Natürlich geht vernünftige Verkehrserziehung nicht. Ein Viertel der fünfjährigen Kinder in der Stadt und ein Drittel auf dem Land dürfen nicht unbeaufsichtigt ins Freie – in erster Linie, weil die Eltern den Strassenverkehr fürchten. Realistische Verkehrserziehung: Pass auf! Kusche! Sei demütig!
Die nahe liegende These – fast jedeR ist gelegentlich selber AutofahrerIn – greift zu kurz: Fliegen tut auch fast jedeR ab und zu. Dennoch wehren sich die Leute gegen Fluglärm, nicht aber gegen Autolärm.
Wir schlagen alternative Thesen vor. These eins: Auto ist Fetisch.
Auto ist Fetisch
Armin Steinmann ist Verkehrspsychologe, Sicherheitsbeauftragter der Stadt Uster und Statthalter des Bezirks Horgen (SVP). Vor einiger Zeit referierte Steinmann vor der Jungen FDP Meilen über Massnahmen zur Temporeduktion wie Fahrbahnverengungen. Das JFDP-Blatt schrieb danach: Sicher hülfen solche Massnahmen, tödliche Unfälle zu vermeiden, aber es gebe auch mehr Kratzer an Rückspiegeln. Kratzer gegen Menschenleben – Herr Steinmann, ist der Begriff «Fetisch» geeignet zur Beschreibung unseres Verhältnisses zum Auto? «Ja sicher. Sehen Sie nur, wie Autos ausgestattet und geschmückt werden!»
«Fetischismus» ist, gemäss Duden, eine «sexuelle Fehlhaltung, bei der Gegenstände ... als einzige oder bevorzugte Objekte sexueller Erregung oder Befriedigung dienen».
Christoph Maria Merki ist Historiker am Liechtenstein-Institut und Autor von «Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930» (Wien 2002). Herr Merki, ist das Auto ein Freiheitsfetisch? «Selbstverständlich.»
Katharina Steffen ist Kulturanthropologin in Zürich und Autorin von «Übergangsrituale in einer auto-mobilen Gesellschaft» (Frankfurt am Main 1990). Ist das Auto ein Fetisch? «Auf jeden Fall.»
Hannes Krall ist Pädagoge und Psychologe an der Universität Klagenfurt und Autor von «Das Automobil oder «Die Rache des kleinen Mannes» (Klagenfurt 1991). Krall sagt: «Der Autofahrer erlebt das Auto als Teil seiner selbst.»
Im Dezember forderte der liberale Genfer Stadtpräsident Pierre Muller, die Parkverbote in der Genfer Innenstadt weniger streng durchzusetzen. These zwei: Autos dürfen mehr als Menschen.
Das hat damit zu tun, dass unsere Wahrnehmung gestört ist. Wir erkennen den Autoterror nicht mehr als solchen. In Zürich ergab 2002 eine Umfrage, dass die meisten FussgängerInnen sich durch Radfahrer stärker bedroht fühlen als durch Autos. Dies, obwohl eindeutig am meisten Unfälle und Verkehrskonflikte von Autos verursacht werden. Woher die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit?
Auto darf
Steinmann: «Jeder Verkehrsteilnehmer delegiert den Stress nach unten. Das Auto bedrängt die Velos, diese weichen aus aufs Trottoir, wo sie die Fussgänger bedrängen.» Krall: «Wir werden erzogen, das Auto wie eine Naturgewalt zu sehen. Man muss sich davor schützen, aber man kann nichts dagegen tun.»
Auto darf: Falschparken, mit fünfzig durch die Tempo-dreissig-Zone rasen, am Steuer telefonieren gelten als Bagatelldelikte, Verkehrsregeln als unverbindliche Empfehlungen. Die jüngste «Raserdebatte» passt in dieses Bild. Merki: «Diese Debatte ist eine Entlastungsstrategie der «anständigen» Autofahrer. Man findet das in den ACS-Zeitschriften, seit es diese gibt.» Steffen: «Es ist ähnlich wie beim Rechtsextremismus: Nur wenige sind rechtsextrem, aber sie finden mit einigen ihrer Ansichten Rückhalt in breiteren Bevölkerungsschichten. «Rasen» tun nur wenige, zu schnell fährt jeder ab und zu.»
Kapitulation
Die Akzeptanz des Autos war keineswegs immer gegeben. In Graubünden waren Autos bis 1925 gar verboten. Historiker Merki sagt: «Man sah die hohen sozialen Kosten: Lärm, Gestank, Unfälle, Strassenverschleiss. Damals war das Auto ein Luxusgut. Als die Autos immer billiger wurden, wurde das Auto nach dem Zweiten Weltkrieg zum zentralen Wohlstandsversprechen. Die sozialen Kosten verschwanden aus dem Blickfeld. Es gab aber auch weniger Unfälle pro gefahrenen Kilometer: Die Autofahrer wurden sicherer dank der Technik - Gurten, Airbags. Die Fussgänger wurden einfach von der Strasse vertrieben.»
Man nennt das Kapitulation. Der Preis dafür ist hoch. Die Zu-Fuss-Gehenden verschwinden aus dem Bewusstsein der Auto Fahrenden. Steinmann: «Man hört nach Unfällen immer wieder die Begründung: ‹Ich habe es nicht gesehen.› » Das Gegenmittel? «Mischzonen schaffen und die Geschwindigkeiten der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer einander angleichen», sagt SVP-Mitglied Steinmann.
Tempo-dreissig-Zonen müssen die Behörden einrichten. Für die einzelnen NichtautomobilistInnen gibt es nur eins: Rückeroberung!
Marcel Hänggi