Vom Niedertrampeln und Ellbögeln
Und doch haben die Initiativgegner meines Erachtens so weit Recht, als sie sagen, dass Lebensstiländerungen unumgänglich seien (auch wenn das Kaltdusch-Argument läppisch ist). Einfach falsche Techniken durch richtige ersetzen und weitermachen wie bisher – das wird nicht möglich sein: Was für Techniken eine Gesellschaft einsetzt, beeinflusst deren Lebensstil. Ich sehe nur nicht, weshalb das gegen die Initiative sprechen müsste. Warum sollte sich das Leben nicht ändern? «Anders» heisst nur dann zwangsläufig «schlechter», wenn man in der besten aller Welten lebt.
Ich glaube nicht, dass wir das tun, sondern halte es mit dem liberalen Ökonomen und Philosophen John Stuart Mill (1806–1873), der geschrieben hat: «Ich gestehe, dass mich das Lebensideal jener nicht entzückt, die den beständigen Kampf des Menschen für den Normalzustand halten; dass der gegenwärtige Typus des gesellschaftlichen Lebens, das Niedertrampeln, Drängeln, Ellbögeln und Sich-auf-die-Hacken-Treten das erstrebenswerteste Los der Menschheit sei.»
Hat Mani Matter recht?
Wenn die Initianten argumentieren, ihre Ziele liessen sich allein durch technische Fortschritte erreichen, zeigen sie sich mit ihren Gegnern in dem Punkt einig, dass der Lebensstil tabu sei. Man kann das abstimmungstaktisch natürlich nachvollziehen. Doch vor lauter Taktik verpasst die Initiative die Chance, die wirklich wichtigen und interessanten Fragen auf den Tisch zu bringen, die es zu diskutieren gäbe angesichts des Umstands, dass unsere Wirtschaft ihre eigenen Grundlagen auffrisst. «Wie viel Nachhaltigkeit ist allein technisch machbar?» ist höchstens dann eine interessante Frage, wenn man den technischen Wandel für die einzig legitime Form des Wandels hält.
Worüber man beispielsweise diskutieren müsste: Ist immer mehr immer besser, bis in alle Ewigkeit? Leben wir heute, da wir pro Kopf sechsmal so viel Energie verbrauchen wie vor sechzig Jahren, auch sechsmal besser als damals? Gibt es irgendwo einen Punkt, wo man von einer Sache genug hat – ein Optimum, das besser ist als das Maximum? Wenn wir den Verkehr oder die Zersiedelung einschränken müssten, um nachhaltig zu leben: Wäre das ein Verlust oder nicht eher ein Gewinn? Wenn wir verzichten müssen: Worauf müssen wir verzichten, und worauf verzichteten wir ganz gerne (etwa: die Zunahme der stressbedingten Krankheiten)? Wie rechtfertigen wir unseren Überkonsum jenen gegenüber, die zu wenig zum Leben haben? Wie lassen sich die Ressourcen einer begrenzten Welt gerechter verteilen; wie die Macht, die auf ihnen aufbaut? Stimmt vielleicht, was Mani Matter in seinem Lied «Dene, wos guet geit» so schön sang? Und schliesslich die Urfrage jeglicher Politik: Wie wollen wir zusammenleben?
Darüber könnte man in den verbleibenden zwei Wochen Abstimmungskampf doch so lustvoll streiten!