Es war eine der folgenreichsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte: Mit der Ammoniaksynthese konnten die unerschöpflichen Stickstoffreserven der Luft nutzbar gemacht werden. Nie zuvor hatte der Mensch so massiv in einen natürlichen Stoffkreislauf eingegriffen. Synthetisches Ammoniak veränderte den Krieg, die Industrie, den Charakter der Landwirtschaft und die Umwelt. |
In der Natur entstehen Stickstoffverbindungen nur auf zweierlei Weise: Wenn es blitzt, verbrennt Luftstickstoff zu Stickoxiden, und gewisse Mikroorganismen können Luftstickstoff verwerten («fixieren»). Mit der Synthese von Ammoniak gelang es Fritz Haber, die Stickstoffvorräte der Luft anzuzapfen. So wurden sie für die chemische Industrie nutzbar und konnten via Kunstdünger in die Nahrungskette eingespeist werden.
In der modernen Welt trägt der Mensch zudem noch auf andere Weise zur Bildung von Stickstoffverbindungen bei: Verbrennungsmotoren und industrielle Hochtemperaturprozesse verbrennen wie Blitze Luftstickstoff zu Stickoxiden. War Stickstoffmangel einst der wichtigste limitierende Faktor der Landwirtschaft (und damit der Bevölkerungsgröße), verursacht heute der Überfluss an Stickstoffverbindungen große ökologische Probleme. Die Ammoniaksynthese hat die Landwirtschaft, die chemische Industrie und die gesamte Umwelt verändert.
Genau genommen, gab es 1909 bereits andere Verfahren, Luftstickstoff zu fixieren. Dass sich das Haber-Bosch-Verfahren durchsetzte und Fritz Haber heute als Vater der Stickstofffixierung gilt, liegt daran, dass dieses Verfahren sich zu Kriegszwecken am besten eignete. Bis dahin stellte man Schießpulver aus Salpeter her, einer anderen Stickstoffverbindung. Salpeter wurde traditionell in so genannten Salpeterplantagen aus fast allem gewonnen, was stank: Mist, Gülle, Kadaver, Gerbereiabwässer. Im 19. Jahrhundert kamen weitere, allerdings erschöpfliche, Salpeterquellen hinzu: Aus Südamerika importierte man die Vogelkotablagerung Guano, und in der ebenfalls südamerikanischen Atacama-Wüste wurde das weltweit einzige nennenswerte Vorkommen an Salpeter als Bodenschatz gefunden. Es war so bedeutend, dass Chile um diese Region einen fünfjährigen Krieg gegen Bolivien und Peru focht.
Chile siegte 1884 im Salpeterkrieg, woraufhin das mit Chile verbündete Großbritannien praktisch über ein Salpeter-Handelsmonopol verfügte. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, hatte die Deutsche Reichswehr Schießpulver- und Salpetervorräte nur für einige Monate. Weil Deutschland von Salpeterimporten abgeschnitten war, wäre der Krieg bald zuende gewesen – hätte nicht BASF bereits im Herbst 1913 die erste Haber-Bosch-Fabrik errichtet. Trotz der Ammoniaksynthese konnte Deutschland im Krieg freilich nur deshalb genügend Schießpulver herstellen, weil es zusätzlich noch die Stickstoffvorräte der Landwirtschaft plünderte – mit entsprechenden Folgen für die Ernährungslage der deutschen Bevölkerung.
Nach dem Krieg wurde das Ammoniak, das die Armeen nicht mehr brauchten, zur Herstellung von Kunstdünger verwendet. Deutschland blieb mit der I.G. Farben, die 1925 aus einer Fusion der großen Chemiefirmen entstanden war und deren Aufsichtsrat Fritz Haber und Carl Bosch angehörten, blieb in der Ammoniakproduktion lange Zeit führend.
Stickstoffdünger wurde dann ein Pfeiler der landwirtschaftlichen Revolution des 20. Jahrhunderts (neben weiteren Agrochemikalien, einer verwissenschaftlichten Zucht und der Mechanisierung). Bis dahin hatten Bauern nur wenige Möglichkeiten, den Stickstoff in ihren Böden zu erneuern. Möglichst alle biologischen Abfälle mussten zurück auf die Felder. Tiere, die in Wäldern und auf Weiden grasten und deren Mist und Gülle die Bauern auf die Äcker brachten, dienten als Stickstofftransporteure. Und gewisse Pflanzen, die Leguminosen (dazu gehören etwa Klee und Luzerne sowie Bohnenpflanzen), können Luftstickstoff fixieren, oder genauer: sie beherbergen in ihren Wurzeln Bakterien, die das für sie tun. Seit dem 16. Jahrhundert hatte die Landwirtschaft in den Niederlanden begonnen, Leguminosen-Fruchtfolgen anzuwenden, um die Bodenfruchtbarkeit zu erneuern – eine Agrartechnik, die sich sehr langsam über Europa verbreitete und Süd- und Osteuropa erst im 19. Jahrhundert erreichte.
All das war dank der Erfindung von Fritz Haber nun nicht mehr nötig. Regionen, die von der Agrarrevolution des 20. Jahrhunderts erreicht wurden, steigerten ihre Flächenerträge mit Hilfe von Kunstdünger um das Zehnfache. Der Charakter der Landwirtschaft änderte sich grundlegend. Versorgte sich ein Hof zuvor selber mit fast allem, was er brauchte – Hofdünger, Futter, Saatgut –, so wurde er nun zu einem Betrieb, der hoffremde Stoffe umsetzte. War die Landwirtschaft einst neben der Forstwirtschaft wichtigster Energielieferant – sie produzierte Energie in Form von Nahrung und Futter und Brennstoffe wie Bienenwachs und Lampenöle –, so wurde sie nun zur Netto-Energieverbraucherin: Für jedes Kilogramm Stickstoff verbraucht das Haber-Bosch-Verfahren einen Liter Erdöl.
Ab den 1960er Jahren unternahmen die Weltbank, die Rockefeller-Stiftung und weitere Partner große Anstrengungen, die neuen Agrartechniken in der so genannten Dritten Welt zu verbreiten. Aus der Sicht ihrer Fürsprecher war diese «Grüne Revolution» ein Segen für Hunderte von Millionen Menschen, und gewiss wäre die Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert ohne sie nicht von 1,5 auf 6 Milliarden explodiert. Gleichwohl ist die häufig geäußerte Meinung, ohne synthetischen Stickstoffdünger könnte die Erde nur 4 Milliarden Menschen oder weniger ernähren, problematisch: Sie vergisst, dass es auch ohne Kunstdünger landwirtschaftlichen Fortschritt gab. Die Landwirtschaft kann mit dem heutigen Wissen viel gezielter mit den Mikroorganismen des Bodens arbeiten – sofern sie sie nicht mit Agrochemikalien, Monokulturen und zu schweren Traktoren abtötet.
Heute wird die «Grüne Revolution» kontrovers beurteilt. Der breit abgestützte Weltlandwirtschaftsrat (IAASTD) schrieb 2008 etwas umständlich, aber deutlich: «Die moderne Landwirtschaft brachte bedeutende Ertragssteigerungen. Aber ihre Früchte waren ungleich verteilt und fordern einen zunehmend untragbaren Tribut, den Kleinbauern, ländliche Gemeinschaften und die Umwelt entrichten.»
Denn die «Grüne Revolution» favorisiert eine bestimmte, kapitalintensive Produktionsweise. Kunstdünger verbilligt die Produktion, aber man muss ihn sich erst einmal leisten können. Dasselbe gilt für Landmaschinen und modernes Saatgut. Wer das nötige Kapital nicht aufbringt, kann mit den tiefen Weltmarktpreisen nicht mehr mithalten. Für Marcel Mazoyer, Ko-Autor einer monumentalen Welt-Agrargeschichte, ist die «Grüne Revolution» eine der wichtigsten Ursachen der globaler Armut: Verarmte Bauern und ihre Angehörigen machten unter den Allerärmsten der Welt die große Mehrheit aus.
Vor allem aber sind die ökologischen Folgen dramatisch. Nie zuvor hat der Mensch so massiv in einen natürlichen Stoffkreislauf eingegriffen. Laut dem Millenniums-Umweltbericht der Uno setzt der Mensch heute mehr Stickstoff um als sämtliche natürlichen Prozesse zusammen: etwa 115 Millionen Tonnen jährlich, 100 Millionen davon für die Düngerproduktion. Jedes zweite Stickstoffatom in unseren Körpern hat ein Haber-Bosch-Verfahren durchlaufen. Manche Gewässer sind um das Fünfzehnfache des natürlichen Niveaus mit Stickstoff überdüngt. Und schließlich trägt Stickstoffdüngung zur Klimaerwärmung bei – durch den enormen Energieverbrauch bei der Düngerherstellung, aber auch, weil mit Stickstoff überdüngte Böden Lachgas (N2O), ein potentes Treibhausgas, freisetzen.
Der Name Fritz Haber ist mit dem Ersten Weltkrieg aber nicht nur wegen der Ammoniaksynthese eng verbunden. Als Leiter der Chemieabteilung in der Behörde für Kriegsrohstoffe war er – obgleich mit Pazifisten wie Albert Einstein befreundet und gegen den Widerstand seiner ersten Frau Clara – einer der Väter des deutschen Gaskriegs. Am 22. April 1915 beaufsichtigte er bei Ypern (Belgien) den ersten Giftgasangriff des Ersten Weltkriegs. Das deutsche Heer versprühte Chlor, das in der chemischen Industrie in großen Mengen als Abfallstoff anfiel. Tausende französische und afrikanische Soldaten starben elend. Eine Woche später erschoss sich Habers Frau Clara.
Haber jedoch wirkte unbeirrt weiter an der Entwicklung «besserer» Kampfgase mit, veranlasste den Einsatz des noch giftigeren Phosgen und war an der Entwicklung von «Blaukreuz»-Kampfstoffen beteiligt, die durch Gasmasken dringen und einen so starken Brechreiz verursachen, dass sie den getroffenen Soldaten zwingen, seine Gasmaske auszuziehen, will er nicht an seinem Erbrochenen ersticken. Vom Einsatz von Senfgas riet Haber – vergeblich – ab, solange die Reichswehr über keine Schutzmittel verfüge.
Weil Haber fürchtete, als Kriegsverbrecher an die Ententemächte ausgeliefert zu werden, flüchtete er 1919 kurzzeitig in die neutrale Schweiz. Die preußische Akademie der Wissenschaften empörte sich dagegen, dass ein Wissenschaftler, der nur seine «sittliche Pflicht» erfüllt habe, «wie gemeine Verbrecher verfolgt» werden sollte. Als das Nobelpreiskomitee Haber im November 1919 rückwirkend den Nobelpreis für 1918 zusprach, war das auch ein Bekenntnis zur Idee der unschuldigen Wissenschaft. Haber zog nun zurück nach Berlin und wurde nie mehr für seine Aktivitäten im Krieg zur Rechenschaft gezogen.
Als Beamter des Reichsamts für wirtschaftliche Demobilmachung blieb er im Dienste Deutschlands tätig. Und er stellte seine Wissenschaft weiter in den Dienst der Tötungstechniken: Noch vor Kriegsende hatte er den Vorsitz des Technischen Ausschusses für Schädlingsbekämpfung übernommen. Doch das Vaterland erwies sich als undankbar. Seit 1911 leitete Haber im Zivilleben das neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin (heute: Fritz-Haber-Institut). Als Hitler 1933 die Macht ergriff – die I.G. Farben, in deren Aufsichtsrat Haber noch immer saß, hatte seinen Wahlkampf unterstützt –, entließ der nationalsozialistische Staat alle jüdischen Mitarbeiter der Kaiser-Wilhelm-Institute. Wegen seiner jüdischen Herkunft und weil ein Nazi-Spitzel im Ausland belauscht hatte, wie er sich negativ über Hitler äußerte, demissionierte Haber und emigrierte, um seiner Entlassung und Verfolgung zuvorzukommen.
Er sei, schrieb er in seinem Abschiedsbrief an das KWI, als Direktor des Instituts «22 Jahre bemüht gewesen, im Frieden der Menschheit und im Kriege dem Vaterlande zu dienen.» Das KWI wurde unter den Nazis, was es unter Habers Leitung im Ersten Weltkrieg gewesen war: eine Stätte militärischer Forschung. Anfang 1934, schwer krank, von der Emigration erschöpft und lebensmüde, starb Haber auf der Durchreise in Basel.
Es ist eine besonders brutale Ironie der Geschichte, dass die Nazis in den Vernichtungslagern Menschen mit Zyklon B ermordeten. Das Gas hatte die Schädlingsbekämpfungsbehörde Habers entwickelt.
Marcel Hänggi
> Siehe auch: Peak Oil – Lernen aus «Peak Stickstoff»? Telepolis, 19. September 2009