Achtung, Leserinnen und Leser: Dies ist ein subjektiver Bericht. Es ist eine alltägliche Geschichte über Macht, Demütigung und Disziplinierung im Strassenverkehr. Die Autolenkerin wird bestreiten, dass sie zu schnell gefahren sei, die Zeugen stützen die Sicht des Velofahrers. Eine Polizistin schikaniert den Velofahrer, eine neutrale Stelle wird sie dafür rügen. Der Gelackmeierte ist dennoch der Velofahrer. Der Velofahrer bin ich.
Nach einem heftigen Wortwechsel bin ich naiv genug, der Fahrerin meine Adresse anzugeben. Weshalb nicht: Ich will sie anzeigen, denn es scheint mir gar kein Zweifel darüber zu bestehen, wer hier der Aggressor ist. Allerdings vergesse ich dabei, dass – mit den Worten des ehemaligen Verkehrspsychologen der Stadtpolizei Zürich – das Auto in unserer Gesellschaft «ein Fetisch ist», dass Kinder im Verkehr als Hindernisse gelten.
Kurz vor Mitternacht (!) ruft die Stadtpolizei an. Ich müsse am Sonntag (!) zur Anhörung kommen. Als ich sage, das gehe nicht, sagt die Beamtin: «Ich diskutiere mit Ihnen nicht über Termine.» Die Automobilistin, erfahre ich in der Befragung (die ich dann doch verschoben habe. Ein Kantonspolizist rät mir: Einfach nicht hingehen, sie gibt dir dann schon einen neuen Termin), habe mich wegen Drohung angezeigt. Als ich widerspreche, lässt die Polizistin keine Zweifel daran aufkommen, wen sie hier für den Bösen hält. Noch die unglaubwürdigste Aussage der Autofahrerin (sie habe das Autofenster offen gelassen, obwohl sie sich bedroht gefühlt habe, weil sie den Knopf zum Schliessen des Fensters nicht gefunden habe) qualifiziert die Polizistin als «plausibel». Mir dagegen sagt sie mehrmals: «Sie können gar nichts beweisen.»
Die Befragung ist eine Farce. «Verstehen Sie», fragt sie, «dass eine Frau in einer solchen Situation sich bedroht fühlt?» Aber hier geht es nicht um Mann gegen Frau. Hier geht es um Maschine gegen Mensch. Um bewaffnet gegen unbewaffnet, gepanzert gegen ungeschützt. «Hassen Sie Autos? Glauben Sie, Velofahrer seien besser?»
Schlechte Karten
Natürlich sage ich jetzt nicht: «Ob ich Autos hasse? Ich habe Kinder! Ich bin gezwungen, ihnen jedes kindliche Verhalten abzutrainieren, damit sie nicht überfahren werden!» Stattdessen sage ich nur, das Velo sei im Konflikt mit dem Auto immer unterlegen. «Jaja», entgegnet die Polizistin, «aber mit dem schlechten Gewissen leben muss dann der Autofahrer, wenn etwas geschieht.» Schöner kann man nicht das Opfer zum Täter machen.
Es gebe Leute, die Offroader zerkratzten, sagt sie. Ich denke (aber sage es nicht): Der Strassenverkehr verursacht in der Schweiz jährlich ungedeckte Kosten von acht Milliarden Franken. Mehr als 1500 Franken pro Auto – und Sie kommen mir mit Kratzern im Lack! Am Ende der Befragung weigert sich die Polizistin, meine Anzeige gegen die Automobilistin entgegenzunehmen: Es sei ja nichts passiert.
Mein Wutausbruch mag wenig würdig gewesen sein. Doch es ist Würde, um die es hier geht: um die Verteidigung meines Rechts, mich auf normale Weise – ohne Motor, auto-mobil ohne Auto – in dieser Stadt bewegen zu können.
Doch ich habe schlechte Karten. Dass die Fahrerin meine Kinder gefährdet hat, kann ich nicht beweisen. Dass an der Rückspiegelverschalung ein Eckchen abgebrochen ist, sieht man dagegen. Damit riskiere ich, dass die Verfahrenskosten an mir hängen blieben.
Ich schlage der Fahrerin vor, die Anzeigen gegenseitig zurückzuziehen. Es ist ein durchaus respektvolles Telefongespräch, aber was mich erschüttert: Die Fahrerin sieht keinen Fehler ein. Ich neige dazu, ihr zu glauben, dass sie glaubt, was sie sagt. Diese Unfähigkeit, einzusehen, dass man andere Verkehrsteilnehmer gefährdet, dieser Mangel an Empathie spricht weniger gegen sie als gegen ihr Verkehrsmittel: Wer im Auto sitzt, nimmt die Realität verzerrt wahr – geschützt durch Blech, getrieben von einem Motor, dessen Stärke jedes menschliche Mass hinter sich lässt. Dem Autofahrer erscheint Tempo 30 – für den Radfahrer sportlich, für den Fussgänger unerreichbar – als langsam. (Dass die Fahrerin gegenüber der Polizei klar gelogen hat, sehe ich erst später, als ich das Protokoll der Befragung lese.)
Die Autofahrerin ist zum Rückzug bereit, falls ich eine Genugtuung zahle. Nun ist es eine Kosten-Nutzen-Rechnung: Was kostet mehr Geld und Nerven? Ich lasse mich erpressen und zahle der Frau, die meine Kinder gefährdet hat, Genugtuung.
Rüge für die Polizistin, aber ich bleibe der Depp
Eine Beschwerde gegen die Polizistin bei der Ombudsfrau der Stadt Zürich bringt ein paar Monate später eine gewisse Klärung. Der Rechtsdienst der Polizei nimmt gegenüber der Ombudsfrau Stellung: Es war nicht gerechtfertigt, mitten in der Nacht anzurufen und die Befragung auf Sonntag anzusetzen; es ist nicht statthaft, während der Anhörung Fragen im Stil von «Hassen Sie Autos?» zu stellen; meine Anzeige hätte die Polizistin entgegennehmen müssen. Dennoch – so schliesst der Rechtsdienst – habe die Polizistin «korrekt und professionell» gehandelt.
Die Ombudsstelle sieht das anders: Die Polizistin habe sich «nicht korrekt und professionell» verhalten. Das ist meine kleine Genugtuung. Konsequenzen hat ihr Verhalten aber nicht. Auch dass die Polizistin nach Anhörung der Zeugen offenbar – so geht es aus ihrer Aussage gegenüber dem Rechtsdienst hervor – dann doch noch zur Ansicht kam, meine Version der Geschichte sei die richtige, erfahre ich nun zu spät. Ich bleibe der Depp. Vor den Realitäten der Macht blieb nur die Kapitulation.
Marcel Hänggi