Kriegsdarstellungen
Deutschunterricht-Projekt für Mittelschulen
Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Ein Bürger in Goethes Faust I
Szene: Vor dem Tor (Osterspaziergang)
Worum geht es?
Darstellungen von Krieg und Gewalt sind in den Medien allgegenwärtig. Aber auch die Künste haben – seit Homers Ilias – immer wieder Krieg dargestellt oder – Marschmusik! – begleitet. Sie finden damit ein Publikum: Krieg fasziniert ganz offensichtlich (und lässt sich nicht verstehen, wenn man diese Faszination nicht berücksichtigt).
Die Darstellung von Krieg und Gewalt kann Verschiedenes bezwecken – und bewirken. Über Jahrhunderte verherrlichten Herrscher ihre «Heldentaten» in oft monumentalen Schlachtengemälden. Kriegsdarstellungen klagen aber auch an – drastische Darstellungen von Opfern kennt man aus dem Dreissigjährigen Krieg (z.B. Jacques Callot), von Francisco de Goya (Los Desastres de la guerra) und besonders seit dem Ersten Weltkrieg. Kriegsdarstellungen klagen an – aber sie können auch zu Rache, also zu Gegengewalt aufrufen. Die Regierung der USA hat militärische Eingriffe in Syrien mit schrecklichen Bildern getöteter Kinder gerechtfertigt – sowohl unter Barack Obama wie unter Donald Trump. Kriegsfilme nennen sich gern Antikriegsfilme – aber meistens zeigen sie Krieg vor allem als etwas Faszinierendes.
Für die Opfer wiederum kann es existentiell sein, dass sie das erfahrene Leid ausrücken können, dass ihnen Journalisten und Fotografinnen dabei helfen – aber Opfer können gerade noch einmal gedemütigt werden, indem man ihr Leiden zeigt, so wie es der IS mit Hinrichtungsvideos getan hat.
Warum ist das wichtig?
Im Sprachunterricht geht es darum, wie sich Wirklichkeit sprachlich darstellen, gestalten (und manipulieren) lässt und wie man sprachliche Darstellungen interpretiert. Kriegserfahrungen sind Extremerfahrungen. Die Fragen, die sich bei Sprachbetrachtungen ergeben, stellen sich deshalb im Zusammenhang mit Kriegsdarstellungen besonders akzentuiert: Sind extreme Erfahrungen überhaupt vermittelbar? Welche Formen finden Künstler/innen, das «Unsagbare» zu sagen? Wie erkennt man Propaganda?
Und wenngleich das zynisch klingen mag: Literarische, filmische, künstlerische Kriegsdarstellungen bieten, trotz allem, auch ästhetische Erfahrungen.
Was ich nicht vermitteln will
Angesichts der Grausamkeiten, die Menschen Menschen antun, liegt eine Folgerung nahe: Der Mensch ist im Grunde bös. Die Idee, es sei nur ein «dünner Firnis der Zivilisation», der unsere Barbarei bedecke, ist weit verbreitet. Thomas Hobbes gründete seine Staatsphilosophie darauf. Die Shoa schien die These zu bestätigen, und die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehende Sozialpsychologie schien sie mit Experimenten wie dem Milgram-Experiment (1961) oder dem Stanford-Prison-Experiment (1971) zu bestätigen. In Schulen wird die These gelehrt, wie diese Schüler-Antwort nahelegt.
Allein: Die These hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Sie ist aber wirkungsvoll: Herrscher berufen sich auf sie. Und weil sie geglaubt wird, ist sie bis zu einem gewissen Grad eine selbsterfüllende Prophezeiung. Das gilt namentlich für ihre ökonomische Variante: den Homo oeconomicus.
Das beste Antidot gegen diese Weltsicht ist Rutger Bregmans Studie Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit (Hamburg 2020). Sie ist sehr gut geschrieben und eignet sich, um Auszüge daraus mit den Klassen zu lesen.
Materialien
Zum Einstieg
«Donald Trumps Rache», Tages-Anzeiger vom 8. April 2017.
«Im Fernsehen sieht der US-Präsident die toten Kinder in Syrien. Die Opfer dieses Krieges hatten ihn bis dahin kaum interessiert. Doch nun gibt er den Befehl zum Angriff.»
Präsident Donald Trumps Rede zum US-Raketenangriff in Syrien, 7. April 2017.
«USA begründen Angriff mit Schock-Bildern», Berliner Zeitung vom 8. September 2013.
«Tote Kinder, zuckend am Boden liegende Menschen mit Schaum vorm Mund … Das Schock-Video ist Teil einer gigantischen Info-Kampagne, mit der Obama gegen seine Syrien-Pläne doch noch brechen will.»
«Das Grauen im grellen Licht». Republik vom 26. März 2019.
«Zwischen Bildern, Gewaltakten und Machtstrategien besteht eine fatale Komplizenschaft – wie jetzt das Attentat von Christchurch zeigt.»
Literarische Kriegsdarstellungen: Prosa
Wolfgang Borchert: «Die drei dunklen Könige» (1947). Kurzgeschichte.
Hamed Abboud: «Ich möchte einen Panzer fahren», aus: Der Tod backt einen Geburtstagskuchen. Texte. Aus dem Arabischen von Larissa Bender, Wädenswil 2017. Kurzgeschichte.
Amadou Kourouma: Allah n'est pas obligé (2002). Roman (kurzer Auszug)
Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert (2001). Roman (kurzer Auszug)
Shoa und Gulag
Primo Levi: Ist das ein Mensch? (Se questo è un uomo) (1949). Levis Bericht über seine elf Monate in der Hölle des Vernichtungslagers Auschwitz.
Warlan Schalamow: Über die Kolyma. Erinnerungen (2018). Schalamow wurde 1937 nach Kolyma im Nordosten Sibiriens in ein Arbeitslager deportiert. Erst 1956 kam er frei. Heimlich schrieb er während seiner Lagerzeit an Erzählungen, die er ins Ausland schmuggelte, wo sie 1971 erstmals erschienen.
Literarische Kriegsdarstellungen: Lyrik
Lyrik nach Auschwitz? Klaus Laermann: «Die Stimme bleibt. Theodor W. Adornos Diktum – Überlegungen zu einem Darstellungsverbot», Die Zeit, 27. März 1992
Lyrik gegen den Krieg? Günter Kunert: «Poeten an die Front. Über die Hilflosigkeit pazifistischer Lyrik in den Zeiten des Krieges», Die Zeit, 20. März 2003. – Am 20. März marschierte eine Allianz von Truppen unter der Führung der USA im Irak ein. Kunert polemisiert in seinem Essay gegen den Versuch, mit Gedichten gegen den Krieg anzukämpfen. Zwei Wochen zuvor hat er, ebenfalls in der Zeit, selbst ein Antikriegsgedicht publiziert.
Marie Luise Kaschnitz (1901 - 1974): «Hiroshima»
Paul Celan (1920 - 1970): «Todesfuge»
> «Die Todesfuge», gelesen von Paul Celan, auf Youtube
Wilfred Owen (1893 - 1918): «Dulce et decorum est» (1917)
Ernst Jandl (1925-2000): [ohne Titel]. Das Gedicht handelt nicht vom Krieg, aber von einer Folterszene
Kriegsverherrlichung (Lyrik)
Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65 - 8 v. Chr.): «Carmina» (Oden)
Johann Rudolf Wyss: «Rufst du mein Vaterland» (1811), alte Schweizer Nationalhymne (bis 1961)
Filippo Tommaso Marinetti: «Manifest des Futurismus», erstmals publiziert in: Le Figaro, Paris, 20. Februar 1909
Konrad Astfalck: «Der Blutrausch», August 1914
Radovan Karadžić: [Hetzgedicht ohne Titel], 1995. Karadžić war der politisch Hauptverantwortliche des grössten Massakers in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg in Srebrenica in Bosnien-Herzegowina, 1995; er ist vom Kriegsverbrechertribunal in den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Essays
Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten (Original: Regarding the Pain of Others) (2003), Auszüge
Carolin Emcke: «‹Weil es sagbar ist.› Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit» (Auszüge), aus: ‹Weil es sagbar ist.› (2013).

Dokumentation Film / Fotografie
Christian Frei: War Photographer (2001). Ein filmisches Porträt eines der renommiertesten Kriegsfotografen der Welt, James Nachtwey. Frei bewundert Nachtwey offensichtlich; ich fragte mich beim Betrachten des Films aber öfter: Überschreitet Nachtwey nicht immer wieder Grenzen des Legitimen? Macht er sich nicht mitunter zum Voyeur, gar zum Mittäter?
Laurent Veray, Agnes De Sacy: Die Kameramänner von Verdun (2008). Im Ersten Weltkrieg ist Film ein ganz neues Medium. Ein französischer und ein deutscher Kameramann dokumentieren den Krieg im Auftrag ihrer Armeen. Beide schreiben Tagebuch. Der ARTE-Dokumentarfilm zeigt, wie die beiden zuerst nach den besten Aufnahmetechniken und -perspektiven suchen, mehr und mehr aber die eigene Sicht auf den Krieg in Frage stellen.
Halbdokumentarisch ist der Zugang von Anja Kofmels Chris the Swiss (2018): Kofmel war ein Kind, als ihr Cousin 1992 als Kriegsreporter nach Kroatien fuhr und nicht mehr zurückkehrte. Die Hintergründe seines Todes wurden nie aufgeklärt. Kofmel begibt sich 25 Jahre später auf die Suche nach seinen Spuren. Wo sie nichts Sicheres weiss, stellt sie sich vor, wie es hätte sein können – diese Passagen des Films sind gezeichnet.
Spielfilm
Francis Ford Coppola: Apocalypse Now (1979). Der monumentale Film gilt vielen als der beste Kriegsfilm. Coppola verlegt die Handlung von Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis (1899) aus dem Kongo der Jahrhundertwende in den Vietnamkrieg und inszeniert den Krieg als einen Rausch aus Drogen und Gewalt. Ikonisch ist vor allem der Helikopterangriff auf ein Dorf zum «Walkürenritt» von Wagner; die US-Army greift das Dorf einzig deshalb an, weil ein durchgeknallter Oberst vor seiner Küste surfen will. (Altersfreigabe: FSK 16)
Ganz anders zeigt Ermanno Olmi den Krieg in Torneranno i prati (2014): Im Ersten Weltkrieg harren italienische Soldaten im tiefsten Winter in einem Unterstand nahe der Front aus, zermürbt von Krankheit, Angst, Heimweh und der Sinnlosigkeit. Eigentliche Kampfszenen gibt es nicht.
Ademir Kenovićs Savršeni krug (Der perfekte Kreis) (1997) spielt während der Belagerung Sarajevos im Bosnienkrieg. Hamza, dessen Frau und Tochter geflüchtet sind, nimmt zwei Jungen bei sich auf, deren Eltern einem Massaker zum Opfer gefallen sind. Hamza macht sich auf die Suche nach der Tante der beiden Buben, ihrer nächsten lebenden Verwandten.
Ebenfalls 1997 drehte der italienische Komiker Roberto Benigni seine Tragikomödie La vita è bella (Das Leben ist schön). Der Film besteht aus zwei Teilen: Teil 1 ist eine Komödie mit viel Slapstick. Sie wäre gänzlich unbeschwert, tauchten nicht immer wieder Zeichen der faschistischen Diktatur und des Judenhasses auf. In der Filmmitte werden der Protagonist Guido, sein Sohn Giosuè und seine Frau Dora in ein deutsches Vernichtungslager deportiert. Giosuè überlebt die Hölle, weil sein Vater ihm vorspielt, es sei alles nur ein Spiel.
Graphic Novel Joe Sacco hat Reportagen und Romane unter anderem über die Kriege in Bosnien und Palästina gezeichnet, beispielsweise Sarajevo (2003), in dessen Zentrum ein so genannter «Fixer», eine Art Fremdenführer für ausländische Journalisten im Krieg, steht. Hamid Sulaimans gezeichneter Roman Freedom Hospital (2013) spielt im syrischen Bürgerkrieg; seine kontrastreiche, harte Bildsprache unterscheidet sich stark vom Strich Saccos. Jérôme Tubiana und Alexandre Franc erzählen in Guantanamo Kid – Die wahre Geschichte des Mohammed el Gharani (2019) die Geschichte von el Gharani, der als 14-Jähriger von der US-Armee gefangen und ins Gefangenenlager Guantanamo verschleppt wurde. |