Worum es geht: Das Astra hat einen Berichtentwurf in die Vernehmlassung geschickt, bevor eine eigentliche Strategie oder ein Gesetzesentwurf vorliegt und die Sache politisch spruchreif ist – was eher unüblich und wohl Ausdruck einer gewissen Unsicherheit ist. Es geht immerhin um einen Paradigmenwechsel, denn die grundsätzliche Gebührenfreiheit von Strassen hat Verfassungsrang.
Mobility Pricing ist eine Weiterentwicklung einfacher Strassengebühren, wie sie beispielsweise von London und anderen Städten bekannt sind, wo AutofahrerInnen zahlen müssen, um in die Innenstadt zu fahren. Verkehrsaufkommen und Stauzeiten konnten durch diese «Staugebühr» deutlich reduziert werden.
Das Mobility Pricing, wie es dem Astra vorschwebt, will aber anderes: Das Verkehrsaufkommen (im privaten wie im öffentlichen Verkehr) soll explizit nicht reduziert werden. Es sollen lediglich Verkehrsspitzen gebrochen, der Verkehr zeitlich besser verteilt und die Kapazitäten somit besser genutzt werden. Das will man durch ausgeklügelt abgestufte Tarife erreichen, so dass das Befahren beliebter Strecken zu attraktiven Zeiten teurer wird. Insgesamt soll Mobility Pricing den Verkehr aber nicht verteuern, sondern andere Abgaben wie etwa die Mineralölsteuer ablösen.
Scheindilemma
Der Streit um Mobility Pricing ist in der Wahrnehmung fast aller Beteiligten Ausdruck eines Dilemmas: Alle stören sich an den negativen Folgen der Verkehrszunahme, aber niemand will sich seine Mobilität einschränken lassen. Mobility Pricing bietet sich da als marktwirtschaftliches Instrument an.
Es handelt sich in dieser Sichtweise um das, was ÖkonomInnen als «Tragik der Allmende» bezeichnen: Der Strassenraum (beim Schienenverkehr ist es ein wenig komplizierter) ist ein Gemeingut (eine Allmende), also etwas, das allen gehört. Wird ein Gemeingut übernutzt, büsst es an Wert ein. Beim Gemeingut Strasse geschieht das, indem die Strassen verstopfen und man weniger schnell voran kommt. Die Antwort der orthodoxen Ökonomie auf eine solche Situationbesteht darin, den Gemeingutcharakter des Gemeinguts aufzuheben, indem man das Recht, es zu nutzen – das Recht, das bis anhin allen gratis zustand – stückweise verkauft. Die Tarife des Mobility Pricing sind der Preis für das Recht, den öffentlichen Raum zu einer bestimmten Zeit auf einem bestimmten Abschnitt zu beanspruchen.
Allein: Das Ganze basiert auf einer falschen Analyse, und falsch ist die Analyse in ihrem Kern. Denn fast alle, selbst viele VerkehrswissenschafterInnen, verwechseln die beiden zentralen Begriffe. Der Bericht des Astra tut es ständig: Er schreibt von «Mobilität» und «Mobilitätsnachfrage», wo er Verkehr meint. Das kann aber nicht das selbe sein, wie eine einfache Überlegung zeigt: Zwingt eine Baustelle die VerkehrsteilnehmerInnen zu einem Umweg, nimmt der Verkehr, gemessen in zurückgelegten Kilometern, zu. Aber nur ein Tor würde behaupten, eine Baustelle mache die Leute mobiler! Hat man verstanden, dass Verkehr und Mobilität nicht das selbe sind, wird das Dilemma zum Scheindilemma: Dann kann man nämlich das eine reduzieren und gleichzeitig das andere mehren.
Verkehr frisst Mobilität
Aber was ist denn Mobilität? Sie liesse sich sinnvoll definieren als die Fähigkeit, seine Bedürfnisse nach Ortswechsel (zur Arbeit oder Schule, zu FreundInnen, zum Einkauf…) zu befriedigen. (Rechnet man auch die Bewegung um ihrer selbst willen zur Mobilität, wird die Aussage, die Menschen würden stets mobiler, nur umso absurder. Nie litten so viele Menschen unter Krankheiten und Defiziten, die durch Bewegungsmangel begünstigt werden!)
Eine so definierte Mobilität hat zwei Seiten. Die eine ist die Raumstruktur: Sind die Wege kurz, kann ich mit wenig Verkehr sehr mobil sein. Die andere Seite ist der Verkehr: Bei gleichbleibenden Weglängen machen mich schnellere Verkehrswege mobiler.
Aber die Weglängen bleiben eben nicht gleich, wenn der Verkehr schneller wird. Sie werden genau proportional länger – das zeigt die Erfahrung, das zeigen alle empirischen Studien, immer und immer wieder. Jeder Ausbau der Verkehrskapazitäten zwingt in gewissem Masse dazu, sie auch zu benützen: Die Leute ziehen weiter weg vom Arbeitsplatz, freiwillig oder weil sie sich die steigenden Wohnkosten an gut erschlossenen Lagen nicht mehr leisten können. Der Quartierladen ist nicht mehr konkurrenzfähig und muss schliessen, so dass auch die, die das nicht wollen, im entfernteren Supermarkt einkaufen müssen. Die bessere Strasse ermöglicht dem Gewerbler, in weiterem Umkreis Aufträge anzunehmen – aber er muss auch gegen Konkurrenz aus einem weiteren Umkreis bestehen – und so weiter. Am Ende ist man auf immer längeren Strecken immer schneller immer gleich lang unterwegs, um die gleichen Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen: Die Mobilität stagniert, der Verkehr wächst. Und je mehr sich die durchschnittliche Geschwindigkeit von der Gehgeschwindigkeit entfernt, desto mehr wird immobilisiert, wer gewisse schnelle Verkehrsmittel, aus welchen Gründen auch immer, nicht nutzen kann. Man kann die Mobilität nicht auf der Verkehrsseite der Medaille zu erhöhen versuchen, ohne gleichzeitig die Wegseite der Medaille zu schädigen.
Hat man das erkannt, stellt sich die Sache etwas anders dar: Das wirkliche Gemeingut sind die kurzen Wege, und die Übernutzung äussert sich nicht in verstopften Strassen – ein minderes Problem –, sondern in der Erosion mobilitätsfreundlicher Raumstrukturen. Urheberin dieser Erosion ist letztlich der Staat, der Strassen baut (und seine Transportunternehmen, die das Angebot ausbauen). Er müsste sich selber zur Kasse bitten. Statt dessen versucht er, mit Gebühren seinen EinwohnerInnen das Herumfahren zu verleiden, nachdem er sie zu mehr Verkehr gezwungen hat, indem er ihre Wege verlängerte.
Das wahre Gemeingut
Noch eine Ironie liegt in der Sache: Das «marktwirtschaftliche» Instrument des Mobility Pricing beruht im Grunde auf Marktmisstrauen. Denn das Verkehrssystem funktioniert von sich aus wie ein ziemlich idealer Markt: Übertrifft die Nachfrage das Angebot, steigen die Preise – bloss dass man die Preise auf diesem Markt in Zeit statt Geld zahlt. Stau ist nichts anderes als ein hoher Preis für ein stark nachgefragtes Gut. Der Mobility-Pricing-Bericht des Astra stellt fest, dass die Bereitschaft, auf Randzeiten auszuweichen, unter den Verkehrsteilnehmern gering sei, selbst wenn sie dadurch Zeit sparen könnten. Nun, dann ist es eben noch nicht teuer (also langsam) genug.
Und das weist den Weg zur Lösung: Verkehr muss teurer werden in der Währung Zeit – also langsamer. Eine Verlangsamung bewirkt eine Verkürzung der Wege, also eine Stärkung des Gemeinguts: Verkehr nimmt ab, Mobilität nimmt zu, und insbesondere die schwächsten Verkehrsteilnehmer – die zu Fuss gehenden – bleiben nicht länger aussen vor.
Das wäre sozial; Mobility Pricing ist es nicht. Denn heute zahlen alle mit der selben Währung. Mit Mobility Pricing hingegen kann der Reiche mit Geld zahlen und Zeit sparen, während die Arme weiterhin mit Zeit zahlt – respektive in unattraktive Randzeiten verdrängt wird. Doch «jenseits einer kritischen Geschwindigkeit», hat der Philosoph Ivan Illich geschrieben, «kann niemand Zeit ‹sparen›, ohne dass er einen anderen zwingt, Zeit zu ‹verlieren›. Derjenige, der einen Platz in einem schnelleren Fahrzeug beansprucht, behauptet damit, seine Zeit sei wertvoller als die Zeit dessen, der in einem langsameren Fahrzeug reist.»
Das ist es, was Mobility Pricing unsozial macht.