Gerd Grasshoff ist Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Bern und präsidiert das Exekutivkomitee «Forum Einstein 2005 Bern». Zusammen mit Ann M. Hentschel hat er «Albert Einstein. Jene glücklichen Berner Jahre» sowie den Führer zum Einstein-Pfad Bern herausgegeben.
Herr Grasshoff, darf ich mit einer saloppen Frage ... Gerd Grasshoff: Alles ist salopp (lacht). Wie meinen Sie? Es ist schwierig, sich Einstein zu nähern, ohne gleich in Klischees zu verfallen - das zeigen auch die Fragen, die mir jeweils gestellt werden. Der Einstein, den man überall sieht, ist ja schon der ikonisierte, der irgendwie als Klischee dargestellte Einstein. |
Einstein als Popikone? Sie erwähnten diese Frage schon in unserem Vorgespräch. Im ersten Moment dachte ich: Was wollen Sie eigentlich, das ist doch trivial: Ja! Oder haben Sie eine andere Antwort erwartet? Im zweiten Moment machte mich die Frage viel nachdenklicher. Auf welchen Einstein beziehen Sie sich? Der populäre Einstein hat sich im Lauf der Jahrzehnte deutlich verändert. Die Popikone als solche gibts nicht. Der Einstein, wie wir ihn behandeln und nutzen, ist - wie auch andere Idole, ob es nun Wissenschaftler oder Fussballstars sind - häufig mehr Ausdruck der eigenen Zeit und ihrer Bedürfnisse, als dass er mit dem historischen Albert Einstein verbunden ist. Zum Jahrhundertwechsel feierte man womöglich einen ganz anderen Einstein als «Mann des Jahrhunderts» oder gar «des Jahrtausends» als heute. Heute wird Einstein im Zusammenhang mit Innovation gesehen. Das war 2000 noch nicht so Modethema, den Pisa-Schock gabs auch nicht - in solchen Kontexten bekommt eine Figur wie Einstein plötzlich eine ganz andere Wirkung. Ruft man sich die berühmtesten Porträts des 20. Jahrhunderts ins Gedächtnis, so denkt man möglicherweise an Che Guevara, an Marilyn Monroe – und an Albert Einstein, und zwar an den Einstein, der die Zunge herausstreckt. Um nun doch noch meine saloppe Einstiegsfrage zu stellen: Wäre Einstein heute auch das, was er ist, wenn er seine Haare gekämmt und keinem Fotografen die Zunge rausgestreckt hätte? Einstein gab das Klischee des skurrilen Professors und «Genies» ja sehr gut! Ich sage wieder: Schauen Sie auf die Zeit. In den sechziger, siebziger Jahren war alles Antiautoritäre populär. Die Ikonen, die Sie genannt haben, waren solche, die eine Gegenwelt darstellten, einschliesslich der Monroe: nämlich nach ihrem Tod, als ihre Popularität in dieser Hinsicht anfing. Der die Zunge rausstreckende Einstein hat am Ende seines Lebens diese Rolle auch angenommen und gespielt. Doch der Einstein der zwanziger Jahre war bereits eine extrem populäre Figur, und da gabs all diese Zeichen noch nicht. Er war adrett gekleidet, die Frisur hatte noch nicht die Dimension der späteren Zeit, und die Zunge streckte er auch nicht heraus. Er war ein seriöser, ernsthafter Mensch, aber - das ist eine kontinuierliche Linie - jemand, der als Individualist gerne ausserhalb von Konventionen stand. Einer, der immer anti-nationalistisch und radikal pazifistisch war; einer, der sich immer in Minderheiten bewegte. Heute ist Einstein ja fast ausschliesslich positiv besetzt. Es gibt kaum jemand, der irgendetwas an ihm auszusetzen hätte ... ... man wirft ihm vor, seine erste Frau Mileva im Stich gelassen zu haben ... ... Frauengeschichten, ja, Zionismus, vielleicht auch, aber da muss man auch schon wieder fragen, für welchen Zionismus Einstein denn stand; doch diese Kritikpunkte sind marginal. In seinen ersten Jahren in den USA erhielt Einstein, kaum hatte er 1933 seine Füsse auf amerikanisches Land gesetzt, denunziatorische Briefe, das FBI erstellte eine Akte von mehr als 1500 Seiten. Einstein war nicht immer so positiv besetzt, sondern eine Reizfigur. Die scharfen Kritiker Einsteins gibt es heute nicht mehr, es gibt nicht mehr diesen Antisemitismus, diesen Antikommunismus, diesen Antianarchismus. Einstein als Anarchist würde heute niemand mehr aufregen. Hätte Einstein aber zur Zeit seiner Übersiedelung in die USA die Zunge rausgestreckt, wäre das als staatszersetzend gewertet worden. Schauen wir also, wie Einstein heute gesehen wird. In der «Zeit» vom 16. Dezember sagt der Direktor des Max- Planck-Instituts für Gravitationsphysik, Bernard Schutz: «Ich habe heute keine Zeit zum Denken.» Er kontrastiert das mit der Empfehlung Einsteins an junge Forscher, sich als Leuchtturmwärter zu bewerben, um genug Ruhe zum Denken zu haben. Steht Einstein auch für die Sehnsucht nach einer Zeit, da man «noch Zeit zum Denken hatte»? Nach einer Zeit, da ein Einzelner, der von sich sagte, sein Labor sei seine Westentasche mit Kugelschreiber und Notizblock, das physikalische Weltbild revolutionieren konnte – während man heute milliardenteure Apparaturen braucht, um winzige Teilaspekte einer Theorie zu erforschen, und Publikationen der theoretischen Physik mitunter von mehreren hundert AutorInnen unterzeichnet sind? | Hundert Jahre RelativitätstheorieIn den «Annalen der Physik» von 1905 veröffentlichte Albert Einstein, ein bis dahin weitgehend unbekannter 26-jähriger Beamter am Eidgenössischen Patentamt, gleich drei Abhandlungen. Vor allem zwei davon waren für die weitere Entwicklung der Physik von ausserordentlicher Bedeutung: Die so genannte Lichtquantenhypothese erweiterte die Quantentheorie, die Max Planck fünf Jahre zuvor entworfen hatte. Für sie erhielt Einstein 1922 den Nobelpreis. Die Abhandlung «Zur Elektrodynamik bewegter Körper» begründete die Spezielle Relativitätstheorie. Die Spezielle Relativitätstheorie basiert auf zwei Prinzipien: Das so genannte Relativitätsprinzip fordert, dass für alle gleichförmig bewegten Objekte dieselben physikalischen Gesetze gelten. Daraus folgert, dass nicht zwischen einer gleichförmigen Bewegung und Stillstand unterschieden werden kann. Es ist sinnlos, einen absoluten, ruhenden Raum zu postulieren (wie Isaac Newton es getan hatte). Das zweite Prinzip war Resultat experimenteller Messungen und besagt, dass die Lichtgeschwindigkeit für alle Beobachter gleich ist. Das widerspricht unserer Intuition: Wenn ich einem rollenden Ball nachlaufe, so rollt er in Bezug auf mich langsamer, als wenn ich stehen bliebe; ich kann den Ball ein- und überholen. Wenn ich aber dem Licht nach laufe, bewegt es sich immer noch mit derselben Geschwindigkeit von mir weg. Daraus folgerte Einstein: Es gibt nicht nur keinen absoluten Raum, es gibt auch keine absolute Zeit. Die Zeiten zweier unterschiedlich bewegter Körper sind verschieden. Absolut hingegen ist die Lichtgeschwindigkeit (300 000 Kilometer pro Sekunde). Ebenfalls aus der Speziellen Relativitätstheorie folgt die Äquivalenz von Masse und Energie, die mit der Formel E = mc2 beschrieben ist (E steht für Energie, m für Masse, c für die Lichtgeschwindigkeit). Da es laut Spezieller Relativitätstheorie nichts geben kann, das sich schneller als das Licht bewegt, musste auch die Gravitation als sich ausbreitende Kraft verstanden werden und nicht als die instante Fernwirkung, die Newton in ihr sah. Die damit geforderte Feldtheorie der Gravitation konnte Einstein 1915 mit der Allgemeinen Relativitätstheorie liefern. Sie interpretiert Gravitationsfelder als Krümmungen des Raumes respektive der vierdimensionalen Raumzeit. |
Trotzdem hat Einstein in Berlin seine vielleicht grösste Leistung vollbracht: die Allgemeine Relativitätstheorie. Trifft das Bild von Einstein als dem Entdecker im stillen Kämmerlein doch zu?
Ich sprach nicht vom einsamen Kämmerlein. Die Diskussionen mit seinen Freunden in Bern waren Einstein sehr wichtig als Resonanzboden. Als dieser Diskussionskreis auseinander bricht, bittet Einstein seine Freunde drin- gend, wieder zusammenzukommen. Er brauchte das, und das fehlte ihm später. Er arbeitete nicht mit Kollegen, sondern eher mit Freunden. Diese waren dann aber untergeordnete Gesprächspartner, die nicht eigenständige Programme verfolgen konnten. Die Allgemeine Relativitätstheorie war, denke ich, sein gröss-ter Erfolg. Das weitere Programm war eher durch regelmässige Niederlagen als durch Erfolge gezeichnet. In den dreissiger Jahren kommen die Verweise auf seine Arbeiten nicht mehr von den Physikerkollegen - diese ignorierten ihn praktisch -, sondern vor allem von den Mathematikern. Seine Theorien wurden ja immer anspruchsvoller. Dadurch war Einstein angewiesen auf Zusammenarbeit. Sein wichtigster Mitarbeiter, Arthur Mayer, «der Rechner», musste für Einstein dessen Ideen rechnerisch ausarbeiten. Das war frustrierend, daran scheiterte die Zusammenarbeit schliesslich auch. Einstein konnte Mayer ein halbes Jahr lang hart an einer Idee herumrechnen lassen, um eines Tages zu kommen und zu sagen, vergiss es, das bringt nichts, ich habe eine ganz neue Idee.
Es gab in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele bedeutende Physiker - Max Planck, Werner Heisenberg, Niels Bohr ... Keiner hat es zu dieser Berühmtheit gebracht. Was hatte Einstein ihnen voraus?
Das ist eine interessante Frage. Heisenberg hat es, wenn ich mich recht erinnere, auch mal auf ein «Spiegel»-Titelbild geschafft, Carl Friedrich von Weizsäcker wurde aus anderen Gründen berühmt. Aber die Popularität von Einstein hat sonst niemand erreicht. Das begann mit der britischen Sonnenfinsternisexpedition von 1919, die die Allgemeine Relativitätstheorie bestätigte. Da brachten, nach dem Weltkrieg, die ersten englischen und amerikanischen Illustrierten Titelseiten mit Einstein, dem Deutschen (auch wenn er zu der Zeit einen Schweizer Pass hatte). Die Schlagzeilen lauteten, dass Einstein Newton vom Sockel gestossen und ein neues Weltbild entwickelt habe. Für diese Dimension der wissenschaftlichen Neuerung wurde Einstein gefeiert. Die Relativitätstheorie war mit seinem Namen verknüpft, nicht seine Beiträge für die Quantenphysik, für die er den Nobelpreis erhielt.
Hat das mit dem grossen Faszinationspotenzial der Relativitätstheorie zu tun? Wenn ich etwa an Sciencefiction denke: Da eignet sich die Relativitätstheorie besser als die Quantenphysik.
Ja. Es gibt ein Archiv, das über 5000 Zeitungsartikel über Einstein umfasst. Ich habe mir das angeschaut. In den meisten positiven Artikeln - es gab auch eine ganze Menge verleumderischer Artikel - wird sehr sachlich versucht, die Relativitätstheorie zu erklären. Das hat mich sehr überrascht: Es war die wissenschaftliche Neugier, die die Menschen faszinierte. Sie merkten: Hier ist etwas fundamental Neues entstanden. Da war ein Verstehenwollen.
Es soll darüber spekuliert worden sein, ob denn zwei oder drei Leute auf der Welt die Relativitätstheorie verstanden hätten. Sie ist schwer zu verstehen, aber jedeR kennt die Formel E = mc2, die der französische Zeichentheoretiker Roland Barthes einen «Mythos des Alltags» nannte.
E = mc2 ist harmlos einfach. Die Formel hat eine grosse Eleganz, aber viel schwieriger ist zu verstehen, dass die Lichtgeschwindigkeit immer noch die gleiche ist, wenn das Licht von einem bewegten Körper ausgesendet wird. Nach unserer Intuition müssten sich die Geschwindigkeit dieses Körpers und die Lichtgeschwindigkeit addieren, aber das tun sie nicht. Solche kontraintuitiven Überlegungen überraschen. Es gibt einen starken Reiz, das verstehen zu wollen.
Dieses Nichtanschauliche gibt es ja auch in der Quantenphysik. Aus solchen Erkenntnissen wurden Theorien abgeleitet – ich denke etwa an New Age ...
Ogottogott!
... ein Bestsellerautor wie Fritjof Capra hatte ja doch einigen Einfluss mit seinen Spekulationen, die sich auf den physikalischen Theorien abstützen.
Ich bestreite, dass Capra viel Einfluss hatte. Er gehört zu dieser Popbewegung, die irgendwelche aufregende Themen verbrämt. Das hat aber weder mit Einstein zu tun noch mit seiner Popularisierung.
Bieten sich die Relativitäts- oder die Quantentheorie an, überinterpretiert zu werden, weil sie den Boden des Anschaulichen verlassen?
Das ist einfach Populismus, mehr kann ich dazu nicht sagen. Das kontrastiert gerade auch mit Einsteins eigenen populären Schriften, die Sie mit einer Matura verstehen können. Da ist kein Mystizismus drin. Ich glaube, was Sie ansprechen, war eine gewisse Zeitströmung. Das hatte mit der Zeit der Siebziger und ihrem Hang zum Esoterischen zu tun, nicht mit der Physik.
Sie sind Mitorganisator des Berner Einstein-Jubiläums: Geben Sie uns einen Tipp!
Der Einstein-Pfad: Hier können Sie den Raum, in dem sich Einstein bewegt hat, erwandern. Da sieht man zwischen Wohnung, dem Sitz der Naturforschenden Gesellschaft, seiner Kneipe und dem Ort, wo er seine Kohle holte, wie eng sein Kreis war. Es ist uns wichtig, Einstein nicht aus unserer heutigen wissenschaftlichen Perspektive zu sehen. Einstein arbeitete eben nicht so, wie wir es uns heute von der Wissenschaft gewöhnt sind. Wir wollen zeigen, wie und in welchem sozialen Umfeld Einstein zu seinen Resultaten kam; dass Einstein eben nicht einfach kam, sah und siegte. Dann wollen wir aber auch mit verschiedenen Aktionen die heutige Wissenschaft zeigen als etwas, das doch von der gleichen Motivation getrieben ist wie seinerzeit Einstein: Neugier, wie das alles funktioniert.
Interview: Marcel Hänggi
Berner Einstein-Jubiläum: www.einstein2005.ch
World Year of Physics: www.wyp2005.org