Der Sprachgebrauch spiegelt die Art und Weise, wie technischer Wandel wahrgenommen wird. Derzeit ist eine Fixierung auf den Begriff «Innovation» zu beobachten. Das verzerrt unser Bild von der Technik. Ein Essay. Heute beginnt meine monatliche, zwölfteilige Technikkolumne in der NZZ. Das ganzseitige Essay macht den Auftakt. Und hier die erste Folge der Kolumne (zum Buchdruck). |
Doch das Wort gibt es im Deutschen erst seit Mitte der 1960er Jahre. Seither ist sein Aufstieg ungebrochen. Dieser Aufstieg ging auf Kosten eines anderen Begriffs, dessen Häufigkeit fast genau gegengleich dazu abnahm: «Fortschritt» (siehe hier). Die terminologische Verschiebung ist Ausdruck einer Art und Weise, wissenschaftlich-technischen Wandel wahrzunehmen. Sie hat Auswirkungen bis weit über das hinaus, was heute «Innovationspolitik» heisst; bis hinein in die Entwicklungspolitik, den Datenschutz, die Umweltdebatte.
Geschichtslose Hülle
Das Wort «Fortschritt» hat manchmal pathetische, oft widersprüchliche und durchaus fragwürdige Verwendungen erlebt. Doch seine Begriffsgeschichte, die vor allem durch die Aufklärung geprägt ist, schwingt immer mit. Fortschritt zielt immer auf eine Verbesserung der Gesellschaft, schon seit der ersten Nennung des Wortes auf Deutsch im Jahr 1770. Der «Innovation» fehlt diese Geschichte. Der «Fortschritt» kennt im «Rückschritt» einen Gegenbegriff: Wandel kann auch in eine falsche Richtung zielen.
Zu «Innovation» gibt es keinen solchen Gegenbegriff. «Stagnation» ist ja nicht Wandel in eine falsche Richtung, sondern ein blosses Fehlen des Wandels. Allenfalls könnte man in der «Veraltung» (englisch/französisch «obsolescence») einen Gegenbegriff der «Innovation» vermuten. Doch genau besehen ist sie eine Voraussetzung dafür: Was gestern neu war, muss morgen veraltet sein, damit heute Innovation geschieht.
«Innovativ» bedeutet im Alltagsgebrauch oft nichts anderes als «neu». Dabei schwingt der Befehl mit, sich ständig zu erneuern. «Innovation» kann man fordern, ohne über Inhalte sprechen zu müssen. Wenn die Schweiz vom «Innovation Union Scoreboard» der EU zur innovativsten Nation Europas erkoren wird, beruht dieser Befund auf Messgrössen ohne jeden Inhaltsbezug. Es geht um die Anzahl Patente, die Höhe der Forschungs- und Entwicklungsausgaben, die Anzahl Hochschulabgänger und so weiter, nicht aber um Inhalt und Relevanz der Patente oder um Schwerpunkte der geförderten Forschung. «Krisen», schreibt die deutsche Erziehungswissenschafterin Marianne Gronemeyer, «sind in dieser Lesart immer und ausschliesslich ein Novitätsmanko. Wer in der Krise steckt, ist nicht modern genug.»
Neuer ist besser: Der Begriff der «Innovation» bringt ein lineares Verständnis technischen Wandels zum Ausdruck. Wissenschaftliche Erkenntnisgewinne führen laut diesem linearen Modell zu technischen Innovationen, die das Los der Menschheit verbessern. Diese Vorstellung, dass Technik den Menschen durch schiere Erneuerung voranbringt, ist allgegenwärtig – etwa, wenn Wissenschaftsförderung durch die Notwendigkeit legitimiert wird, «innovativ» zu sein.
So kündigt die Europäische Kommission ihren Entwurf zum nächsten Rahmenprogramm der Forschungsförderung mit den Worten an: «80 Milliarden für Forschung und Innovation, um Wachstum und Jobs zu fördern.» Und der Bund begegnete den Auswirkungen des starken Frankens vergangenes Jahr mit einem 100 Millionen Franken schweren «Sonderprogramm zur Innovationsförderung».
Das lineare Fortschrittsmodell
Das lineare Modell ist stark von wirtschaftlichen Überlegungen geprägt. Und es ist viel älter als der Begriff «Innovation». Selten wurde es so explizit verkündet wie im Motto der Weltausstellung von Chicago 1933: «Science discovers, genius invents, industry applies, and man adapts himself to, or is molded by, new things.» – «Die Wissenschaft entdeckt, das Genie erfindet, die Industrie verwendet neue Dinge, und der Mensch passt sich diesen an oder wird von ihnen geformt.» Hier wird «der Mensch» zum Passivum, das sich «den neuen Dingen anpasst» oder von ihnen «geformt wird» – während er als Wissenschafter und Erfinder diese Dinge aktiv herstellt.
Auch wenn die Weltausstellung in Chicago schon fast 80 Jahre her ist, ist diese Haltung noch immer weit verbreitet. Sie verbindet einen grundlegenden Optimismus mit der Sicht, wir Menschen könnten uns dem Fortschreiten der Technik nicht entziehen. Es gibt nur die Alternative, «innovativ» genug zu sein – oder abgehängt zu werden; Technikskepsis wird so zur Donquichotterie.
Im linearen Fortschrittsverständnis macht das Neue das Alte obsolet. Es genügt, in neue Technik zu investieren, um alte Technik zu überwinden. «Die Steinzeit ging nicht zu Ende, weil die Steine ausgingen, und das Erdölzeitalter wird nicht zu Ende gehen, weil uns das Erdöl ausgeht», soll der ehemalige saudische Erdölminister Ahmed Zaki Yamani einst gesagt haben. Das Bessere verdrängt das Gute – oder das weniger Schlechte das Schlechtere. Allein: So funktioniert die Welt nicht. Yamani übersieht, dass die Menschheit pro Kopf heute natürlich sehr viel mehr Steine verbraucht als je in der Steinzeit. Im Normalfall verdrängt eine neue Technik ihre Vorläufer nicht, sondern gesellt sich zu ihnen hinzu.
Der Dreischritt Erkenntnisgewinn – technische Innovation – gesellschaftlicher Fortschritt ist keineswegs die Regel. Gesellschaftlicher Wandel kann technische Neuerungen ebenso hervorbringen wie umgekehrt. Technische Anwendungen können der wissenschaftlichen Erkenntnis vorangehen, statt ihr Resultat zu sein. Die Wissenschaft hat auch bewahrende Funktionen und kann Fortschritte ausbremsen.
Und ist eine Technik ein Fortschritt, die ein Bedürfnis befriedigt, das es ohne diese Technik gar nicht gäbe? Nicht selten bringt eine Technik erst die Kriterien hervor, unter denen sie als Fortschritt erscheint. Und dann sind da noch die vielen bekannten Beispiele für technischen Wandel, der das Menschenlos nicht verbesserte, sondern verschlechterte.
Eine lineare Technikwahrnehmung neigt dazu, Hightech gegenüber Lowtech überzubetonen – wobei wechselnden Moden unterworfen ist, was gerade als «high» oder «low» gilt. Sie neigt auch dazu, das Handfest-Technische gegenüber Kulturtechniken überzubetonen, den Akt des Erfindens und die Person des Erfinders gegenüber der Geschichte des Gebrauchs.
Ausserdem leugnet sie die Ambivalenz technischer Entwicklungen und übersieht, dass der Schatz des Wissens nicht nur beständig zunimmt, sondern immer auch Dinge vergessen gehen: Es kostet Aufwand, Wissen lebendig zu erhalten. Leistet niemand diesen Aufwand, geht Wissen vergessen, selbst wenn es noch irgendwo aufgeschrieben steht. All diesen Aspekten des technischen Wandels will die NZZ in einer neuen Serie nachgehen.
Innovation als Bremse
Ob man einem linearen Fortschrittsverständnis anhängt oder nicht, ist nicht nur für Technikhistoriker relevant. Einige der Verwerfungen beispielsweise in der gegenwärtigen Klimadebatte lassen sich auf das Verständnis technischen Wandels zurückführen. Bewegt man sich innerhalb des linearen Denkens, stellt sich eigentlich nur die Frage, ob der technische Fortschritt schnell genug sei, um mit den wachsenden Problemen der Menschheit mitzuhalten. Ob die Menschheit sich zum Guten entwickelt, hängt dann letztlich nur davon ab, ob sie sich genug anstrengt.
Technik ist aber mehr als das, was gerade auf den Titelseiten der Technikmagazine steht, nämlich immer ein Ensemble von Technik «an sich» und sozialen und kulturellen Praktiken der Technikbenutzung. Sie ist mehr als nur Voranschreiten oder Stehenbleiben. Ob aus Erkenntnisgewinnen Anwendungen resultieren und die Anwendungen das Los der Menschen zum Guten oder Schlechten verändern, ist deshalb meist nicht so sehr eine technische Frage als eine Frage des gesellschaftlichen Kontexts, in dem eine Technik steht und zur Anwendung kommt.
Wer das lineare Fortschrittsverständnis kritisiert, gilt schnell als Maschinenstürmer. Aber eine kritische Betrachtung dessen, was «Innovation» sei und wie sie zustande komme, muss sich nicht gegen Fortschritt richten, ganz im Gegenteil. «Technik», schreibt der renommierte Technikhistoriker David Edgerton vom Londoner Imperial College, «ist nicht generell eine revolutionäre Kraft; sie ist ebenso sehr dafür verantwortlich, dass Dinge bleiben, wie sie sind, wie dafür, sie zu verändern.»
Und er mahnt: «Der Ruf nach technischer Innovation ist, paradoxerweise, ein üblicher Weg, Wandel zu vermeiden, wenn Wandel unerwünscht ist. Das Argument, Wissenschaft und Technik der Zukunft erlösten uns von der Klimaerwärmung, ist ein Beispiel dafür.»