Marcel Hänggi
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Das Velo – Wegbereiter des Autos?

30/5/2017

 
Das Velo gilt als Wegbereiter des Autos. Oh Schreck: Haben unsere Vorfahren unserem Erzfeind zum Aufstieg verholfen? Die These hat auf den ersten Blick einiges für sich – und hält einer kritischen Überprüfung doch nicht stand. – «Velojournal» Nr. 3 (Juni) / 2017 

BildWas für eine Frechheit: Benz nannte seinen Patent-Motorwagen von 1894 «Velo».
Wie schön liesse sich die Geschichte des Velos doch als Geschichte eines technischen Wunder­geräts schreiben. Es ermöglicht die Fortbewegung zu Land energieeffizienter als alles, was Mensch und Natur sonst noch erfunden haben. Es belastet ökologisch niemanden und steht (fährt) somit so­zial stets auf der «guten Seite.» Es ist laut dem Technikphilosophen Ivan Illich das Paradebeispiel menschenfreundlicher Technik. Und damit eine solche Geschichte nicht kitschig wird, könnte man als kritische Note auf die Dopingexzesse im Rennsport hinweisen – die uns Durchschnittsrad­fahrerInnen nicht viel angehen. ​

Doch da steht ein Verdacht im Raum, der das Zeug zur narzisstischen Kränkung der Velofahrer­seele hat: Das Velo, schreibt der Soziologe Wolf­gang Sachs, «begründete den populären Genuss der Beweglichkeit und bereitete damit der Attrak­tion des Automobils den Weg.» Sachs ist nicht ir­gendwer: Seine «Liebe zum Automobil» von 1984 war eines der ersten (und bis heute eines der bes­ten) Bücher über die Geschichte des Autos, das nicht ein historisch interessierter Autofreak ge­schrieben hat, sondern ein historisch bewusster Sozialwissenschaftler, der die Nachteile des Autos kennt. Umso kränkender die These, das Motor­vehikel sei im Windschatten der Zweiradpioniere gross geworden. 

SIE PROFITIERTEN VOM VELO 

Wer was zuerst unternahm, zeigen fünf Punkte im Detail:

• Politisch: Radfahrerverbände lobbyierten für as­phaltierte Strassen, als Autoverbände noch nicht existierten. Der Touring Club der Schweiz wurde 1896 von Velofahrern gegründet und nahm erst nach einiger Zeit auch Autofahrer auf. Auf den Strassen fuhren dann später auch die Autos. 

• Technisch: Das erste in Serie gefertigte Auto hiess «Benz Velo» (was geblufft war: «Velo» leitet sich ab von «vélocité», Schnelligkeit, und schnell waren damals die Velos, nicht die Autos). Die Gummiindustrie produzierte Veloreifen, bevor die Autoindustrie von der Gummiproduktion profi­tierte (und sie zu einem lukrativen Geschäft machte). James Flink, Autor einer populären Ge­ schichte des Autos, schreibt, das Velo sei für die Entwicklung des Autos wichtiger gewesen als der Verbrennungsmotor (wobei er den Verbrennungsmotor noch immer überschätzt). 

• Sportlich und marketingtechnisch: Die Tour de France ist eine Erfindung der Zeitschrift «L’auto»; die Velorennen sollten auch für die Autos werben, die mitfuhren – respektive versuchten, mit den Rennfahrern mitzuhalten. 

• Sozialhistorisch: Velos wie Autos waren zu­ nächst Spielzeuge für Männer der Oberschicht – und für Frauen, die sich nicht scheuten, «männli­che» Aktivitäten auszuüben (vgl. auch «Sie radeln wie ein Mann, Madame», Velojournal 2/2017). Man verstand sich also. 

• Sogar die Konkurrenten teilte man sich, wobei wieder das Velo voranging: Um die 1900 Klagen über rasende Velofahrer gingen ein. Das Velo war das erste nicht schienengebundene Fahrzeug, das mitten auf belebten Strassen deutlich schneller unterwegs war als Fussgänger. 

ASPHALT STATT STAUB 

So weit, so traurig. Aber hält die These einer Überprüfung stand?

Nun, schon bei der Frage des Strassenbelags zeigt sich ein fundamentaler Unter­schied: Die Velofahrer setzten sich für Strassen ein, die das Fahren einfacher machten. Asphal­tierte man die Strassen im Zuge der Automobili­sierung, geschah das aber nicht, um den Autos das Fahren zu erleichtern, denn mit vier Rädern entfällt das Sturzrisiko wegen schlechter Strassen­beläge. Man asphaltierte die Strassen, um die An­wohner vor dem Auto zu schützen. Die Staub­plage war einfach unerträglich geworden. Es ging um das Auto als Belästigung.

Die Technikhistorikerin Monika Burri hat die These von der Vorreiterrolle des Velos vor einigen Jahren ziemlich zerpflückt. Wohl habe die Auto­herstellung Impulse aus den Velowerkstätten er­ halten, aber die habe sie auch von der Nähma­schinenproduktion bekommen. Das Velo sei nur ganz zu Beginn ein Leitbild im Automobilbau ge­wesen. Danach wollte man statt möglichst leich­ter Fahrzeuge motorisierte Kutschen bauen und orientierte sich schliesslich an einer Maschinen­ästhetik. Ein Bereich, in dem der Fahrradbau viel eher eine Vorreiterrolle genoss, war die Fliegerei: Die Gebrüder Wright waren nicht die einzigen Fliegerpioniere, die von Haus aus Velomechani­ker waren. Und dass die Zeitschrift «L’auto» für ihre Promotion auf ein Velorennen setzte, war eher eine Ausnahme: Die meisten Automobilzeit­schriften und ihre Leserschaft interessierten sich schon damals nicht für das Velo. 

FÜR DIE EINFACHEN LEUTE 

Vor allem was die Sozialgeschichte angeht, war das Trennende bald viel wichtiger als das Verbin­dende. Wurde das Velo nach der Jahrhundert­ wende rasch zum Verkehrsmittel der einfachen Leute, blieb das teure Auto noch lange Sportgerät der Oberschichten. Welche Ironie: Die «Sportlich­keit» des Autofahrers war ja doch eine sehr indi­rekte – es war die Sportlichkeit des Reiters, der sein Pferd beherrscht und ihm die Sporen gibt, ihm aber auch die Anstrengung überlässt. Das Auto war das perfekte Mittel, soziale Überlegen­heit auszudrücken, weil es seit je her das Privileg der Oberschichten war, sich nicht anzustrengen. Dieser entscheidende Unterschied geht bisweilen vergessen, wenn von der gemeinsamen Herkunft von Auto und Velo die Rede ist. Dabei hatte be­reits Wolfgang Sachs darauf hingewiesen: «Weil es körperliche Anstrengung verlangt, taugte das Fahrrad nicht zum Klassensymbol; denn eine pri­vilegierte Stellung heisst zuallererst, über fremde Energien zu gebieten und andere für einen schwit­zen zu lassen.»

​Dass heute noch eine ehemalige Industriestadt wie Winterthur eine velofreundlichere Ver­kehrskultur aufweist als andere Städte, ist wohl kein Zufall: Das Velo war lange das Fahrzeug der Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter. Aber je mehr diese das Velo als ihr Verkehrsmittel entdeckten, desto mehr liess die Oberschicht die Finger davon – oder reduzierte es ganz auf seine Funktion als Sport­ und Freizeitgerät. 

VERKEHRSMITTEL UND SPORTGERÄT 

Wer sich chauffieren lässt, behauptet, wichtiger zu sein. Diese Behauptung entfaltet ihre Wirkung in Politik und Verkehrsplanung. Und so wohnt dem Verhältnis der beiden Fahrzeuge ungefähr ab dem zweiten Viertel des Jahrhunderts eine bemerkens­werte Dialektik inne: Das Auto – das von seinem Fahrer keine Sportlichkeit verlangt – ist in erster Linie Sportgerät der Reichen; das sportliche Velo in erster Linie Verkehrsmittel der Massen. Als Ver­kehrsmittel ernst genommen aber wird das Sport­ gerät Auto, während das Verkehrsmittel Velo als Freizeitgerät gilt: Man räumt ihm für ein Veloren­nen gerne einmal die Strasse frei, aber es soll sich ja nicht anmassen, im täglichen Verkehr gleich wichtig zu sein wie das Auto. 
​
Velo und Auto sind strassengebundene Individual­verkehrsmittel und teilen sich gewisse Wurzeln. Dass ihre soziale, kulturelle, politische und technische Entwicklung aber bald unterschiedliche Wege ging, erstaunt eigentlich nicht: Es handelt sich um «zwei grundsätzlich verschiedene Formen der Fort­bewegung und Raumerzeugung», wie Monika Burri schreibt. Der Philosoph Marc Augé schwärmt von der «wachsenden Selbsterkenntnis beim Erler­nen des Radfahrens»: Das hat kein Auto zu bieten. Nun, es gibt bei alledem ein Feld, auf dem die Technikhistorikerin Burri die These von der Vor­reiterrolle des Velos in Bezug auf das Auto gelten lässt: den Rennsport. Da können wir Durch­schnittsradfahrerinnen und ­-radfahrer aufatmen – das geht uns wirklich nicht viel an! 

> Artikel als PDF

> Der zitierte Aufsatz von Monika Burri kann hier heruntergeladen werden.

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    Autor

    Marcel Hänggi
    ​

    Journalist und Buchautor
    dipl. Gymnasiallehrer​
    Dr. phil. h.c.
    ​Mitarbeiter Schweizerische Energie-Stiftung
    ​
    Zürich


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