Tra Linh 3 ist ein kleines Flusskraftwerk in Vietnam, das dereinst jährlich 14 853 Tonnen CO2 vermeiden soll. Diese Zahl ist zwar einigermassen hypothetisch – das Kraftwerk ist noch gar nicht in Betrieb –, aber für die Stadtwerke Bremen ist sie wichtig: Sie benötigen seit 2005 Berechtigungen, um CO2 ausstossen zu dürfen. Und weil sie in Tra Linh 3 investieren, dürfen sie das dort eingesparte CO2 mit den eigenen Emissionen verrechnen. CO2, ob ausgestossen oder vermieden, ist eine Handelsware.
Ungenau ist schon der Begriff: «Emissionshandel» bezeichnet nur die Hälfte des Instruments. Besser ist der englische Fachbegriff «Cap and Trade». «Cap» heisst Begrenzung (wörtlich Deckel) und bezeichnet den umweltwirksamen Teil des Instruments: Der Staat oder eine Staatengemeinschaft begrenzt die Menge der Emissionen, die die Wirtschaft verursachen darf. Im Gegensatz zu einer herkömmlichen Rationierungsmassnahme ist es aber erlaubt, mit den Bezugsscheinen zu handeln – das ist das «Trade»-Element, der Handel.
Angenommen, die Unternehmen A und B stossen je 1 Million Tonnen CO2 pro Jahr aus, erhalten aber nur Emissionsberechtigungen für je 900 000 Tonnen. 100 000 Tonnen einzusparen käme das Unternehmen A sehr teuer zu stehen, während das Unternehmen B billig reduzieren kann. Auf dem Emissionsmarkt finden sich die beiden: B reduziert statt 100 000 Tonnen gleich doppelt so viel und verkauft die Emissionsberechtigungen, die es nun nicht mehr benötigt, an A. Das Unternehmen A braucht nun nicht mehr zu reduzieren – beide gewinnen.
Bremen, Deutschland
Michael de Jong ist bei den Stadtwerken Bremen für den Emissionshandel verantwortlich. «Im Grunde überlegen wir permanent, ob wir eine Kilowattstunde Strom produzieren und die dafür nötigen Emissionsberechtigungen einsetzen sollen, oder ob es günstiger ist, die Emissionsberechtigungen zu sparen und den benötigten Strom einzukaufen.» So wird erreicht, dass die Anlagen, die pro Kilowattstunde am meisten CO2 verursachen (und also am meisten Emissionsberechtigungen brauchen), zuerst unrentabel werden.
Die Ökonomen nennen das effizient. Für einen Euro, argumentieren die Befürworter des Systems, gebe es so mehr Klimaschutz. Treffender wäre: für weniger Euro gäbe es gleich viel Klimaschutz. Dem Vorteil der ökonomischen Effizienz entspricht nämlich der Nachteil, dass Übererfüllung (theoretisch) ausgeschlossen ist. So haben zwar viele osteuropäische Staaten ihre Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll übererfüllt – nicht wegen vorbildlicher Politik, sondern weil ihre Industrien nach der Wende in den 1990er Jahren eingebrochen sind. In Russland etwa fielen die CO2-Emissionen um 40 Prozent. Wegen des Handels kommt dieser Rückgang nun aber nicht dem Klima zugute, denn Russland kann seine überschüssigen Emissionsberechtigungen verkaufen, beispielsweise an Spanien, das dafür umso mehr Treibhausgase ausstossen darf.
Die erste Periode des europäischen Emissionshandels dauerte von 2005 bis 2007; die zweite Handelsperiode läuft noch bis Ende 2012. Ausser den EU-Staaten sind Norwegen, Island und Liechtenstein beteiligt; die Schweiz verhandelt über eine Teilnahme. Weil es unmöglich ist, die Emissionen jedes Autos, jedes Haushalts, jeder Fabrik zu erfassen, unterwirft die EU «nur» rund 12 000 Unternehmen aus Stromerzeugung und fünf besonders emissionsintensive Industriebranchen dem Handelssystem. Damit sind rund die Hälfte der CO2-Emissionen der beteiligten Länder erfasst.
Für Michael de Jong begann der Emissionshandel 2004 mit dem Stellen von Anträgen um Zuteilung von Emissionsberechtigungen. Die Zuteilung nehmen die Umweltbehörden des jeweiligen EU-Mitgliedstaats vor. Der Löwenanteil der Berechtigungen wird gratis abgegeben. Die einzelnen Staaten wiederum müssen ihre Zuteilungspläne von der EU-Kommission absegnen lassen, damit kein Staat seine Industrie bevorzugt.
Die Grundidee der Vergabe ist die: Die beteiligten Branchen erhalten Emissionsberechtigungen für die Menge CO2, die sie in den vergangenen Jahren tatsächlich verursachten, minus das Reduktionsziel. Es wird aber nicht bei allen Unternehmen gleich viel gekürzt: Für Anlagen, die die meisten Kilowattstunden mit den wenigsten CO2-Emissionen erzeugen, bekommen die Unternehmen annähernd so viele Emissionsberechtigungen, wie sie in der Vergangenheit benötigt hätten, während bei ineffizienten Anlagen stärker gekürzt wird. So erhalten die Stadtwerke Bremen für Block 5 des Kraftwerks Hafen für die Jahre 2008 bis 2012 nur 62 Prozent dessen zugeteilt, was dieses Werk in den vergangenen Jahren ausstiess. Denn Block 5 wird hauptsächlich mit Kohle befeuert, die besonders viel CO2 freisetzt, und die vierzigjährige Anlage ist von der Effizienz moderner Kraftwerke weit entfernt.
Insgesamt erhalten die Stadtwerke Bremen in der laufenden Handelsperiode jährlich 4 495 826 Emissionsberechtigungen à je 1 Tonne zugeteilt. Da die Tonne CO2 an der Börse gegenwärtig einen Preis von 13 Euro erzielt, entspricht das 58 Millionen Euro – eine erkleckliche Summe für ein Unternehmen, das 2008 einen Überschuss von knapp 40 Millionen erwirtschaftete. Immer im Frühjahr wird abgerechnet: Dann müssen die Unternehmen den Behörden die Emissionsstatistiken für das vergangene Jahr vorlegen.
An sich lassen sich die Emissionen aus der Menge der verbrannten Energieträger errechnen. Doch nicht jede Kohle ist gleich, nicht jeder Liter Treibstoff identisch. Vor allem beim Naturstoff Kohle, sagt de Jong, könne der Kohlenstoffgehalt erheblich schwanken. Für die jährliche CO2-Berichterstattung müssen die Stadtwerke Bremen deshalb chemische Analysen ihrer Brennstoffe erstellen lassen, um die genaue Emissionsmenge zu errechnen. Für 2008 ergab diese Rechnung 5 395 770 Tonnen. Für jede Tonne muss das Unternehmen bei den Behörden nun eine Emissionsberechtigung einlösen. Weil die Stadtwerke Bremen nur 4 495 826 Berechtigungen erhalten haben, mussten sie folglich 899 944 Berechtigungen im Wert von rund 12 Millionen Euro zukaufen.
Für Kritiker ist die Gratisvergabe der meisten Emissionsberechtigungen einer der grössten Fehler des Handelssystems. Geht man davon aus, dass die Atmosphäre allen «gehört», müssten die Staaten die Emissionsberechtigungen versteigern und den Erlös den Bürgern verteilen. Das wird heute teilweise schon gemacht: In Deutschland etwa werden 9 Prozent der ausgegebenen Berechtigungen versteigert statt verschenkt.
Wie es funktioniert
Effizienter wäre es, mit dem Handel dort anzusetzen, wo der Kohlenstoff ins Wirtschaftssystem eingespeist wird: bei den Importeuren und Förderern von Kohle, Öl und Gas. Der Verwaltungsaufwand wäre erheblich geringer, und es würden sämtliche Emissionen erfasst. Es scheint, dass dazu der politische Mut fehlt – mit hohen Benzinpreisen weckt man den Volkszorn. Oder wie es der «Economist» sarkastisch auf den Punkt gebracht hat: Der politische Vorteil des gegenwärtigen Systems sei seine Intransparenz.
Dass gerade die EU im Emissionshandel eine Vorreiterrolle einnimmt, entbehrt nicht der Ironie: In den Verhandlungen um das Kyoto-Protokoll in den 1990er Jahren lehnte die damalige EG, zusammen mit den Entwicklungs- und Schwellenländern, die Einrichtung eines Marktes zwischen den Staaten ab, wie ihn vor allem die USA propagierten. Man wollte «Cap» ohne «Trade». Nun hat die EU sogar den problematischsten Aspekt des Kyoto-Emissionshandels übernommen: die Möglichkeit, Emissionen zu «kompensieren».
Holen wir ein wenig aus: Das Kyoto-Protokoll unterwirft die Industriestaaten einem Cap; insgesamt sollten sie ihre Treibhausgasemissionen um 5,2 Prozent senken. Ausserhalb des Caps stehen alle anderen Staaten. Die Idee dahinter ist, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer einen legitimen Anspruch darauf haben, mehr Treibhausgase auszustossen, weil sie das in der Vergangenheit kaum getan haben.
Ein Handel mit Emissionsberechtigungen ist nur für Industrieländer vorgesehen. Aber der sogenannte Clean Development Mechanism (Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung, CDM) gibt den Entwicklungs- und Schwellenländern eine Möglichkeit, sich daran zu beteiligen: Industriestaaten dürfen nämlich in Projekte investieren, die in den Schwellenländern Emissionen verringern (beziehungsweise deren Zuwachs bremsen). Tun sie das, dürfen sie die eigenen Emissionen um genauso viel erhöhen. Die EU erlaubt ihren Unternehmen, einen Teil ihrer Verpflichtungen mit Gutschriften aus dem CDM zu erfüllen, so dass sich die beiden Märkte hier überlappen.
Zu kompliziert? Im Grunde ist das nichts anderes, als wenn eine Bewilligung, Wald zu roden, an die Auflage geknüpft ist, dieselbe Waldfläche anderswo aufzuforsten. Allerdings wird in diesem Fall Wald, der tatsächlich gerodet wird, kompensiert durch Wald, der tatsächlich aufgeforstet wird. Emissions-Offsets dagegen «kompensieren» Treibhausgase, die tatsächlich ausgestossen werden, durch solche, die mutmasslich ausgestossen worden wären, wenn die «Kompensation» nicht stattgefunden hätte.
Auch dieses Denken in hypothetischen Kategorien ist im Alltag durchaus vertraut: Es ist, wie wenn jemand sagt, er fahre der Umwelt zuliebe mit der Bahn in die Ferien. Zwar belastet auch die Bahnfahrt die Umwelt. Aber in dem Satz steckt die Aussage: «Eigentlich würde ich fliegen.» Was man «der Umwelt zuliebe» tut, ist die Differenz zwischen der Umweltbelastung der tatsächlichen Bahnfahrt und der Umweltbelastung des hypothetischen Flugs. Wer «kompensiert», der fliegt zwar selber, doch er bezahlt jemand anderen dafür, dass er auf seinen Flug verzichtet. Übertragen auf den Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung, heisst das: Die Reduktion besteht in der Differenz der Treibhausgase, die in einer Welt mit dem Kompensationsprojekt ausgestossen werden, zu den Treibhausgasen, die in einer Welt ohne das Projekt ausgestossen würden.
Wichtig ist zudem, dass die Bahnfahrt tatsächlich «der Umwelt zuliebe» stattfindet. Wer mit der Bahn fährt, weil er merkt, dass das schneller, bequemer und billiger ist als die Autofahrt, wird sich das nicht als Leistung für die Umwelt an die Brust heften können. Man nennt diese Bedingung «Additionalität». Wäre das eingangs erwähnte Kraftwerk Tra Linh 3 in Vietnam sowieso gebaut worden, würde es keine Emissionen verringern. Die Investoren müssen deshalb nachweisen, dass Tra Linh 3 «additionell» ist.
Abgesehen von der Schwierigkeit, mit hypothetischen Szenarios zu rechnen, wird hier ein Problem solcher Projekte sichtbar: Es belohnt Umweltsünder – und hält sie unter Umständen davon ab, sich zu bessern. Es lohnt sich nämlich nicht, einem, der sowieso lieber Bahn fährt, Geld dafür zu geben, dass er aufs Fliegen verzichtet. Staaten mit strengeren Umweltvorschriften haben ein besseres «Baseline-Szenario», das in der Berechnung von Emissionsreduktionen zu schlechteren Resultaten führt.
Es lohnt sich auch nicht, jemanden zum Verzicht auf den Flug zu motivieren, der sich gar keine Ferien leisten kann. Der CDM richtet sich deshalb nicht an die ärmsten Länder. Von den gegenwärtig über 2000 registrierten Projekten befinden sich drei Viertel in den grossen Schwellenländern China, Indien, Brasilien und Mexiko, aber nur 37 in Afrika, und davon wiederum fast die Hälfte in Südafrika.
Tra Nam, Provinz Quang Nam, Vietnam.
Die Bauherren des geplanten Kraftwerks Tra Linh 3 in Tra Nam, Provinz Quang Nam, deponieren am 21. Januar 2003 eine erste Eingabe für ihr Projekt beim CDM-Exekutivrat des Uno-Klimasekretariats. Quang Nam ist eine arme, dünn besiedelte Bergprovinz. Vietnam, heisst es in der Projektbeschreibung, habe in den vergangenen Jahren immer wieder unter Versorgungsengpässen gelitten, weil das Angebot an elektrischem Strom mit der Nachfrage nicht Schritt gehalten habe – mit negativen Folgen für das Wirtschaftswachstum und den Alltag der Menschen. Das Wasserkraftprojekt helfe, «einen Teil des Stroms zu ersetzen, der sonst von Verbrennungskraftwerken bereitgestellt würde», und trage zu ökonomischer und sozialer Wohlfahrt und damit zu einer nachhaltigen Entwicklung bei.
Die Projekteingabe enthält zahlreiche Formeln zur Berechnung der Treibhausgaseinsparungen. Diskutiert werden die ökologischen wie die sozioökonomischen Auswirkungen des Projekts. Während der Bautätigkeit gebe es ein Abfallkonzept, und Wald, der für den Bau gerodet werde, werde nach Inbetriebnahme wieder aufgeforstet. 34 Hektaren Land werden überbaut; Familien, die deswegen ihr Land verlassen müssten, würden fair entschädigt. Vertreter der lokalen Bevölkerung stünden hinter dem Projekt. Die Bauherrschaft hat ihnen versprochen, für die dreissig Stellen, die Tra Linh 3 schafft, nach Möglichkeit Leute aus der lokalen Bevölkerung einzustellen.
Die Treibhausgasreduktionen werden auf der Basis der Annahme berechnet, dass das neue Kraftwerk 7,2 Megawatt einer herkömmlichen Stromerzeugung überflüssig machen wird. Diese Annahme ist heikel, denn das Kraftwerk soll ja zum Wirtschaftswachstum beitragen – was wiederum zusätzliche Emissionen verursachen wird. Solch indirekte Wirkungen kann die Methodologie des CDM nicht erfassen.
Hamburg, Deutschland
Sonja Butzengeiger vom Hamburger Beratungsbüro Perspectives hat die Stadtwerke Bremen bei der Einführung des Emissionshandels beraten. Sie war es, die den Kontakt zu Tra Linh 3 vermittelte. Von allein würden sich Projekte und potentielle Investoren kaum finden. Perspectives, sagt Butzengeiger, sei aufgrund langjähriger Erfahrungen mit dem CDM in der Lage, die Chancen eines Projekts auf Zulassung und seine Seriosität abzuschätzen. Der Kontakt sei über den vietnamesischen CDM-Projektentwickler gelaufen, mit dem man schon lange zusammenarbeite.
Ob man Emissionsberechtigungen an einer Börse wie etwa der Energy Exchange in Leipzig kaufe oder in CDM-Projekte investiere, sei für die Stadtwerke Bremen in erster Linie ein wirtschaftlicher Entscheid, sagt Michael de Jong. Eine Investition in ein Projekt wie Tra Linh 3 bringt wie jede Investition Risiken mit sich: Kommt das Projekt tatsächlich zustande? Wird es anerkannt? Liefert es die gewünschte Menge Zertifikate? Fast alle CDM-Projekte, in die die Stadtwerke Bremen investiert hätten, seien verspätet, sagt de Jong. Tra Linh 3 sollte seit Mitte 2009 in Betrieb sein und CO2-Zertifikate liefern. Tatsächlich ist noch nicht einmal das Zulassungsverfahren abgeschlossen; am 15. Januar 2010 lief die Einsprachefrist ab (es gab keine Einsprachen). Dafür dürften die Zertifikate am Ende 20 bis 30 Prozent günstiger sein als der Marktpreis, schätzt de Jong.
Es gab aber noch eine andere Motivation, in Tra Linh 3 zu investieren: Wer Zertifikate einfach an der Börse kaufe, wisse nicht, was dahinterstecke. Mit Tra Linh 3 habe man ein konkretes Projekt, zu dem man hinfahren und das man gegebenenfalls für Imagekampagnen nutzen könne, sagt de Jong.
Ist das Projekt beim CDM-Exekutivrat angemeldet, muss der Betreiber das Gutachten einer unabhängigen Validierungsstelle vorlegen. Im Falle von Tra Linh 3 ist das die deutsche TÜV Nord Cert Gmbh. Ein solches Gutachten ist wichtig, weil der Kauf eines Zertifikats aus einem CDM-Projekt etwas anderes ist als der Kauf von, sagen wir, Brot: Verlangt ein Kunde im Laden zwei Brote und bezahlt auch zwei, so wird er reklamieren, wenn er nur eines erhält. Im Handel mit Offsets dagegen ist der Kunde an der Quittung interessiert. Steht auf der Quittung die richtige Menge Treibhausgase drauf, kann es ihm egal sein, ob diese Gase tatsächlich vermieden wurden oder nicht. (Leider hat TÜV Nord trotz mehrmaligen Nachhakens die Fragen des «Folio» nicht beantwortet.)
Aber nicht alle Validierer – die ihrerseits vom CDM-Exekutivrat kontrolliert werden – arbeiten seriös. Der «Guardian» berichtete 2007 über vier CDM-Projekte in Indien, die von Ernst & Young validiert wurden. Ernst & Young zitierte Leute, die sie angeblich vor Ort befragt hatte. In allen vier Gutachten waren ihre Aussagen identisch – inklusive Schreibfehlern. Axel Michaelowa, ein Mitgründer von Perspectives, hat 2006 im Auftrag des WWF die 52 damals registrierten CDM-Projekte in Indien unter die Lupe genommen. Ein Drittel davon waren nicht additionell und hätten nicht anerkannt werden dürfen. Eine Studie der Universität Stanford kam 2008 zum Fazit, dass «einem großen Teil des gegenwärtigen CDM-Marktes keine tatsächlichen Emissionsreduktionen entsprechen». Unterdessen, sagt Michaelowa, habe sich die Situation auch wegen des öffentlichen Drucks etwas verbessert. Der CDM-Exekutivrat prüfe die Projekte genauer. 2008 und 2009 wurde je einer fehlbaren Agentur die Berechtigung, CDM-Projekte zu validieren, vorübergehend entzogen – darunter der Marktführerin, der Genfer Société Générale de Surveillance.
Grundsätzlich gibt es zwei Wege, CO2 einen Preis zu geben: mittels einer CO2-Abgabe, wie sie die Schweiz (für Brennstoffe, nicht aber für Treibstoffe) kennt und wie auch die französische Regierung sie gern einführen möchte, oder mittels eines Cap-and-Trade-Systems. Aus ökonomischer Sicht sind beide gleichwertig; der Unterschied besteht darin, dass der Staat bei der CO2-Abgabe den Preis festlegt, während er beim Cap and Trade das Reduktionsziel vorgibt und der Preis sich auf dem Markt bildet. Dass sich die EU für Cap and Trade statt für eine CO2-Abgabe entschieden hat, liegt vor allem daran, dass die Kommission Abgaben nur mit Zustimmung sämtlicher Mitgliedstaaten einführen kann.
Nachdem der CO2-Preis in der ersten Handelsperiode eingebrochen ist und gegen null tendiert hat, liegt er gegenwärtig einigermassen stabil zwischen 10 und 15 Euro pro Tonne. Den letzten deutlichen Rückgang brachte die erfolglose Kopenhagener Klimakonferenz. Theoretisch sollte der Emissionshandel irgendwann von allein schrumpfen: Es sollen ja mit jeder Handelsperiode weniger Emissionsberechtigungen ausgegeben werden, und während einer Periode nähern sich die Grenzkosten der CO2-Vermeidung aller Marktteilnehmer – theoretisch – an, so dass der Markt nur noch Restschwankungen auffangen müsste.
Vorerst aber ist CO2 ein Wachstumsmarkt. Weniger als 10 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen werden bis anhin gehandelt, da ist noch viel Raum für Expansion. Die Regierung Obama will einen Emissionshandel für die USA einrichten, andere Staaten wollen sich anschliessen. Beobachter rechnen bei dem Geschäft mit jährlichen Handelsvolumina im Billionenbereich. Der «Rolling Stone»-Journalist und Finanzmarktkritiker Matt Taibbi sieht nach der Hypotheken- bereits die CO2-Blase entstehen. Abzuschaffen dürfte der CO2-Handel bereits nicht mehr sein: zu viele Interessen sind schon mit ihm verbunden.
Marcel Hänggi