Gewehre waren in Japan nie verboten. Doch die Tokugawa-Herrscher kontrollierten die Waffenproduktion so restriktiv, dass das Büchsenmachergewerbe abstarb. Es gibt kaum Zeugnisse, die angeben, weshalb Japan den Schusswaffengebrauch aufgab. Sicher passte eine Waffe, die im Vergleich zum Schwert das Können des Kriegers in den Hintergrund treten ließ, nicht zum Kriegsethos der Samurai. Auch ästhetische Motive dürften eine Rolle gespielt haben: Japanische Krieger hatten ein außerordentliches Flair dafür, sich mit möglichst prächtigen Schwertern abzumurksen.
Japan hat in der Waffentechnik «den Fortschritt aufgehalten» – bis zum Sturz der Tokugawa-Dynastie (1867), und es tat es nicht zu seinem Schaden. Ein allzu exotisches Beispiel? Gewiss – ohne die selbstgewählte Isolation und die autoritäre Shogun-Herrschaft wäre das kaum möglich gewesen.
Aber es gibt andere Beispiele dafür, wie sich Gesellschaften – auch offene und demokratische – bewusst entscheiden, eine Technik nicht einzusetzen. In den 1950er Jahren galt es als ausgemacht, dass der «nicht aufzuhaltende Fortschritt» in der Zivilluftfahrt im Reisen mit mehr als Schallgeschwindigkeit liege. Die Sowjetunion baute die TU-144. Franzosen und Briten brachten die Entwicklung der Concorde zum Abschluss, als die Widersinningkeit des Projekts aus ökonomischer Sicht schon offensichtlich war. Und auch die amerikanische Flugzeugindustrie werkelte an einem zivilen Überschallflugzeug.
Weil die Industrie das Projekt nicht selber finanzieren konnte (und wollte), half der Bund kräftig nach. Doch in den späten sechziger Jahren begann sich Kritik zu artikulieren, zunächst wegen des Überschallknalls, dann aus Angst um Schädigungen der Atmosphäre. Es entspann sich eine außergewöhnlich breite und fundierte öffentliche Technikfolgendebatte. Die Befürworter wurden auf kaltem Fuß erwischt, 1971 wurde das Projekt eingestellt und ein Jahr später schuf der Kongress als eine Konsequenz aus der Affäre das Office of Technology Assessment (OTA), das weltweit erste staatliche Büro für Technikfolgen-Abschätzung.
Das OTA ist zwar 1995 der konservativen und wissenschaftsfeindlichen Wende Newt Gingrichs zum Opfer gefallen. Der Entscheid, auf zivile Überschallflugzeuge zu verzichten, hat aber bis heute Bestand, und TU-144 und Concorde sind Geschichte.
Für Friedrich Dürrenmatt war eine Geschichte erst «zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat». Das war eine dramaturgische Maxime. Die Realität ist mitunter nachsichtiger als die Dramaturgie.
Marcel Hänggi