Marcel Hänggi
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Demokratie ohne Erdöl?

22/11/2007

 
Interview mit Rolf Peter Sieferle, Professor für Geschichte an der Universität St. Gallen. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 22. November 2007

BildFoto: Uni St. Gallen
Vorbemerkung: Rolf Peter Sieferle, der 2016 starb, hat sich in seinen jüngsten öffentlichen Aussagen und Publikationen wie «Finis Germania» (postum 2017; laut «Tages-Anzeiger» eine «besonders perfide antisemitische Schrift») als rechtsradikaler Autor geoutet. Ich wusste, als ich Sieferle 2007 interviewte, nichts von seiner Gesinnung, und ich merkte auch nichts davon bei der Lektüre seiner umwelthistorischen Schriften oder beim Interview. Entwerten spätere unsägliche Äusserungen eines Autors das, was er früher sagte? Auf jeden Fall ist Sieferle ein Beispiel für den Umstand, der mich erschreckt, dass ein ökologisches Denken, das ich für richtig und wichtig halte, zu kulturpessimistischen bis menschenverachtenden Ansichten führen kann. 


Von seinem Schreibtisch der Universität St. Gallen aus sieht Rolf Peter Sieferle einen Bauernhof mit Futtersilo. Um so bodenständige Dinge wie Futter – allgemeiner: um Energie- und Materialflüsse – dreht sich die Arbeit des Historikers. Sieferle gehört zu den Begründern des Konzepts des «gesellschaftlichen Stoffwechsels». Grob lassen sich gemäss diesem Konzept in der Geschichte drei grosse Energiesysteme ausmachen: Jäger- und Sammlergesellschaften schöpften Energie aus den solaren Energieflüssen, indem sie der Natur essbare Pflanzen, Fleisch und Brennholz entnahmen. Die Agrargesellschaften griffen gezielt in diese Energieflüsse ein, bauten Pflanzen an, züchteten Tiere, stauten Flüsse. Als es im 18. Jahrhundert erstmals gelang, Steinkohle im grösseren Stil abzubauen, und die Dampfmaschine erfunden wurde, begann das fossile Energieregime. Heute deuten die hohen Ölpreise darauf hin, dass dieses Zeitalter bald vorbei sein könnte; der Klimawandel zeigt, dass es vorbei sein müsste. Doch wie könnte eine postfossile Gesellschaft aussehen?
WOZ: Herr Sieferle, Sie sehen im Nutzbarmachen der Steinkohle einen Epochenbruch. Weshalb ist eine neue Energiequelle so fundamental für den Geschichtsverlauf?

Rolf P. Sieferle: Die vorindustriellen Agrargesellschaften schlossen sich an natürlich vorhandene Energieflüsse an, konnten diese aber nicht vergrössern. Das war ein grosses Hemmnis für so etwas wie Wirtschaftswachstum. Es war eine Situation abnehmender Grenzerträge, das bedeutet: Jedes Wachstum machte künftiges Wachstum weniger wahrscheinlich. Solche Gesellschaften haben oft dynamische Wachstumsphasen, in Europa etwa ab dem Jahr 1000. Um 1300 war diese aber bereits am Ende. Erst indem Europa völlig neue Ressourcen nutzbar machte – Steinkohle, später Erdöl und Erdgas – , erlebte es eine Entwicklung, die es zuvor noch nie gegeben hatte.

Was bewirkte die Nutzung der Kohle?

Sonnenenergie strahlt in geringer Dichte auf die Erde ein. In Agrargesellschaften sammelte man sie vor allem auf Acker- und Waldflächen. Aber solche Flächen sind begrenzt. Solche Gesellschaften hatten geringe Nettoerträge. In einem vorindustriellen landwirtschaftlichen Betrieb wurde etwa das Dreissigfache der Energiemenge, die schliesslich in Form von Produkten aus dem Betrieb hinausfloss, intern umgesetzt. Wenn man den Bauernhof als Kraftwerk betrachtet, so war er extrem ineffizient. Das fossile System hingegen ist nun weitgehend flächenunabhängig. Der Aufwand zum Einsammeln der Ressourcen ist extrem gering. Kohle hat eine höhere Energiedichte als Holz und lässt sich deshalb leichter transportieren; Öl und Gas sind als Energieträger geradezu ideal. So kommt ein Wachstumsprozess in Gang. Grosse Dampfmaschinen haben ein besseres Verhältnis von Volumen und Oberfläche; wer mehr produziert, kann die Stückpreise senken; Massenproduktion lässt Arbeitsteilung zu.

Sie haben in Ihrem Buch «Rückblick auf die Natur» geschrieben, dass «eine 'Industriegesellschaft' im Sinne einer dauerhaften sozialen, ökonomischen oder politischen Struktur überhaupt noch nicht existiert». Wie sähe eine dauerhafte Industriegesellschaft aus?

Das wissen wir nicht. Das Problem ist, dass das Wachstum sehr eng an Energie- und Materialverbrauch gekoppelt ist oder zumindest bisher war. Der Energieverbrauch wuchs in den vergangenen zweihundert Jahren jährlich ungefähr um 2,5 Prozent, das entspricht ziemlich genau dem Wirtschaftswachstum. Nun kann man sich theoretisch denken, dass man das entkoppelt, indem man die Energie viel effizienter nutzt. Aber Effizienzsteigerungen hatten wir schon immer. Die ersten Dampfmaschinen, die Wasser aus Kohlebergwerken pumpten und die Kohleförderung im grossen Stil erst ermöglichten, hatten einen Wirkungsgrad von unter 0,5 Prozent. Im frühen 19. Jahrhundert lag der Wirkungsgrad schon bei mehr als 25 Prozent. Trotzdem wurde nicht weniger, sondern immer mehr Energie verbraucht. Und das kann nicht ewig weitergehen, aus zwei Gründen: Erstens sind die Ressourcen begrenzt. Das wurde bereits im 19. Jahrhundert diskutiert und dann wieder seit der Umweltbewegung ab den 1970er Jahren. Heute steht wegen der Klimaerwärmung aber der zweite Grund im Vordergrund: Auch die Fähigkeit der Umwelt, Abfälle wie etwa Treibhausgase aufzunehmen, ist beschränkt.

Aber wenn das fossile Zeitalter vorbei ist, werden wir ja nicht einfach auf den Stand von 1750 zurückgeworfen. Wir haben effizientere Technologien und bessere Methoden zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen. Das ist die grosse Frage: Wird sich die fossile Phase als das grosse Besäufnis herausstellen, nach dem man mit einem Kater aufwacht? Oder wird es uns gelingen, diese Phase als ein Sprungbrett zu nutzen?

Letzteres ist der Gedanke der Nachhaltigkeit. Das Schwierige daran ist, dass dreihundert Jahre zwar eine sehr kurze Zeitspanne sind, gemessen an den 10 000 Jahren der Existenz der Agrargesellschaft. Aber es ist doch eine lange Zeit im biografischen Massstab. Es gibt eine Dynamik der Wachstumserwartungen. «Ihr lebt über euren Verhältnissen» – nun, das hört niemand gerne. Eine Politik, die sagt, «Machen wir weiter, die Technik wirds schon richten», hat die grössere Akzeptanz.

Gibt es solche Lösungen?

Eine Utopie ist die der Kernfusion, die aus Wasser in beliebigen Mengen Energie gewinnt. Wasser haben wir nun wirklich genug, der Abfallstoff Helium ist unproblematisch, die radioaktive Strahlung gering. Man sagt zwar, seit ich mich erinnern kann, in fünfzig Jahren sind wir so weit. Aber nehmen wir an, das gelingt tatsächlich. Das würde bedeuten, dass unsere Energieprobleme gelöst sind. Natürlich gäbe es noch das Problem der anderen erschöpflichen Ressourcen, etwa Metalle wie Kupfer, die knapp sind. Einige meinen nun, dass selbst dieses Knappheitsproblem mit der Kernfusion gelöst wäre, denn mit dem Verbrauch der Ressourcen werden diese in die Umwelt verteilt, von wo sie prinzipiell wieder zurückgewonnen werden - mit gigantischem Energieaufwand, aber Ener-gie wäre ja gratis. Das ist nun wirklich eine Utopie, vielleicht ist das ein Grund, weshalb man so viel Geld in diese Technologie steckt. (lacht)

Wäre «Gratisenergie» wirklich wünschbar? Würde das nicht zu einer derartigen Beschleunigung der menschlichen Aktivitäten führen, dass die sozialen Kosten enorm wären?

Ja, vielleicht wollte dann jeder statt eines Autos einen eigenen Bus mit Bordkino haben und jeder, auch jeder Chinese und jeder Inder, auf jedem Kontinent ein Wochenendhaus ... Man kann sich ja fragen: Was wollen die Menschen eigentlich? Wollen sie die Gegenstände, oder sind das nur Symbole im sozialen Umgang? Wollen die Leute, die einen Geländewagen besitzen, ohne je ins Gelände zu fahren, tatsächlich einen solchen, oder wollen sie nicht vielmehr Macht, Einfluss, Ansehen? Es ist vermutlich so, dass wir ein Muster aufgebaut haben, wo dieser ewige Kampf um Rangordnung, der zum Menschen gehört, mit Hilfe materieller Güter ausgetragen wird. Es dürfte ausserordentlich schwierig sein, wieder von diesem Muster wegzukommen. Ich kann ja dem Geländewagenbesitzer nicht einfach sagen: «Eigentlich willst du das doch gar nicht.»

Im «Rückblick» haben Sie geschrieben: «Wenn die Grenzen des solarenergetischen Systems nicht gesprengt worden wären, hätte man mit einem langwierigen Tauziehen um Macht und Ressourcen in einer Dramatik rechnen können, wie sie sich wohl erst gegen Ende des fossilen Energiesystems in einer überbevölkerten Welt einstellen wird.» Was deuten Sie hier so düster an?

Wer in einer Agrargesellschaft reich war, ohne mächtig zu sein – etwa ein erfolgreicher Jude im christlichen Europa – , lebte immer in Gefahr. Wenn man reich war, musste man den Reichtum durch Macht absichern. Wuchs die Bevölkerung, wurden die Machtkämpfe schärfer. Durch die Industrialisierung wurde es erstmals möglich, reich zu sein ohne Macht und trotzdem in Sicherheit zu leben. Das hat sich allmählich entwickelt. Zuerst kam es angesichts der Industrialisierung ja zu enormen sozialen Verwerfungen. Man musste einen Weg finden, das Leben unter den neuen Bedingungen gleichgewichtsfähig zu machen, und das ging über Wohlstandssteigerung, über Wirtschaftswachstum, über soziale Umverteilungssysteme. Wenn nun die Energie knapp wird, werden Verteilungskämpfe zunehmen. Und nun stellen Sie sich Demokratie in einer Welt ohne Wachstum vor: Die Macht liegt bei der Mehrheit. Wenn diese verarmt, wird sie den Staat dazu benutzen, den Wohlstand zu ihren Gunsten umzuverteilen. Und das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Das wird ganz neue Konflikte auslösen, die wahrscheinlich auf die Dauer zur Aufhebung der Demokratie führen werden.

Um ein konkretes Beispiel zu nehmen: Könnte die Landwirtschaft die Menschheit noch ernähren, wenn sie auf fossile Energien verzichten müsste – sei es, weil diese zu Ende gehen, sei es, weil das Klima effektiv geschützt werden soll?

Das ist ein sehr schwieriges Problem. Seit den 1950er Jahren haben wir ungefähr eine Vervierfachung der Hektarerträge. Erst in dieser Zeit wurde der integrierte Hof aufgegeben. Vorher war ein Betrieb viel autarker, er brauchte wenig Input und lieferte wenig Output. Jetzt fliessen viel mehr Stoffe hinein, aber auch viel mehr hinaus, und zwar nicht nur Produkte, sondern auch Abfälle. Wir haben die Energiebilanz am Beispiel eines österreichischen Bauernbetriebs angeschaut. Um 1800 erntete man pro Energieeinheit, die man in den Betrieb inves-tierte, drei Einheiten Ertrag. Das konnte im 19. Jahrhundert noch markant gesteigert werden. Dann kam die Industrialisierung der Landwirtschaft. Der Effekt davon war, dass man pro Fläche viel mehr Ertrag erzielte, aber die Energiebilanz wurde negativ. Um 1980 war der Tiefpunkt in dieser Hinsicht erreicht: Pro Energie-einheit Input erzielte man noch 0,8 Einheiten Ertrag. Unterdessen liegt dieser Wert wieder etwas über eins, wenn man die vor- und nachgelagerten industriellen Prozesse nicht mitzählt. Heute auf fossile Energien zu verzichten, wäre sehr schwierig.

Könnte eine Gesellschaft angesichts von Ressourcenproblemen und Klimawandel beschliessen, nicht mehr zu wachsen?

Denkbar ist natürlich vieles. Was heisst aber: Eine Gesellschaft beschliesst ...? Ich würde es eher so formulieren: Angenommen, es gäbe eine dominante Werthaltung, die so argumentierte. Wäre die evolutionär stabil? Was, wenn dann Leute auftreten, die sagen: Nein, wir wollen da nicht mitmachen? Ich glaube nicht, dass das stabil wäre. Die Gesellschaft müsste eine sehr starke soziale Kontrolle nach innen ausüben; das wäre vielleicht eine ziemlich düstere Gesellschaft.

Marcel Hänggi

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    Autor

    Marcel Hänggi
    ​

    Journalist und Buchautor
    dipl. Gymnasiallehrer​
    Dr. phil. h.c.
    ​Mitarbeiter Schweizerische Energie-Stiftung
    ​
    Zürich


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