Marcel Hänggi
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Inspiration aus Tschuggerland

26/2/2024

 
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Am 3. März stimmt das Wallis über eine neue Verfassung ab. Sagen die Stimm­berechtigten Ja, senden sie ein Signal des Fort­schritts an die «Üsserschwiiz». – Republik vom 26. Februar 2024


Es wäre übertrieben, zu behaupten, das Wallis sei ein Kanton, der politisch besonders ernst genommen wird. Die «Üsserschwiiz» amüsiert sich über die TV-Serie «Tschugger», bereit, dem Helden Bax, der noch jedes Gesetz bricht, all seine Fehltritte nachzusehen. Schliesslich hat er das Herz am rechten Fleck. Und die Walliser gefallen sich durchaus in dem Selbst­verständnis, das «Tschugger» karikiert.
Nun soll der Kanton eine neue Verfassung erhalten; am 3. März wird darüber abgestimmt. Sagt das Wallis Ja, lässt es «den Rest der Schweiz alt aussehen», wie es die Republik schon vor zwei Jahren in einer grossen Reportage formulierte.

Mindestens drei Dinge sind bei diesem Projekt bemerkenswert:

Erstens, dass im so konservativen Bergkanton eine so moderne Verfassung zur Debatte steht.

Zweitens, dass der Rest der Schweizer Öffentlichkeit kaum Notiz davon nimmt. Berichten die Deutsch­schweizer Medien (zum Beispiel SRF oder die «NZZ am Sonntag»), tun sie es eher mit dem verwunderten Blick auf ein Volk mit exotischen Eigenheiten als mit Interesse für den Inhalt der neuen Verfassung.

Drittens, worüber gestritten wird. Nämlich kaum über das, was die neue Verfassung so modern macht, sondern vor allem über formale Fragen: die Neueinteilung der Bezirke, die Neuverteilung der Grossrats­sitze, die Zahl der Mitglieder des Staatsrats (Regierung), die Wählbarkeit von Staats­angestellten in den Grossrat – und die Kosten.

Die Punkte zwei und drei hängen zusammen, denn die formalen Neuerungen führen dazu, dass das Oberwallis im Parlament zwei Sitze verlieren wird, weil die Sitzzahl anders berechnet wird. Längerfristig sind es vielleicht noch mehr, weil die Bevölkerung hier langsamer wächst als im Unterwallis. In der Regierung hat das Oberwallis wie bisher einen Sitz garantiert – aber das wird nur noch einer von sieben sein statt wie heute einer von fünf.

Man fürchtet um den Einfluss – obwohl das Oberwallis heute tendenziell übervertreten ist: Mit einem Viertel der Kantons­bevölkerung stellt es zwei von fünf Staatsräten, zwei von acht Nationalräten und eines von zwei Mitgliedern im Ständerat. (Wobei, wenn hier von Ungleich­gewichten die Rede ist, auch gesagt werden muss, dass von den 15 Walliser Mitgliedern dieser drei politischen Gremien 14 männlich sind.)

Entsprechend laut ist der Widerstand. Die Kantons­regierung ist schon einmal gespalten: Als Gremium hat sie beschlossen, nicht Stellung zu beziehen. Die beiden Oberwalliser Staatsräte Franz Ruppen (SVP) und Roberto Schmidt (Neo – Die sozialliberale Mitte) bekämpfen die Verfassung gleichwohl aktiv – was prompt eine Stimmrechts­beschwerde von Befürworterinnen der Verfassung provoziert hat. Der mächtige «Walliser Bote» schiesst heftig gegen die Verfassung, während der «Nouvelliste» mit Sympathie berichtet. Ob der Widerstand so gross ist wie laut, wird sich am 3. März zeigen.

Bezahlbare Kinder­betreuung und einfache Einbürgerung

Aber was den Text, den ein Verfassungs­rat in viereinhalb Jahren erarbeitet hat, für die Restschweiz interessant macht, ist anderes.

Die neue Verfassung sieht Rechte vor
  • für Kinder und ältere Menschen;
  • auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit;
  • auf eine kantonale Elternzeit (solange keine solche auf nationaler Ebene besteht);
  • auf eine Kinderbetreuung, die «für alle bezahlbar» ist;
  • auf «einheitliche, einfache und rasche Einbürgerungs­verfahren».
Fördern soll der Kanton
  • «jede Form von Solidarität»;
  • «eine ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern in der Politik und in Führungs­positionen von öffentlichen Verwaltungen und Unternehmen»;
  • «die Entwicklungs­zusammenarbeit und den fairen Handel».
Die Verfassung schreibt auch die neuen direkt­demokratischen Instrumente der Gesetzes­initiative und der Volksmotion fest. Ein Ausländer­stimmrecht wird optional vorgeschlagen; darüber wird am 3. März gesondert abgestimmt.

Besonders interessant sind auch die Bereiche Digitales und Umwelt. 

So sieht die Verfassung ein «Recht auf digitale Integrität und Identität» vor und die digitalen Aktivitäten von Kindern sollen «nicht im Interesse Dritter ausgenutzt werden» dürfen. Letzteres könnte «insbesondere im schulischen Rahmen» wirken. Es gehe darum, ein «Zeichen zu setzen», das auch «als Inspiration für den Bundes­gesetzgeber dienen» könne, schreibt der Verfassungsrat. Hier ist das Wallis Pionierkanton – wobei Genf die Walliserinnen und Walliser überholt und, von ihnen inspiriert, am 18. Juni 2023 einen Verfassungsartikel über das «Recht auf digitale Integrität» angenommen hat.

Vorgesehen ist ebenso ein Grundrecht auf eine gesunde Umwelt (das kennt sonst nur der Kanton Genf). Angestrebt werden die Klima­neutralität und die Stärkung der Biodiversität sowie eine «angemessene Mobilität» oder eine «differenzierte und solidarische Raumplanung, die es ermöglicht, den Lebensraum, die Umwelt und die natürlichen Ressourcen aufzuwerten und zu erhalten».

Einen Nachhaltigkeits­artikel kennt zwar fast jede der jüngeren Verfassungen – aber was heisst dieser inflationäre Begriff schon? Die neue Walliser Verfassung wird da konkret und verweist auf das Konzept der «planetarischen Grenzen», auf deren Einhaltung zu achten sei.

Planetare Grenzen? Das ist das Konzept aus der Umwelt­forschung, das die Umwelt­verantwortungs­initiative der Jungen Grünen auf eidgenössischer Ebene verankern will. Die Volks­initiative wird es schwer haben; im Wallis hat es der vom Volk gewählte Verfassungsrat schon beschlossen.

Und kaum jemand diskutiert darüber.

Wie schlank muss eine Verfassung sein?

Gibt es Kritik am Inhalt, dann eher in pauschaler Form: Überladen sei die Verfassung, 190 Artikel seien zu viel, die neuen Grundrechte seien nicht nötig. Eine der Kritikerinnen ist Marie-Claude Schöpfer-Pfaffen, Präsidentin der Oberwalliser Partei Neo (ehemals Christlich­soziale Volkspartei). Sie betont, sie sei nicht so konservativ wie die SVP oder Die Mitte Oberwallis und befürworte Modernisierungen, aber «nicht so. Im Verfassungsrat haben die Fraktionen ihre Steckenpferde eingebracht, ohne die Umsetzbarkeit zu beachten. Das hat die Sache aufgebläht. Wir wollen es vernünftig, schlanker und bezahlbar.»

Ist die neue Walliser Verfassung überladen? Muss beispielsweise der Schutz von Whistle­blowern in der Verfassung stehen?

Muss er nicht, sagt Pascal Mahon. Aber er könne. Der emeritierte Verfassungsrechts­professor der Universität Neuenburg hat die Kantone Neuenburg, Waadt, Genf und nun auch das Wallis bei der Erarbeitung ihrer neuen Verfassungen beraten.

Es gebe zwei Grund­konzeptionen von Verfassungen, erklärt Mahon. Kurze Verfassungen regelten vor allem die Funktion des Staats und seiner Organe. Die noch geltende Walliser Verfassung aus dem Jahr 1907 ist eine solche; die weitaus meisten ihrer 109 Artikel gelten der staatlichen Organisation. Vor allem seit der Katastrophe des National­sozialismus habe sich aber die Überzeugung verbreitet, dass Verfassungen die Bürger und den demokratischen Staat besser schützen müssten. Jüngere Verfassungen seien deshalb meist länger und gestalteten den Staat, statt ihn nur zu organisieren. Die neue Walliser Verfassung findet Mahon «angemessen» und «ziemlich innovativ».

Vincent Riesen sieht das anders. Der Direktor der Walliser Handels- und Industrie­kammer ist Vizepräsident des Unterwalliser Nein-Komitees. Auch er sagt, er sei nicht grundsätzlich gegen eine neue Verfassung. Er habe seinerzeit Unterschriften gesammelt für die Totalrevision. Aber das Resultat gefalle ihm gar nicht. Die meisten der neuen Grundrechte gebe es bereits auf eidgenössischer Ebene. «Und das, was neu ist, geht in die falsche Richtung. Grundrechte sollten für alle da sein, aber wir schaffen Partikular­rechte – für Kinder, für Alte, für Behinderte …» Seine Haupt­argumente sind die eines Wirtschafts­vertreters: aufgeblähter Staat, teure Umsetzung.

Auch mahnt Riesen, die neue Verfassung setze den Zusammenhalt des Kantons aufs Spiel. Dabei muss er über sich selber lachen: «Wir setzen uns für den Zusammenhalt ein, aber wir tun das in getrennten Komitees im Unter- und Oberwallis. Aber das ging nicht anders. Wenn wir die gleichen Argumente verwenden würden wie die Oberwalliser, würde man im Unterwallis sagen, man wolle nicht Untertanen der Oberwalliser sein – wie man es bis 1792 war.»

Tatsächlich gibt es sowohl auf der Ja- wie auf der Nein-Seite jeweils ein Unter- und ein Oberwalliser Komitee, aber während das Unterwalliser Ja-Komitee immerhin eine zweisprachige Website hat, sind die einsprachigen Websites der beiden gegnerischen Komitees (hier auf Französisch und hier auf Deutsch) nicht einmal miteinander verlinkt.

Auch die FDP ist für die neue Verfassung

Vincent Riesen ist FDP-Mitglied. Seine Partei setzt sich, anders als die Wirtschafts­verbände, für ein Ja ein. Zum Vorwurf, der Verfassungs­entwurf sei etatistisch, sagt Partei­präsident Florian Piasenta: «Die Verfassung muss doch den Staat organisieren. Es ist der Staat, der die Gesellschaft zusammenhält.»

Und wie steht die FDP beispielsweise zu einem Nachhaltigkeits­artikel, der die planetaren Grenzen festschreibt? «Sehen Sie, eine Verfassung ist ein Paket. Jeder findet darin etwas, was ihm nicht passt. Ich bin kein Freund der ‹planetaren Grenzen›. Aber 75 Prozent der neuen Verfassung sind für uns Freisinnige gut. Sie ist progressiv in einem liberalen Sinn.»

Die Fortschrittlichkeit lässt sich mit dem Prozedere erklären, wie die Verfassung entstanden ist. Als die Walliserinnen und Walliser sich 2018 mit 72,8 Prozent der Stimmen im Grundsatz für eine Verfassungsrevision aussprachen, entschieden sie auch, einen Verfassungs­rat mit der Revision zu beauftragen. Der Verfassungs­rat wurde wie das Kantons­parlament vom Volk gewählt, aber er tickte ein wenig anders.

Beispielsweise gab es neben den etablierten Parteien eine Vereinigung, die sich eigens für die Verfassungs­revision bildete, den Appel Citoyen. Für ihn sass Johan Rochel im 130-köpfigen Verfassungsrat. Am Ende des Gesprächs mit der Republik sagt der Philosoph und Mitinhaber des Zürcher Ethik-Beratungs­büros Ethix: «Das war schön, wieder einmal über Inhalte zu sprechen. Im Abstimmungs­kampf fehlt das weitgehend.»

Der Verfassungsrat hat in zehn Kommissionen beraten. Alleine die Erarbeitung des Prozesses habe sechs Monate in Anspruch genommen, sagt Rochel. Die eigentliche Arbeit am Text dauerte dann wie erwähnt vier Jahre.

Über die Grundrechte sei heftig gestritten worden, «das war fast ein wenig ein Kulturkampf», sagt Rochel. Das Recht auf eine gesunde Umwelt, das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für ältere Personen oder das Recht auf Inklusion und Integration seien sehr umstritten gewesen. Aber die Mitglieder des Verfassungs­rats hätten sich von den angehörten Expertinnen überzeugen lassen. Am Ende wurde der Text vom Verfassungsrat mit 87 zu 40 Stimmen angenommen. Es kam aber nicht alles durch, was diskutiert wurde: Rochel hätte gern auch Rechte für Tiere und andere natürliche Entitäten eingeführt – dazu hat er aus Anlass der Walliser Verfassungs­revision sogar einen wissenschaftlichen Aufsatz verfasst. Der Verfassungsrat wollte nicht.

Laut dem Verfassungs­rechtler Mahon macht es einen Unterschied, ob ein Verfassungs­rat eine neue Verfassung erarbeitet, wie es im Wallis, in der Waadt und in Genf der Fall war, oder ob das das Parlament macht wie in Neuenburg. «Verfassungs­räte wollen in der Regel gestalten und sich nicht allzu sehr dreinreden lassen.» Der Gestaltungs­wille sei grösser, das Resultat in der Regel ein innovativerer und detaillierterer Text. Parlamentarier machen sich mit einer Verfassung selber Vorschriften; Verfassungs­räte seien freier.

Exemplarisch zeigt sich das in den beiden Appenzell, die beide derzeit eine neue Verfassung ausarbeiten. In Innerrhoden hat die Regierung den Text verfasst, in Ausserrhoden eine Verfassungs­kommission. Der Innerrhoder Entwurf ist schlank (oder, je nach Position, mutlos), der Ausserrhoder progressiv – vom «Wunder von Ausserrhoden» sprach das «Magazin». Welcher Weg, eine Verfassung zu revidieren, der bessere ist, sei keine juristische, sondern eine politische Frage, sagt Mahon.

Das Wallis hat sich für den Weg entschieden, der das fortschrittlichere Resultat verspricht. Fehlt gleichwohl etwas? «Oh, plein de choses», sagt Mahon: «Die Vertretung der Interessen zukünftiger Generationen etwa oder Rechte für die Natur … Aber die neue Walliser Verfassung öffnet eine Tür.» Und das sei, auch wenn eine Kantons­verfassung nur begrenzte Reichweite habe, ein Signal: «Symbolisch ist das wichtig.»
Sollten die Walliserinnen und Walliser am 3. März Ja sagen, setzen sie ein Zeichen und beweisen, dass auch eine konservative Bevölkerung für fortschrittliche Anliegen zu gewinnen ist, wenn es um Grundsätzliches geht: ein Signal, das für die ganze Schweiz interessant wäre.
​
Dass im konkreten Alltag auch künftig eine gewisse Tschugger­haftigkeit oftmals stärker sein dürfte als die schönen Grundsätze der Verfassung – das ist eine andere Geschichte.

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    Autor

    Marcel Hänggi
    ​

    Journalist und Buchautor
    dipl. Gymnasiallehrer​
    Dr. phil. h.c.
    ​
    Zürich


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