Marcel Hänggi
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Demütige dich selbst

2/16/2006

 
Die Jugendanwaltschaft klagt ein Kind an, nachdem es von einem Auto angefahren worden ist. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 16. Februar 2006

Es gibt einen verräterischen Satz in der Anklageschrift der Jugendanwaltschaft Schaffhausen (JugA) gegen Susanne Koch: «Für Verkehrsteilnehmer war diese Vormarkierung auf der Strasse schlecht erkennbar.» Die Rede ist von einer Stelle der Schaffhauser Emmersbergstrasse, an der sich normalerweise ein Fussgängerstreifen befindet, wo zu dem Zeitpunkt, von dem hier die Rede ist, aber der Belag erneuert wurde, sodass der Streifen lediglich mit Kreidestrichen markiert war. Für FussgängerInnen sind solche provisorischen Markierungen gut sichtbar; «schlecht erkennbar» sind sie einzig für (ortsunkundige) MotorfahrzeugfahrerInnen. Die Formulierung der JugA impliziert: VerkehrsteilnehmerIn ist, wer sich mit Motor bewegt.
Doch der Reihe nach. Am 18. August 2004 ist die damals nicht ganz achtjährige Susanne Koch unterwegs zum Munot-Kinderfest. Sie betritt die Fahrbahn auf dem nur provisorisch markierten Fussgängerstreifen hinter einem stehenden Bus - entgegen den Normen zur Strassenmarkierung befindet sich der Streifen hier unmittelbar hinter dem Busstopp. Als Susanne auf der anderen Strassenseite plötzlich ein Auto auf sich zufahren sieht, beginnt sie zu rennen, um sich in Sicherheit zu bringen - das ist ihre Darstellung. Das Auto fährt Susanne an, sie wird leicht verletzt.

Am vergangenen Dienstag kam der Fall vor Gericht. Angeklagt war nicht der Automobilist, sondern das Unfallopfer. Und das kam so: Susanne sagt nach dem Unfall aus, sie sei auf dem Fussgängerstreifen gerannt. Der (ortskundige) Automobilist sagt, er sei mit zwanzig Stundenkilometern gefahren und das Kind sei unvermittelt hinter dem Bus hervorgerannt. Das Verfahren gegen ihn wird eingestellt. Dafür eröffnet die Jugendanwaltschaft ein Verfahren gegen Susanne: Sie habe die Strasse unvorsichtig betreten und damit das Strassenverkehrsgesetz, Artikel 49, Absatz 2, verletzt. Das Recht des Automobilisten, selbst an einer Stelle, wo sich normalerweise ein Fussgängerstreifen befindet, nicht mit dem Auftauchen von Fussgängern hinter dem Bus rechnen zu müssen, wird höher gewertet als das Recht eines Kindes, sich im Strassenverkehr normal zu verhalten. Auf eine Strafe verzichtet die JugA, doch sollen die Eltern die Verfahrenskosten übernehmen. Weil die Eltern rekurrierten, kam es zum Prozess.

Der Fall hat Wellen geworfen. «10 vor 10» hat mehrmals berichtet, beim Magazin des «SonntagsBlicks» war Susanne auf der Titelseite. Der Gerichtspräsident richtet deshalb, bevor er die Verhandlung eröffnet, mahnende Worte an die zwanzig anwesenden JournalistInnen, sie sollten doch bitte unvoreingenommen berichten.

Doch wer bis dahin neutral war, verliert seine Neutralität spätestens beim Plädoyer der Jugendanwältin: Die Angeklagte habe sich widersprüchlich geäussert (als Beispiel zitiert die Jugendanwältin die Aussage «Ich bi schnäll grännt, äh gloffe»). Ausserdem habe Susanne gesagt, sie sei «diagonal» über die Strasse gerannt. Da «diagonal» kein Wort aus dem Wortschatz einer Achtjährigen sei, handle es sich hier offenbar um eine Einflüsterung von Erwachsenen. Während also an den Aussagen des Kindes zu zweifeln sei, könnten die des Automobilisten «als erwiesen» gelten, da sonst die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn nicht unangefochten hätte einstellen können. Eine Auswertung der Bremsspuren interessiert die Jugendanwältin nicht - nach Berechnungen der Verteidigung war der Autofahrer mit 35 bis 39 Stundenkilometern unterwegs. Die Angeklagte habe gewusst, dass sie sich nicht korrekt verhalte (hier runzelt die aufmerksam zuhörende Susanne die Stirn). Hätte sie sich an den Grundsatz «luege, lose, laufe» gehalten, hätte sie die Fahrbahn gar nie betreten dürfen, da sie ja wegen des Busses die Gegenfahrbahn nicht habe sehen können.

Einen Punkt betonten sowohl die Anklage wie die Verteidigung: dass Susanne sich auf das Munotfest gefreut habe. Die Verteidigung weist darauf hin, dass widersprüchliche Emotionen und Wahrnehmungen das Verhalten eines Kindes bestimmen: die Freude auf das Fest, das gelernte Verhalten im Strassenverkehr, der Schreck über das unerwartete Auto. Sie plädiert dafür, auf kindlich-emotionales Verhalten Rücksicht zu nehmen. Die Jugendanwältin hingegen wirft Susanne vor, wegen ihrer Fest-Vorfreude ihr Wissen über das richtige Verhalten missachtet zu haben - in ihrer Logik hat das Kind seine Emotionen dem Verkehr anzupassen.

Die Empörung in der Öffentlichkeit über die JugA war im Vorfeld des Prozesses gross. Doch diese Empörung ist nicht frei von einer gewissen Heuchelei. Denn das Vorgehen und die Argumentation der JugA - ihre einseitige Betrachtung des Geschehens aus der Perspektive des Autoverkehrs - ist Ausdruck davon, wie auf unseren Strassen mit Kindern umgegangen wird. Es ist Ausdruck davon, dass FussgängerInnen marginalisiert und Kinder vom Lebensraum Strasse verdrängt werden. So sind in der Expertengruppe Verkehrssicherheit des Bundes Kinderinteressen nicht vertreten; ein Antrag, eineN VertreterIn der Kinder in dieses vierzigköpfige Gremium aufzunehmen, wurde jüngst abgelehnt.

Die JugA bot Susanne Koch zu Beginn der Verhandlung einen Kuhhandel an: Sie werde für Einstellung des Verfahrens plädieren, wenn Susanne eingestehe, dass ihr Verhalten falsch gewesen sei. Die JugA wollte Susanne nie bestrafen: Sie will sie erziehen - die Jugendanwältin spricht von ihrer «spezialpräventiven Aufgabe» -, disziplinieren für einen Strassenverkehr, der Zufussgehende und insbesondere Kinder täglich demütigt. Wäre Susanne bereit, sich selbst zu demütigen, die JugA liesse sie in Ruhe.

Der Gerichtspräsident spricht Susanne Koch frei. Ihr Verhalten sei das normale Verhalten eines Kindes.

Marcel Hänggi


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    Autor

    Marcel Hänggi, ​Zürich
    wissenschaftlicher Mitarbeiter Verein Klimaschutz Schweiz (Gletscher-Initiative)
    Journalist | Buchautor
    ​dipl. Gymnasiallehrer


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