seitens der ForscherInnen – einer Tamagotchi-Zärtlichkeit.
Marcel Hänggi
Der Aufenthalt am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie wurde organisiert und finanziert von der European Initiative for the Communicators of Science, www.eicos.mpg.de