Am 3. März stimmt das Wallis über eine neue Verfassung ab. Sagen die Stimmberechtigten Ja, senden sie ein Signal des Fortschritts an die «Üsserschwiiz». – Republik vom 26. Februar 2024 |
Mindestens drei Dinge sind bei diesem Projekt bemerkenswert:
Erstens, dass im so konservativen Bergkanton eine so moderne Verfassung zur Debatte steht.
Zweitens, dass der Rest der Schweizer Öffentlichkeit kaum Notiz davon nimmt. Berichten die Deutschschweizer Medien (zum Beispiel SRF oder die «NZZ am Sonntag»), tun sie es eher mit dem verwunderten Blick auf ein Volk mit exotischen Eigenheiten als mit Interesse für den Inhalt der neuen Verfassung.
Drittens, worüber gestritten wird. Nämlich kaum über das, was die neue Verfassung so modern macht, sondern vor allem über formale Fragen: die Neueinteilung der Bezirke, die Neuverteilung der Grossratssitze, die Zahl der Mitglieder des Staatsrats (Regierung), die Wählbarkeit von Staatsangestellten in den Grossrat – und die Kosten.
Die Punkte zwei und drei hängen zusammen, denn die formalen Neuerungen führen dazu, dass das Oberwallis im Parlament zwei Sitze verlieren wird, weil die Sitzzahl anders berechnet wird. Längerfristig sind es vielleicht noch mehr, weil die Bevölkerung hier langsamer wächst als im Unterwallis. In der Regierung hat das Oberwallis wie bisher einen Sitz garantiert – aber das wird nur noch einer von sieben sein statt wie heute einer von fünf.
Man fürchtet um den Einfluss – obwohl das Oberwallis heute tendenziell übervertreten ist: Mit einem Viertel der Kantonsbevölkerung stellt es zwei von fünf Staatsräten, zwei von acht Nationalräten und eines von zwei Mitgliedern im Ständerat. (Wobei, wenn hier von Ungleichgewichten die Rede ist, auch gesagt werden muss, dass von den 15 Walliser Mitgliedern dieser drei politischen Gremien 14 männlich sind.)
Entsprechend laut ist der Widerstand. Die Kantonsregierung ist schon einmal gespalten: Als Gremium hat sie beschlossen, nicht Stellung zu beziehen. Die beiden Oberwalliser Staatsräte Franz Ruppen (SVP) und Roberto Schmidt (Neo – Die sozialliberale Mitte) bekämpfen die Verfassung gleichwohl aktiv – was prompt eine Stimmrechtsbeschwerde von Befürworterinnen der Verfassung provoziert hat. Der mächtige «Walliser Bote» schiesst heftig gegen die Verfassung, während der «Nouvelliste» mit Sympathie berichtet. Ob der Widerstand so gross ist wie laut, wird sich am 3. März zeigen.
Bezahlbare Kinderbetreuung und einfache Einbürgerung
Aber was den Text, den ein Verfassungsrat in viereinhalb Jahren erarbeitet hat, für die Restschweiz interessant macht, ist anderes.
Die neue Verfassung sieht Rechte vor
- für Kinder und ältere Menschen;
- auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit;
- auf eine kantonale Elternzeit (solange keine solche auf nationaler Ebene besteht);
- auf eine Kinderbetreuung, die «für alle bezahlbar» ist;
- auf «einheitliche, einfache und rasche Einbürgerungsverfahren».
- «jede Form von Solidarität»;
- «eine ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern in der Politik und in Führungspositionen von öffentlichen Verwaltungen und Unternehmen»;
- «die Entwicklungszusammenarbeit und den fairen Handel».
Besonders interessant sind auch die Bereiche Digitales und Umwelt.
So sieht die Verfassung ein «Recht auf digitale Integrität und Identität» vor und die digitalen Aktivitäten von Kindern sollen «nicht im Interesse Dritter ausgenutzt werden» dürfen. Letzteres könnte «insbesondere im schulischen Rahmen» wirken. Es gehe darum, ein «Zeichen zu setzen», das auch «als Inspiration für den Bundesgesetzgeber dienen» könne, schreibt der Verfassungsrat. Hier ist das Wallis Pionierkanton – wobei Genf die Walliserinnen und Walliser überholt und, von ihnen inspiriert, am 18. Juni 2023 einen Verfassungsartikel über das «Recht auf digitale Integrität» angenommen hat.
Vorgesehen ist ebenso ein Grundrecht auf eine gesunde Umwelt (das kennt sonst nur der Kanton Genf). Angestrebt werden die Klimaneutralität und die Stärkung der Biodiversität sowie eine «angemessene Mobilität» oder eine «differenzierte und solidarische Raumplanung, die es ermöglicht, den Lebensraum, die Umwelt und die natürlichen Ressourcen aufzuwerten und zu erhalten».
Einen Nachhaltigkeitsartikel kennt zwar fast jede der jüngeren Verfassungen – aber was heisst dieser inflationäre Begriff schon? Die neue Walliser Verfassung wird da konkret und verweist auf das Konzept der «planetarischen Grenzen», auf deren Einhaltung zu achten sei.
Planetare Grenzen? Das ist das Konzept aus der Umweltforschung, das die Umweltverantwortungsinitiative der Jungen Grünen auf eidgenössischer Ebene verankern will. Die Volksinitiative wird es schwer haben; im Wallis hat es der vom Volk gewählte Verfassungsrat schon beschlossen.
Und kaum jemand diskutiert darüber.
Wie schlank muss eine Verfassung sein?
Gibt es Kritik am Inhalt, dann eher in pauschaler Form: Überladen sei die Verfassung, 190 Artikel seien zu viel, die neuen Grundrechte seien nicht nötig. Eine der Kritikerinnen ist Marie-Claude Schöpfer-Pfaffen, Präsidentin der Oberwalliser Partei Neo (ehemals Christlichsoziale Volkspartei). Sie betont, sie sei nicht so konservativ wie die SVP oder Die Mitte Oberwallis und befürworte Modernisierungen, aber «nicht so. Im Verfassungsrat haben die Fraktionen ihre Steckenpferde eingebracht, ohne die Umsetzbarkeit zu beachten. Das hat die Sache aufgebläht. Wir wollen es vernünftig, schlanker und bezahlbar.»
Ist die neue Walliser Verfassung überladen? Muss beispielsweise der Schutz von Whistleblowern in der Verfassung stehen?
Muss er nicht, sagt Pascal Mahon. Aber er könne. Der emeritierte Verfassungsrechtsprofessor der Universität Neuenburg hat die Kantone Neuenburg, Waadt, Genf und nun auch das Wallis bei der Erarbeitung ihrer neuen Verfassungen beraten.
Es gebe zwei Grundkonzeptionen von Verfassungen, erklärt Mahon. Kurze Verfassungen regelten vor allem die Funktion des Staats und seiner Organe. Die noch geltende Walliser Verfassung aus dem Jahr 1907 ist eine solche; die weitaus meisten ihrer 109 Artikel gelten der staatlichen Organisation. Vor allem seit der Katastrophe des Nationalsozialismus habe sich aber die Überzeugung verbreitet, dass Verfassungen die Bürger und den demokratischen Staat besser schützen müssten. Jüngere Verfassungen seien deshalb meist länger und gestalteten den Staat, statt ihn nur zu organisieren. Die neue Walliser Verfassung findet Mahon «angemessen» und «ziemlich innovativ».
Vincent Riesen sieht das anders. Der Direktor der Walliser Handels- und Industriekammer ist Vizepräsident des Unterwalliser Nein-Komitees. Auch er sagt, er sei nicht grundsätzlich gegen eine neue Verfassung. Er habe seinerzeit Unterschriften gesammelt für die Totalrevision. Aber das Resultat gefalle ihm gar nicht. Die meisten der neuen Grundrechte gebe es bereits auf eidgenössischer Ebene. «Und das, was neu ist, geht in die falsche Richtung. Grundrechte sollten für alle da sein, aber wir schaffen Partikularrechte – für Kinder, für Alte, für Behinderte …» Seine Hauptargumente sind die eines Wirtschaftsvertreters: aufgeblähter Staat, teure Umsetzung.
Auch mahnt Riesen, die neue Verfassung setze den Zusammenhalt des Kantons aufs Spiel. Dabei muss er über sich selber lachen: «Wir setzen uns für den Zusammenhalt ein, aber wir tun das in getrennten Komitees im Unter- und Oberwallis. Aber das ging nicht anders. Wenn wir die gleichen Argumente verwenden würden wie die Oberwalliser, würde man im Unterwallis sagen, man wolle nicht Untertanen der Oberwalliser sein – wie man es bis 1792 war.»
Tatsächlich gibt es sowohl auf der Ja- wie auf der Nein-Seite jeweils ein Unter- und ein Oberwalliser Komitee, aber während das Unterwalliser Ja-Komitee immerhin eine zweisprachige Website hat, sind die einsprachigen Websites der beiden gegnerischen Komitees (hier auf Französisch und hier auf Deutsch) nicht einmal miteinander verlinkt.
Auch die FDP ist für die neue Verfassung
Vincent Riesen ist FDP-Mitglied. Seine Partei setzt sich, anders als die Wirtschaftsverbände, für ein Ja ein. Zum Vorwurf, der Verfassungsentwurf sei etatistisch, sagt Parteipräsident Florian Piasenta: «Die Verfassung muss doch den Staat organisieren. Es ist der Staat, der die Gesellschaft zusammenhält.»
Und wie steht die FDP beispielsweise zu einem Nachhaltigkeitsartikel, der die planetaren Grenzen festschreibt? «Sehen Sie, eine Verfassung ist ein Paket. Jeder findet darin etwas, was ihm nicht passt. Ich bin kein Freund der ‹planetaren Grenzen›. Aber 75 Prozent der neuen Verfassung sind für uns Freisinnige gut. Sie ist progressiv in einem liberalen Sinn.»
Die Fortschrittlichkeit lässt sich mit dem Prozedere erklären, wie die Verfassung entstanden ist. Als die Walliserinnen und Walliser sich 2018 mit 72,8 Prozent der Stimmen im Grundsatz für eine Verfassungsrevision aussprachen, entschieden sie auch, einen Verfassungsrat mit der Revision zu beauftragen. Der Verfassungsrat wurde wie das Kantonsparlament vom Volk gewählt, aber er tickte ein wenig anders.
Beispielsweise gab es neben den etablierten Parteien eine Vereinigung, die sich eigens für die Verfassungsrevision bildete, den Appel Citoyen. Für ihn sass Johan Rochel im 130-köpfigen Verfassungsrat. Am Ende des Gesprächs mit der Republik sagt der Philosoph und Mitinhaber des Zürcher Ethik-Beratungsbüros Ethix: «Das war schön, wieder einmal über Inhalte zu sprechen. Im Abstimmungskampf fehlt das weitgehend.»
Der Verfassungsrat hat in zehn Kommissionen beraten. Alleine die Erarbeitung des Prozesses habe sechs Monate in Anspruch genommen, sagt Rochel. Die eigentliche Arbeit am Text dauerte dann wie erwähnt vier Jahre.
Über die Grundrechte sei heftig gestritten worden, «das war fast ein wenig ein Kulturkampf», sagt Rochel. Das Recht auf eine gesunde Umwelt, das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für ältere Personen oder das Recht auf Inklusion und Integration seien sehr umstritten gewesen. Aber die Mitglieder des Verfassungsrats hätten sich von den angehörten Expertinnen überzeugen lassen. Am Ende wurde der Text vom Verfassungsrat mit 87 zu 40 Stimmen angenommen. Es kam aber nicht alles durch, was diskutiert wurde: Rochel hätte gern auch Rechte für Tiere und andere natürliche Entitäten eingeführt – dazu hat er aus Anlass der Walliser Verfassungsrevision sogar einen wissenschaftlichen Aufsatz verfasst. Der Verfassungsrat wollte nicht.
Laut dem Verfassungsrechtler Mahon macht es einen Unterschied, ob ein Verfassungsrat eine neue Verfassung erarbeitet, wie es im Wallis, in der Waadt und in Genf der Fall war, oder ob das das Parlament macht wie in Neuenburg. «Verfassungsräte wollen in der Regel gestalten und sich nicht allzu sehr dreinreden lassen.» Der Gestaltungswille sei grösser, das Resultat in der Regel ein innovativerer und detaillierterer Text. Parlamentarier machen sich mit einer Verfassung selber Vorschriften; Verfassungsräte seien freier.
Exemplarisch zeigt sich das in den beiden Appenzell, die beide derzeit eine neue Verfassung ausarbeiten. In Innerrhoden hat die Regierung den Text verfasst, in Ausserrhoden eine Verfassungskommission. Der Innerrhoder Entwurf ist schlank (oder, je nach Position, mutlos), der Ausserrhoder progressiv – vom «Wunder von Ausserrhoden» sprach das «Magazin». Welcher Weg, eine Verfassung zu revidieren, der bessere ist, sei keine juristische, sondern eine politische Frage, sagt Mahon.
Das Wallis hat sich für den Weg entschieden, der das fortschrittlichere Resultat verspricht. Fehlt gleichwohl etwas? «Oh, plein de choses», sagt Mahon: «Die Vertretung der Interessen zukünftiger Generationen etwa oder Rechte für die Natur … Aber die neue Walliser Verfassung öffnet eine Tür.» Und das sei, auch wenn eine Kantonsverfassung nur begrenzte Reichweite habe, ein Signal: «Symbolisch ist das wichtig.»
Sollten die Walliserinnen und Walliser am 3. März Ja sagen, setzen sie ein Zeichen und beweisen, dass auch eine konservative Bevölkerung für fortschrittliche Anliegen zu gewinnen ist, wenn es um Grundsätzliches geht: ein Signal, das für die ganze Schweiz interessant wäre.
Dass im konkreten Alltag auch künftig eine gewisse Tschuggerhaftigkeit oftmals stärker sein dürfte als die schönen Grundsätze der Verfassung – das ist eine andere Geschichte.