Ernst Jandl
[ohne Titel]
Waunsas wissen woiz sai greiz
woraus hoez und bei an jedn hommaschlog
hods eam grissn und gschrian hoda
wauns es ned von söwa gwusd haum soiz
Ernst Jandl (1925 - 2000) war ein österreichischer Lyriker, der zu den wichtigsten (experimentellen) deutschsprachigen Lyrikern des 20. Jahrhunderts gehörte.
Wie stellt man etwas Schreckliches als schrecklich dar, wenn es schon so oft dargestellt wurde, dass es abgenutzt ist? Dem Literaturwissenschaftler Peter von Matt zufolge tut Ernst Jandl mit diesem Gedicht genau das:
Solange der Text fremd bleibt, semantisch verschlossen, ist er ein grossartiges Klanggefüge. So soll er auch zunächst erfahren werden, und ganz verschwinden darf diese Erfahrung selbst dann nicht, wenn die Übertragung ins Hochdeutsche den Schleier wegreisst. Sonst wäre alles ein bloßes Rätselspiel, eine sprachliches Vexierbild unter der Parole: Wer findet die Lösung? (...)
Tatsächlich müssen wir am Ende beides zu sehen vermögen: das Gedicht als beschreibenden, uns anredenden Text und als ein freies akustisches Gebilde. Der Inhalt aber, wie immer wir zu ihm gelangen, trifft wie ein Schock.
In der Transkription des Autors: «wenn ihr es wissen wollt sein kreuz / war aus holz und bei jedem hammerschlag / hat es ihn gerissen und geschrien hat er / wenn ihr es nicht von selbst gewusst haben solltet.»
Die Passion Christi, von tausend Bildern zugedeckt, ein Stereotyp unter Stereotypen, verstaubt, abgelagert auf dem Dachboden der europäischen Kultur, in den Museen ein ewiges Déjà-vu. [...] hier bricht sie als furchtbare Wirklichkeit durch den dadaistischen Vorhang. Das Annageln des lebendigen Leibes an das Holz tritt uns vor Augen, als hätten wir noch nie davon gehört. Die Qual. Die Schreie.
Die Floskeln aber, mit denen der Text beginnt und endet: «Wenn ihrs wissen wollt ... wenn ihr’s nicht von selbst gewusst haben solltet», diese wie am Wirtshaustisch gequasselten Sätze zielen auf das, was das Gedicht in Wahrheit leistet. Es macht uns etwas längst Bekanntes zum ersten Mal bewusst.
Peter von Matt: Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte, München 2009, Seiten 194 - 195