Abenteurer musste einer sein, dorthin auszuwandern, wo er niemanden kannte. Leonardos Vater kam bis New York, anno 1910, und war begeistert; er kehrte zurück, seine Braut in Santeramo zu holen. Doch die Eltern der Braut waren dagegen und Leonardos Vater blieb.
Leonardo war ein Abenteurer, nie hat er geheiratet. Seine Brüder haben doch alle geheiratet, ob die Frauen nun schön waren oder nicht, doch er wollte seine Freiheit, und die Schwestern mussten für ihn sorgen. Er lieh allen Santermanen Geld, und heute haben die Santermanen ihre Häuser, und er hat nicht einmal einen Telefonanschluss.
Seine Schwester, Chiara Pontrandolfo – gerne wäre sie in der Schweiz bei ihren vier Söhnen geblieben, doch ihr Mann wollte zurück –, war dabei, als Leonardo aus der Schweiz gewiesen wurde. Sie wohnte damals, 1961, mit ihrem Bruder, ihrem Mann und dem ältesten Sohn in Bülach; die jüngeren Kinder folgten später nach. Die Polizei kam und suchte Leonardo. Doch der war durch einen Hinterausgang abgehauen. Der Polizist konnte etwas italienisch. Wenn du uns nicht sagst, wo dein Bruder ist, dann schicken wir dich mit deiner Familie weg aus der Schweiz, sagte er zu Chiara, und machte eine Fussbewegung. Leonardo wurde ausser Landes verwiesen. Eine Frauengeschichte soll der Grund gewesen sein.
Manchmal hatten wir Angst, sagt Chiara, aber wir hatten es gut in der Schweiz.
Die Via Bülach verläuft parallel zur Via Zurigo, Via Svizzera, Via Germania und Via Nazioni Unite. Quer dazu verläuft die Via Europa. Doch Santeramo wirkt dort ausgestorben, wo es sich mit seinen Strassennamen so weltoffen gibt. Viele Wohnungen stehen leer, mehrere Bauruinen stehen in dieser Gegend. Die wenigen Menschen, die auf der Strasse anzutreffen sind, wirken misstrauisch. Nur der Gemüsehändler an der Ecke Via Bülach / Via Matera ist gesprächig. Er ist einer der wenigen Santermani, die nicht wissen, wo Bülach liegt: Ist das in Amerika?
Heute schickt Santeramo seine Natuzzi-Diwane in alle Welt hinaus wie damals seine Söhne und Töchter. Santeramo ist wohlhabend und hat eine der höchsten Motorisierungsgrade Italiens. Das Kleingewerbe ist stark, die Bauwirtschaft boomte, als die Emigranten in Santeramo Häuser bauen liessen. Ein eigenes Haus zu bauen bedeutete, einen kleinen Reichtum zu besitzen. Dann wollten sie nicht mehr zurückkehren; heute stehen viele Häuser leer oder werden nur in den Ferien bewohnt, von den Svizzerotti, den Italienern, die in der Schweiz leben.
Der erste kommunistische Bürgermeister, Davide Bellisario, scheiterte in den Siebziger Jahren an diesen Häusern. Viele waren ausserhalb der Bauzone entstanden. Bellisario wollte gegen die illegale Bautätigkeit vorgehen, doch er machte die Rechnung ohne den Wirt: Die Emigranten wählten traditionell links; die reichen Bauherren in der Schweiz, das waren seine kommunistischen Wähler, die für jede Wahl in die Heimat kamen. Der Bürgermeister musste zurücktreten.
Andere kehrten zurück und bauten mit dem Geld und den Berufskenntnissen aus der Schweiz ihren eigenen Betrieb auf. In einer Bar im Zentrum von Santeramo – dort, wo das Städtchen lebt, denn das Leben findet auf der Strasse statt – spielen Pensionäre F’ghitt, ein Trinkspiel mit Bier, und einer beginnt in Schweizerdeutsch, das er nach zwanzig Jahren nicht vergessen hat, zu erzählen. Wie er nach Bülach kam, um Geld für eine eigene Metzgerei zu verdienen. Und weil in Santeramo im Sommer kein Schweinefleisch gegessen wird, ging er in eine jüdische Metzgerei arbeiten, um zu lernen, wie man Cervelats ohne Schweinefleisch macht. Denn er wollte in seiner eigenen Metzgerei in Santeramo Cervelats verkaufen.
Dort, wo Bülach zu Ende ist, liegt hinter Autobahn und Kaserne das Dorf Höri. Hier wohnt die Familie Colaiemma. Sie wohnt heute in Höri, an der Stadtgrenze zu Bülach. Consiglia kam 1957 nach Adliswil und arbeitete in einem Restaurant in der Küche. Ihre Mitarbeiterinnen sprachen deutsch, sie verstand nichts, und so weinte sie viel, siehst du, wie schwer das Leben war, und am schlimmsten waren Weihnachten. Das war das schwierigste, die Sprache. Nach zwei Jahren ging Consiglia nach Bülach, wo sie ihren Mann Rocco traf, den sie von Santeramo her kannte und der gekommen war, um etwas Geld zu verdienen und Schulden zurückzubezahlen. In Bülach arbeitete Consiglia in einer Fabrik, wo die meisten Arbeiter Italiener waren. 1961 wurde der erste Sohn Giusi geboren.
Giusi – Trainer des FC Rafz, italienischer Pass, aufgewachsen in der Schweiz, «in der Mentalität Schweizer, im Herz Italiener» – bezeichnet es heute als Faulheit, dass seine Eltern nicht deutsch lernten. Wenn man etwas lernen will, dann lernt man es, sagt Vater Rocco, aber wie willst du deutsch lernen, wenn du arbeiten musst, um eine grosse Familie durchzubringen, du machst Überstunden, arbeitest am Wochenende.
Rocco fand eine Stelle bei der kleinen Schlosserei Baltensperger in Höri, wo bereits zwei andere Santermani arbeiteten. Der Chef – er ist mehr Freund als Chef, sagt Kommunist Rocco vom Ex-SVP-Gemeinedpräsidenten Baltensperger – sprach nicht italienisch, seine Angestellten nicht deutsch, aber in unserem Beruf, sagt Baltensperger, ist die Verständigung am Objekt möglich. Und sonst konnte immer jemand übersetzen, besonders, als die zweite Generation kam. Zwei von Roccos Söhnen arbeiten heute für Baltensperger. Der Chef ist zufrieden, mit wenigen Ausnahmen hat er mit den Italienern nur gute Erfahrungen gemacht, sie waren tüchtige Arbeiter – obwohl, die Pünktlichkeit, daran mussten sich die Südländer erst gewöhnen. Doch heute ist es schwierig, Bewilligungen für junge Italiener zu erhalten. Einige seiner Arbeiter gingen zurück und gründeten mit dem Gelernten ihre eigene Schlosserei. Manch einen liess er ungern ziehen. Das war Entwicklungshilfe, sagt Baltensperger, das ist viel gescheiter, als wenn man Geld nach Jugoslawien schickt. Und die heutige Immigration sei etwas ganz anderes. Die Italiener arbeiteten, die Asylanten dürfen oder wollen nicht arbeiten, doch Müssiggang ist aller Laster Anfang!
Eine der wichtigsten Arbeitgeberinnen für «Gastarbeiter» war die Glashütte Bülach / Vetropack AG. Von Anfang an benötigte die Glashütte ausländische Facharbeiter; nach dem Krieg beschäftigte sie vor allem Norditaliener. Dann kamen die Leute von immer weiter südlich, das breitete sich aus wie eine Lawine. 1969 begann man, in Jugoslawien und Spanien zu rekrutieren. Je südlicher die Herkunft der Italiener – sagt Manfred Hess, Personalchef von 1966 bis 1989 –, desto schlechter wurde ihre Qualifikation. Viele hatten nur drei, vier Jahre Schulbildung. Auch die Mentalität wurde zunehmend anders. Die Einstellung zur Arbeit war: Komm’ ich nicht heute, komm’ ich halt morgen. Die Schweizer im Schichtbetrieb beklagten sich, sie waren jetzt sprachlich eine Minderheit. Aber wie, sagt Hess, sollte ein Italiener deutsch lernen, wenn recht und links von ihm auch ein Italiener arbeitete? Die Mentalitätsunterschiede führten zu Spannungen. Die Norditaliener waren wütend, weil die Süditaliener so viel blau machten, sagt Hess. Später beklagten sich die Italiener über die Jugoslawen, die in den Fremdarbeiterunterkünften einquartiert wurden....
Chiara Pontrandolfo kam 1961. Sie reiste ihrem Mann und ältesten Sohn nach, die Kinder folgten etwas später. Die Familie verkaufte ihren Wagen und ihre zwei Pferde, um die Auswanderung zu finanzieren. Der Familiennachzug war Jahresaufenthaltern aber erst nach fünf Jahren gestattet. Die Kinder waren illegal hier. Die Schulpflege Bülach deckte die illegalen Kinder gegenüber den Behörden. Doch in den Ferien schickte man sie in die Ostschweiz, und wenn einmal die Fremdenpolizei kam, mussten sich die Geschwister unter dem Bett verstecken. Eine Bewilligung hatte nur der Älteste. Er arbeitete.
Von ihren Schulkameraden wurden die Kinder akzeptiert, da zählte nicht, ob einer Schweizer war oder gut deutsch konnte, sondern zum Beispiel, wie gut einer Fussball spielte.
Die Nachbarn im Block waren Schweizer. Man verständigte sich mit den Händen. Chiara besorgte den Haushalt für eine siebenköpfige Familie, da blieb keine Zeit für Deutschkurse; dass ihr die Familienmitglieder bei der Hausarbeit geholfen hätten, liess sie nicht zu. Die Schweizerinnen, sagt Chiara, lernten schnell. Sie fragten, was sie koche, und wie man das macht. Chiara sagte es ihnen im Treppenhaus, die Schweizerinnen bleiben immer unter der Tür stehen. In Italien hätte man sich zum Kaffee eingeladen. Aber der Schweizer Kaffee passt ihr sowieso nicht, so dünn!
Auch Chiara hat gelernt in der Schweiz. Wenn sie in Santeramo jemanden Abfall auf die Strasse werfen sah, sagte sie, heb das auf. Zu Beginn wurde sie ausgelacht, die Svizzerotta.
Dreckig sind sie und lärmig und faul, die Italiener! Und sie singen in der Öffentlichkeit!
In den Sechzigerjahren waren die Italiener das Fremde. Sie blieben unter sich. Franco Labarile, der 1966 als Achtzehnjähriger nach Bülach kam – warum sollte er nicht kommen –, erlebte nichts von den Schwierigkeiten der ersten Emigranten. Von den Matratzenlagern, wo eine Matratze an zwei Italiener gleichzeitig vermietet wurde, wenn sie zu verschiedenen Zeiten Schicht arbeiteten. Franco fand ein gemachtes Nest, ein kleines Santeramo, seine Verwandten; er heiratete eine Santermana, die er hier kennenlernte. Santermani heirateten Santermane – weil man sowieso nach Santeramo zurück wollte, weil man denselben Dialekt sprach, weil man an den selben Orten verkehrte, weil es das einfachste war. Rund zwanzig Italienervereine gab es in Bülach, und viele davon in einer linken und in einer christlichen Variante: Don Camillo und Peppone in Bülach. (Ja, sagt Rocco Colaiemma! Und wir waren Peppone, und wir waren stärker!)
Die Italiener und die Schweizer blieben sich fremd. Noch. Selbst wenn sie es gut meinten. Rocco ging in seinen ersten Schweizer Jahren mit einem Schweizer Bekannten essen. Essen wir italienisch, sagte dieser, und bestellte Spaghetti. Dann begann er, sie zu zerschneiden. Die hässlichste Sache der Welt! Ich glaubte, er will mich beleidigen, sagt Rocco, aber dann merkte er, dass der Schweizer nicht wusste, wie man die Spaghetti dreht.
Die Mehrheit der Schweizer meinte es nicht gut. Überfremdung hiess das politische Schlagwort seit den Sechzigerjahren. Damit meinte man damals vor allem die Italiener. Angst vor dem Fremden mischte sich mit Unbehagen gegen die Wachstumseuphorie; Wohnungsknappheit und Spekulation waren Symptome der Hochkonjunktur. 1970 wurde über die Schwarzenbach-Initiative abgestimmt. Sie wollte den Anteil der Jahresaufenthalter und Niedergelassenen auf zehn Prozent senken. Saisonniers – denen ihr Status verunmöglicht, sich zu integrieren – hätte die Initiative unbeschränkt zugelassen.
«Gewiss verhalten sich die fremden Zuzüger arbeitsam und still», schrieb Dr. iur. utr. W. Hildebrandt, Bülach, in einer Zuschrift an beide Bülacher Tageszeitungen, den Zürcher Unterländer und das Neue Bülacher Tagblatt. «Wir haben jedoch noch nicht alle Erfahrungen mit der grossen Fremdenschaft gemacht. (...) Dereinst wird die Geschichte darüber urteilen, ob nicht in unseren Jahren dem Wesen und der Freiheit der Eidgenossenschaft ein nicht wieder gut zu machender Schlag versetzt worden sei durch die Zulassung so vieler Fremden.» Tessiner, sagt Erasmo Pontrandolfo, Leonardo Natuzzis Neffe und Chiaras Sohn, trugen Militärmütze oder Bajonett, um nicht für Italiener gehalten zu werden.
Die Initiative wurde knapp abgelehnt. Bülach verwarf, die meisten Nachbargemeinden nahmen an. Einen Erfolg hatte die Initiative aber schon vor der Abstimmung: Um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, beschloss der Bundesrat, die Zahl der Ausländer einzufrieren. Selbst wenn die Initiative abgelehnt wurde: dass es eine «Überfremdung» der Schweiz gebe und diese zu bekämpfen sei, war breiter Konsens. Die Argumente der Gegner waren wirtschaftliche gewesen. Die Betroffenen wurden nicht gefragt, und Ausländern war es verboten, sich öffentlich zu politischen Angelegenheiten der Schweiz zu äussern.
«Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.» Max Frisch hat den Satz für das Vorwort zum Buch «Siamo Italiani – Die Italiener» geschrieben, das 1965 parallel zu Alexander J. Seilers gleichnamigem Film entstand. Fünf Jahre später sprachen nur die von den Menschen, die in ihnen vor allem die fremden Menschen sahen. Kontingent und Betriebsplafond waren die Wörter, die das offizielle Sprechen über die Gastarbeiter beherrschten.
Erste Überfremdungsinitiative 1965 lanciert (zurückgezogen), Schwarzenbachinitiative 1970 sehr knapp verworfen, dritte Überfremdungsinitiative 1974 – insgesamt waren es sechs, bevor das Thema «Asyl» das Thema «Überfremdung» in der Politik ablöste. Es war auch die Angst, eines Tages rausgeschmissen zu werden, die mitspielte, als in den Siebzigerjahren viele Emigranten nach Italien zurückkehrten.
Heute gehört ein bisschen Italianità zu Bülach. Ein paar Kleingewerbler stammen aus Santeramo; an der Bahnhofstrasse gibt es einen italienischen Lebensmittelladen; das Restaurant und das jährliche Spaghettifest der Colonia libera italiana (CLI) sind längst bei Schweizern beliebt. Und die CLI, die als Kommunistennest verrufen war, stellt die Verpflegung an der Gewerbeschau. Kulinarisch sind die Italiener integriert. Und politisch? Eine Partei fragte die CLI an, ob sie für die diesjährigen Kommunalwahlen Kandidaten habe – als Listenfüller.
Das Italienische ist nicht mehr das Fremde. Das begann wohl in den Siebzigerjahren. Rosanna Andoya-Maiullari wurde Mitte Siebziger Jahre von ihren Mitschülern benieden: Was, ihr fährt jedes Jahr nach Italien in die Ferien? Was, bei euch gibt es jeden Tag Spaghetti? Es kam Radio 24, Radio Venti Quattro, welches von Italien aus jeden Tag eine Stunde italienisch sendete. Und es kam España 1982, Italien wurde Fussballweltmeister, 3:1 gegen das – bei uns Schweizern so unbeliebte – Deutschland. Die Schweizer Kinder sammelten Paninibildchen und hatten das Gefühl, die italienischen Kinder seien ihnen ein wenig voraus. Und Rocco Colaiemma, der bei jeder Weltmeisterschaft die Trikolore hisst, hisste sie 1982 auf dem Dach von Baltenspergers Firma und machte einen Umzug von Höri nach Bülach. Das ist Patriotismus, sagt Rocco, mit Nationalismus hat das nichts zu tun. Ich bin Europäer, Europäer aus Italien.
Was bleibt nach der Rückkehr? Die zurückgekehrten Svizzerotti sprechen gut von der Schweiz. Eine Striebig-Plattenfräse für die eigene Schreinerei und eine schöne Erinnerung, das nahm die Familie von Rocco Labarile – Francos Bruder – mit nach Santeramo. Und ein bisschen schweizerische Mentalität, und das heisst vor allem: Arbeitsdisziplin. 1977 kehrte die Familie zurück nach Santeramo, um die Schreinerei aufzubauen. Es war der Zeitpunkt für eine Entscheidung: Gingen die Kinder in der Schweiz zur Schule, würde man wohl für immer in der Schweiz bleiben. Die Situation für eine eigene Unternehmensgründung war gut: Die Wirtschaft boomte, es begann die Erfolgsgeschichte der Natuzzi-Möbelfabrik, welche heute in der Region dreitausend Arbeitskräfte beschäftigt und weiteren Firmen Arbeit gibt, und dank des Lirezerfalls waren die Schweizer Ersparnisse Gold wert.
Die ehemaligen Emigranten sprechen gut von der Schweiz, manche verklären ihre Erinnerung. Fremdenfeindlichkeit haben wir nie gespürt, sagt Angela Colaiemma, die Nichte von Rocco Colaiemma, aber sieh hier, das Klassenfoto der dritten Real in Höri, und hier, Briefe, die Primarschulkollegen nach unserer Rückkehr meinem Bruder Pasquale schickten. Nur beste Erinnerungen verbindet die ganze Familie mit der Schweiz, man wäre gerne noch heute dort, doch kehrte man 1977 zurück, um eine eigene Metzgerei zu gründen, Bratwürste und Cervelats gehörten zum festen Angebot. Und das beste in der Schweiz, das war die Ordnung. Damals gab es selbst im Hauptbahnhof Zürich kein Fetzchen Papier am Boden, sagt Angelas Vater Franco, damals gab es nur Schweizer und Italiener, aber dann kamen die Slawen und die Türken, und heute gibt es auch bei euch Unordnung und Drogen.
Slawen und Türken, das waren die noch fremderen. Italiener, sagt ein ehemaliger Personalchef einer Bülacher Firma – der aber eigentlich nichts mehr zum Vergangenen sagen möchte, denn was war, soll man ruhen lassen –; Italiener, sagt er, gehören zu unserem Kulturkreis. Wir hatten keine Komedi mit denen, höchstens mit unserem Kader, das nicht italienisch lernen wollte. Aber italienisch ist eine Landessprache. Doch nach den Italienern kamen die Jugoslawen und die Türken, sagt er, das war etwas anderes.
Und die noch fremderen wurden von den weniger fremden nicht immer gut aufgenommen. Ende der Siebzigerjahre gab es in der Colonia libera italiana Bülach Diskussionen um Zutrittsverbote für Türken und Jugoslawen zu den CLI-Lokalen. So, wie es in den Sechzigern Zutrittsverbote für Italiener zu Schweizer Wirtschaften gegeben hatte. Argumente waren: die machen viel Lärm, rauchen viel... Das Zutrittsverbot kam nicht zustande. Wir leisteten, sagt Erasmo Pontrandolfo, Präsident der CLI Bülach, viel Integrationsarbeit.
Heute ist Italien selber Einwanderungsland, und wegen der Einwanderer kommt Apulien in die Weltschlagzeilen. Albaner, Türken, Tunesier, sie machen heute die Dreckarbeit, wir machten früher die Dreckarbeit in der Schweiz, die Welt dreht sich, sagt Chiara Pontrandolfo, und trink noch einen Kaffee!
Der Mann ist gestorben, die vier Söhne wohnen in der Schweiz, nur die Tochter lebt im Nachbardorf. Die Söhne kommen selten zu Besuch; das ist die Schweiz, man vergisst die Familie, und wenn ich sie besuche, dann gehen sie zur Arbeit, und ich bleibe mit der Katze zu Hause. Sagt Chiara, aber dazu lacht sie, und ihr Lachen sagt, nimm das nicht zu ernst.
Erasmo ist heute Schweizer. Bürger von Bülach und Santeramo, darauf ist er stolz. Aber er hätte sich nicht einbürgern lassen, wären nicht zwei Bedingungen erfüllt gewesen: Dass er Italiener bleiben und sich im erleichterten Verfahren einbürgern lassen kann. Erasmo konnte es, denn seine Frau ist Schweizerin. Sich von einer Bürgerrechtskommission befragen zu lassen über ein Land, in dem er aufgewachsen ist, in dem er den grössten Teil des Lebens verbracht hat, das wäre entwürdigend.
Erasmos Brüder, die Familien Colaiemma und Labarile – sie alle sind nicht Schweizer. Auf ihren Schweizer Pass wartet Stefania, die siebzehnjährige Tochter der Familie Labarile. Stefanias künftige Schwägerin Giovanna, eine Sizilianerin, steht ebenfalls im Einbürgerungsverfahren, Stefanias Bruder Pino will sich nach der Heirat um die erleichterte Einbürgerung bemühen.
Der Entscheid für den Schweizer Pass ist ein Entscheid für das Heimatland Italien. Denn ohne Schweizer Pass wäre es unmöglich, längere Zeit in Italien zu leben, ohne die Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz zu verlieren.
Italien, Schweiz? Die Geschwister Labarile verkehren hauptsächlich mit anderen Italienern der zweiten Einwanderergeneration. Dort, dort gibt es in jedem Ort einen Platz, wo man sich trifft, man scherzt immer, man spricht miteinander. Hier ist alles so ernst, so programmiert. Deshalb fühlt sich Stefania lieber als Italienerin, auch in der Mentalität, auf jeden Fall.
Aber wenn du dort leben müsstest, sagt Pino, würdest du vieles aus der Schweiz vermissen. Man will immer das, was man nicht hat. Viele Leute in Santeramo wollen immer noch in den Norden. Unser Cousin hatte die Nase voll vom Leben im Süden und ging nach Genua, wo er niemand kannte, und wir vom Norden wollen nach Santeramo.
Die süditalienische Mentalität? Rocco Colaiemma kann sie erklären. Ich, sagt er. Colaiemma Rocco. Kommunist. Ich und meine Frau, wir hatten Tränen in den Augen, als Giovannino Agnelli starb, Sohn einer der reichsten Familien Italiens. Auch er war der Sohn einer Mutter. Das ist unsere Mentalität: Ein grosses Herz!
Zur dritten Einwanderergeneration gehören Amina, viereinhalb, und Alexis, jährig. Amina spricht deutsch, italienisch, französisch und einige Wörter Lingala. Ihre Mutter Rosanna Andoya-Maiullari wurde als erstes gefragt, wenn sie einen Freund hatte: Woher ist er? Meine Eltern hofften wohl, sagt Rosanna, dass ich auch einen Italiener heirate. Aber Pit, ihr Mann, ist Afrikaner aus Kongo-Kinshasa. Rosannas Vater akzeptierte den Schwiegersohn, die Mutter nicht. Bis die Kinder kamen. Diese sind herzig, und als sie das erste Mal mit Amina in Santeramo in den Ferien waren, griffen ihr alle Leute an den Kopf und sagten, jö, hast du schöne Haare!
Am Strand glauben die Leute, Pit sei ein Vucumprà, ein afrikanischer fliegender Händler. Aber wenn sie mich kennen, sagt Pit, akzeptieren mich die Italiener in Italien besser als die Italiener in der Schweiz. Warum? «Zwei Bettler können nicht am selben Ort betteln!»
In Afrika spricht man in Bildern. Pit wartet auf seinen Schweizer Pass und möchte auch Italiener werden. Im Kongo sagt man: Wenn man dort, wo du hingehst, rechts tanzt, musst du auch rechts tanzen. Ich bleibe Afrikaner in meiner Art zu denken, zu fühlen, sagt Pit, aber ich lebe in der Schweiz, also interessiere ich mich für die Schweiz. Ich verstehe die Italiener nicht, die fast ein Leben lang hier sind und nicht deutsch lernen. Einmal musste Pit, dem Deutsch wie Italienisch Fremdsprachen sind, für einen Italiener übersetzen, der seit über 30 Jahren in der Schweiz lebte.
Pit hat in der Schweiz keine Erwerbsarbeit gefunden, und deshalb fühlt er sich wohler in Italien. Dort fragen die Leute nicht immer als erstes: Was arbeitest du? Und Pit muss sagen: Ich hüte nur die Kinder...
Als sich 1965 erstmals eine wissenschaftliche Studie mit den Italienern in der Schweiz befasste, sagten 98,5 Prozent der Befragten – und 100 Prozent der Frauen –, sie wollten eines Tages zurückkehren. Auch Rocco und Consiglia Colaiemma hätten damals angegeben, nicht bleiben zu wollen. Unterdessen leben sie seit vierzig Jahren in der Schweiz. Wollen sie eines Tages doch noch zurück? Sofort, sagt Consiglia. Das sagst du seit über zwanzig Jahren, sagt Rocco. – Siehst du, als wir von Santeramo weggingen, blieben unsere Eltern zurück. Wir wurden quasi Waisen. Jetzt sind unsere Kinder und Enkel in der Schweiz. Gingen wir zurück, würden wir zum zweiten Mal Waisen. Wir haben eine Wohnung in Santeramo und eine in Höri. Wir werden immer mit einem Bein hier und mit dem anderen dort leben.
Und Franco Labarile sagt: Wir leben immer mit dem gepackten Koffer unter dem Bett, und wir gehen immer gleich morgen zurück. Doch dann kriegen wir Kinder, dann gehen die Kinder zur Schule, dann kommen die Enkel, und wir sind immer noch da.
Ein Zehntel der Santermani lebt heute im Ausland, die Hälfte davon in der Schweiz. Doch die Erfahrung der Emigration, sie geht langsam verloren. Cristina Labarile ist in Dielsdorf geboren, aber ihre einzige Erinnerung an die Schweiz ist ein Ferienaufenthalt bei Onkel Franco. Cristina stellt fest, wie die Elterngeneration ihre Erlebnisse vergisst. Dass sie selber die Fremden waren. Heute sagen viele: Ja, damals waren wir es, heute sind es die Albaner, Kurden. Und lassen ein Aber folgen: Aber wir gingen, um zu arbeiten. Cristinas Vater hatte einmal einen Albaner angestellt. Er war unpünktlich, hatte eine andere Einstellung zur Arbeit. Doch kann man einen einzelnen für die Arbeitskultur seines Herkunftslandes bestrafen? Unsere Eltern, sagt Cristina, hatten auch eine andere Einstellung zur Arbeit, als sie in die Schweiz gingen. Sie erhielten eine Chance, um zu lernen.
Die Erinnerung bewahren möchte auch Giuseppe Carrasso, der Gewerkschafter. Er wünscht seinen Kindern nicht, die Not und die Armut erleben zu müssen, die seine Generation in die Emigration trieben. Nur die Erfahrungen sollte man ihnen weitergeben können. Aber heute gibt es nicht mehr so viele Gespräche in der Familie, die Jungen gehen ins Kino, in die Disco. Da geht, sagt Giuseppe, etwas sehr Wertvolles verloren.
Zum Abschied sagt Chiara, Ja, alle Schweizer, die kommen, loben unsere Gastfreundschaft. Und damals nannten sie uns Tschinggeli. Doch dann lacht sie, und ihr Lachen sagt: Aber nimm das nicht zu ernst.
Wir hatten es gut in der Schweiz!
Marcel Hänggi