4. Interpretieren
4.1 Interpretation in verschiedenen Fachgebieten
Interpretieren heißt deuten, also Bedeutungen einer Botschaft finden. Im Grunde ist jedes Verstehen eine Interpretation, weil jede Information in irgend einer Form codiert ist und vom Empfänger decodiert werden muss. Man verwendet den Begriff aber dann, wenn er einen bewussten Deutungsakt bezeichnet – im Gegensatz zum (scheinbar) spontanen Verstehen.
Jede Wissenschaft versucht, Phänomene zu deuten respektive zu erklären. Deshalb muss auch jede Wissenschaft interpretieren. Auch Künste interpretieren. Das kann aber je nach Disziplin Verschiedenes heißen:
- Empirische Naturwissenschaften interpretieren Beobachtungen und Messresultate idealerweise objektiv, also so, dass es keine Rolle spielt, wer wann wo interpretiert. Wenn ein:e Wissenschaftler:in etwas Eigenes in die Beobachtungen einbringt, was nicht aus diesen selber hervorgeht, nennt man das ein Artefakt – eine nicht gültige Schlussfolgerung.
- Auch Gerichte sollten Gesetze objektiv auslegen, also so, dass es keine Rolle spielt, wer die oder der Richter:in ist. Tatsächlich lassen Gesetze aber oft einen Ermessensspielraum, und Richter:innen müssen sich in die Interpretation aktiv einbringen. Deshalb sind Richterwahlen ja oft auch politisch brisant.
- Eine ziemlich andere Bedeutung hat das Wort «Interpretieren» in der Musik oder im Theater: Eine Musikerin interpretiert ein Musikstück, ein Regisseur ein Theaterstück, eine Schauspielerin eine Figur. Hier ist die Interpretation eine eigene künstlerische Leistung und auf jeden Fall subjektiv.[1]
[1] Die Perkussionistin Evelyn Glennie zeigt eindrücklich, was der Unterschied ist zwischen dem bloßen Lesen und dem Interpretieren eines Musikstücks: www.youtube.com/watch?v=IU3V6zNER4g, Time-Codes 1:45 bis 4:50 sowie 6:55 bis 7:55. – Ein großartiges Beispiel einer schauspielerischen Textinterpretation wiederum finden Sie – auf englisch – hier: www.youtube.com/watch?v=zGbZCgHQ9m8. Der Schauspieler Ian McKellen erklärt, wie er bei der Interpretation des berühmten Monologs «Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow» aus Shakespeares Tragödie Macbeth verfährt.
4.1.1 Bibelauslegung (Exegese)
Die Bibel ist Gottes Wort: Darüber herrschte im christlichen Europa lange Zeit Konsens. Um die Frage, wie dieses Wort zu verstehen sei – in der Theologie spricht man von Bibelauslegung oder Exegese –, wurden aber Kriege geführt. So haarspalterisch uns heute gewisse Debatten der mittelalterlichen Theologen erscheinen: Die theologische Exegese war im europäischen Kulturraum gewissermaßen die Mutter jedes wissenschaftlich-systematischen Interpretierens.
Im Mittelalter entwickelten die Theologen die Lehre vom vierfachen Schriftsinn – jede Bibelstelle hat vier Bedeutungen:
Im Mittelalter entwickelten die Theologen die Lehre vom vierfachen Schriftsinn – jede Bibelstelle hat vier Bedeutungen:
- buchstäblich ist der Inhalt der Bibel ein wahres Zeugnis der Geschichte;
- allegorisch macht sie eine Aussage über einen Glaubensinhalt;
- moralisch ist sie eine Handlungsanweisung für die Gläubigen;
- anagogisch oder eschatiologisch verweist sie auf die Heilsgeschichte und gibt den Gläubigen Hoffnung.
4.1.2 Gesetzesauslegung
Gerichte müssen Gesetze in konkreten Situationen interpretieren. Wenn möglich, richten sie ihre Auslegung nach älteren Urteilen gleich- oder höherrangiger Gerichte – so genannte Präzedenzentscheide. Bei neuen Gesetzen gibt es noch keine Präzedenzen. Hier kommt eine dreifache Auslegung zum Zug – im Versuch, dem Willen des Gesetzgebers möglichst gerecht zu werden:
- Die systematische Auslegung betrachtet das auszulegende Gesetz im Kontext anderer gesetzlicher Bestimmungen zum selben Thema;
- die historische Auslegung fragt nach der Entstehungsgeschichte eines Gesetzes (und betrachtet dabei beispielsweise, was im Parlament oder in einem Abstimmungskampf über das Gesetz diskutiert wurde);
- die teleologische Auslegung fragt, welches Ziel mit der Einführung eines Gesetzes verfolgt wurde. Von mehreren möglichen Auslegungen ist die zu bevorzugen, die zu diesem Ziel führt.
In der Regel gehen Richter:innen davon aus, dass man alte Gesetzestexte heute im Lichte unserer Zeit interpretieren muss. Es gibt aber die Schule der so genannten Originalist:innen, die den Sinn, der ein Gesetz hatte, als es erlassen wurde, als den einzig wahren akzeptieren. Bis vor einigen Jahren galten die Originalist:innen als spinnerte Splittergruppe. Heute besetzen sie im höchsten Gericht der USA, dem Supreme Court, die Mehrheit der Richter:innenstellen. Sie sind überzeugt, dass man die US-Verfassung so verstehen muss, wie sie von ihren Schöpfern im 18. Jahrhundert gemeint war.
4.1.3 Statistiken interpretieren
In den empirischen Wissenschaften lässt sich vieles nicht beweisen, sondern lediglich statistisch belegen – beispielsweise die Frage, ob ein neues Medikament wirkt oder nicht. Wichtige Aufgabe der Statistik ist es, signifikante – das heißt aussagekräftige – Resultate von Zufallsbefunden zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist aber nicht trennscharf möglich: Die Statistik kann nur Wahrscheinlichkeitsaussagen treffen. Ein Resultat gilt dann als statistisch signifikant, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es zufällig zustande gekommen ist, gering ist.
- Beispiel: Wenn Sie dreimal eine Sechs würfeln, ist das ein großer Zufall – aber vermutlich betrachten Sie es noch als normal (die Wahrscheinlichkeit beträgt 1 : 6[hoch]3, also 1 : 216). Wenn Sie danach nochmals drei Sechsen werfen, vermuten Sie aber wohl, dass die Würfel verfälscht seien. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zufällig sechs Sechsen würfeln, beträgt nur noch 1 : 6[hoch]6, also 1 : 46 615 – aber auch das ist natürlich möglich. Wenn Sie im Lotto alle Zahlen richtig ankreuzen, ist das für sich allein betrachtet extrem unwahrscheinlich – aber wenn sehr viele Leute Lotto spielen, ist erwartbar, dass ab und zu jemand rein zufällig alle Zahlen richtig ankreuzt.
Die Schwelle, ab wann ein Resultat als signifikant gilt, heißt in der Statistik p-Wert. Sie wird einigermaßen beliebig festgelegt – für klinische Studien typischerweise bei 0.05. Das heißt: Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Resultat zufällig zustande kam, kleiner als 5% ist, gilt das Resultat als statistisch signifikant. Das heißt aber auch: Wenn Sie zwanzig klinische Studien mit signifikanten Resultaten haben, ist zu erwarten, dass eines der zwanzig Resultate ein Zufallsbefund ist – und das entsprechende Medikament nicht wirkt.
4.2 Esoterik (Hermetik): eine Interpretationshaltung
Die Esoterik oder Hermetik (letzteres Wort geht auf Hermes Trismegistos zurück, einen sagenhaften Autor esoterischer Schriften in der Antike) ist eine Haltung zur Welt, in der man vor allem eine Interpretationshaltung sehen kann. Diese Haltung existiert wohl in allen Kulturen, auch wenn sie in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich verbreitet ist.
Esoteriker:innen sehen die ganze Welt als ein Buch, dessen Zeichen man lesen kann, wenn man sie denn zu lesen versteht – seien es Sternenkonstellationen, Zahlenkombinationen, Ereignisse oder auch das Wetter. Im nicht-esoterischen Verständnis hat etwas, was zufällig ist, keine Bedeutung: Wenn ich zufällig am gleichen Tag Geburtstag habe wie meine Lehrerin, so gibt es da nichts zu interpretieren. Für Esoteriker:innen hingegen gibt es keinen Zufall: Alles bedeutet etwas.
Aus esoterischer Sicht versteckt sich hinter den offensichtlichen (manifesten) Bedeutungen der Zeichen weitere (latente) Bedeutungen. Diese «wahreren» Bedeutungen erkennen aber nur wenige Eingeweihte – die meisten Menschen sehen nur die manifesten Bedeutungen: Esoterische Zeichendeutung ist eine Geheimwissenschaft (esoterisch bedeutet auf griechisch «abgeschlossen»). Nur Eingeweihte verstehen die Welt und ihre Zeichen richtig zu interpretieren. Die entgegengesetzte Haltung ist der Fundamentalismus: Für den Fundamentalisten gibt es nur eine (seine) Wahrheit, nur eine Bedeutung (beispielsweise der Bibel), und alle können sie verstehen, ohne interpretieren zu müssen.
Mit der Esoterik verwandt sind Verschwörungstheorien: Auch sie gehen davon aus, dass es hinter der manifesten Sicht auf die Dinge noch eine versteckte Wahrheit gibt, welche die Verschwörer:innen zu vertuschen suchen. Verschwörungstheoretiker wie Esoterikerinnen kann man nie widerlegen: Entweder, man gibt ihnen Recht – oder man widerspricht und liefert dadurch nur einen weiteren Beleg dafür, dass die eigentliche Wahrheit unterdrückt wird.
Der Semiotiker Umberto Eco (1932 - 2016) hat sich intensiv mit dem esoterischen Denken befasst. In seinem großartigen und sehr lustigen Roman Das Foucaultsche Pendel (1988) erfinden drei Freunde zum Spaß eine Weltverschwörung. Esoteriker erfahren davon und verfolgen die drei, um weitere Informationen aus ihnen zu erpressen. Die Freunde können nicht mehr entkommen: Jede Beteuerung, es sei alles frei erfunden, wird von den Esoterikern als Beweis gesehen, dass die von den Freunden erfundene Verschwörung echt sei …
4.3 Übersetzen
Eine Dolmetscherin / ein Dolmetscher heißt auf französisch interprète, auf englisch interpreter. Das Übersetzen ist eine Interpretationsleistung: Es gilt, einen Text zu verstehen und in einer anderen Sprache möglichst getreu wiederzugeben. Wobei «getreu» Verschiedenes heißen kann:
Ein Sachtext ist in der Regel dann am besten übersetzt, wenn seine Übersetzung möglichst gleich verstanden wird wie der Ausgangstext. Der Übersetzer oder die Übersetzerin sollte also möglichst wenig von sich in die Übersetzung hinein geben. Weil Wörter aber oft mehrdeutig sind und in einer anderen Sprache keine hundertprozentig passgenaue Entsprechung haben, ist das nicht immer möglich.
- Beispiel: Charles Darwin schuf den Begriff des struggle for survival als Antriebskraft der Evolution der Arten. «Struggle» kann man mit «Anstrengung», «Bemühung» oder «Kampf» übersetzen. Der deutsche Biologe Ernst Haeckel, ein glühender Verehrer Darwins, der viel zur Verbreitung von dessen Lehre beitrug, wählte die Übersetzung Kampf ums Überleben. Damit machte er Darwins Lehre kämpferischer, als Darwins sie gedacht hatte – was Haeckels Weltbild entsprach und bis heute wirkt.
Literarische Texte setzen Mehrdeutigkeiten gezielt ein; auch der Klang der Sprache ist wichtig – am meisten in der Lyrik (vgl. Abschnitt 4.5). Literarisches Übersetzen heißt deshalb immer auch nach-dichten – es ist eine eigene künstlerische Leistung.
- Beispiel: In Shakespeares Drama Richard III. sagt Richard
Now is the winter of our discontent
Made glorious summer by this son of York.
Richard entstammt der Familie York, er ist also ein «Sohn Yorks»; gleichzeitig tönt «son» wie «sun». Shakespeare schreibt zwar «son», nicht «sun» – aber das ist nicht so wichtig, denn das Theaterpublikum hört das Wort ja und sieht nicht, wie es geschrieben ist. Richard bezeichnet sich selbst hier sowohl als Sohn der Stadt York wie auch als die Sonne, die aus dem trostlosen Winter einen glorreichen Sommer macht.
- Beispiel: In Gustave Flauberts Roman Madame Bovary findet sich der Satz
Il fuma dans la chambre, cracha sur les chenets, causa culture, veaux, vaches, volailles et conseil municipal.
Die großartige Übersetzerin Elisabeth Edl macht daraus
Er rauchte im Zimmer, spuckte auf die Feuerböcke, hielt Reden über Rapsanbau, Kälber, Kühe und Karnickel oder den Gemeinderat.
Edl übersetzt also «volailles» (Geflügel) mit «Karnickel» und «culture» mit «Rapsanbau». Dass «culture» hier einen landwirtschaftlichen Anbau meint, versteht sich aus dem Kontext, aber warum Raps? und warum Karnickel? Edl hat realisiert, dass es hier nicht so wichtig ist, worüber gesprochen wird; wichtig aber ist der Klang: Flaubert verwendet mehrere Alliterationen (Wörter, die mit dem selben Laut beginnen):
chambre – chenets; causa – culture; veaux – vaches – volailles.
Nicht alle Alliterationen kann Edl nachbilden, aber immerhin zwei:
Reden – Rapsanbau und Kälber – Kühe – Karnickel.
4.4 Künstliche Intelligenz
Kann künstliche Intelligenz (KI) menschliche Sprache verstehen?
Wenn Chat GPT einen Auftrag korrekt ausführt oder auf eine Frage eine passende Antwort gibt; wenn DeepL einen deutschen Satz korrekt ins Französische übersetzt, dann hat die KI in diesen Fällen die Spracheingabe in einem gewissen Sinne «verstanden» – die Mensch-Maschine-Kommunikation hat funktioniert. Aber dieses «Verstehen» der KI hat mit dem menschlichen Verstehen nicht viel zu tun. KI erkennt keine Bedeutungen.
KI-Programme berechnen Wahrscheinlichkeiten, indem sie riesige Textmengen analysieren. Wenn ein (deutschsprachiger) Mensch das Wort «Hund» hört oder liest, weckt das in seinem Gehirn die Vorstellung eines Hundes. KI hat keine Vorstellung, was ein Hund ist, aber KI «weiß», dass das Wort «Hund» beispielsweise häufig zusammen mit dem Wort «bellen» auftritt; ebenfalls oft (aber schon weniger oft) mit «jaulen», «kläffen» oder «knurren», kaum je aber mit «singen» oder «zwitschern». Und die KI «weiß» auch, dass das Wort «Hund», wenn es nach dem Wort «des» steht, die Endung «-es» bekommt: «des Hundes». Wenn die KI mit historischen Texten trainiert ist, «weiß» sie auch, dass das Wort «Hund» nach dem Wort «dem» in älteren Texten die Endung «-e» erhält («dem Hunde»); dass diese Endung aber immer unwahrscheinlicher auftritt, je jünger der Text ist.
Wenn Chat GPT einen Auftrag korrekt ausführt oder auf eine Frage eine passende Antwort gibt; wenn DeepL einen deutschen Satz korrekt ins Französische übersetzt, dann hat die KI in diesen Fällen die Spracheingabe in einem gewissen Sinne «verstanden» – die Mensch-Maschine-Kommunikation hat funktioniert. Aber dieses «Verstehen» der KI hat mit dem menschlichen Verstehen nicht viel zu tun. KI erkennt keine Bedeutungen.
KI-Programme berechnen Wahrscheinlichkeiten, indem sie riesige Textmengen analysieren. Wenn ein (deutschsprachiger) Mensch das Wort «Hund» hört oder liest, weckt das in seinem Gehirn die Vorstellung eines Hundes. KI hat keine Vorstellung, was ein Hund ist, aber KI «weiß», dass das Wort «Hund» beispielsweise häufig zusammen mit dem Wort «bellen» auftritt; ebenfalls oft (aber schon weniger oft) mit «jaulen», «kläffen» oder «knurren», kaum je aber mit «singen» oder «zwitschern». Und die KI «weiß» auch, dass das Wort «Hund», wenn es nach dem Wort «des» steht, die Endung «-es» bekommt: «des Hundes». Wenn die KI mit historischen Texten trainiert ist, «weiß» sie auch, dass das Wort «Hund» nach dem Wort «dem» in älteren Texten die Endung «-e» erhält («dem Hunde»); dass diese Endung aber immer unwahrscheinlicher auftritt, je jünger der Text ist.
4.5 Literatur interpretieren
Mehrdeutigkeit kann lästig sein, denn sie führt zu Missverständnissen. In der Kunst aber ist sie erwünscht. Kunst ist immer mehrdeutig; eine eindeutige Botschaft ist keine Kunst. Der Kunstgenuss besteht gerade auch darin, Deutungen – und immer wieder neue Deutungen – zu finden. Ein Kunstwerk, hat der italienische Semiotiker und Schriftsteller Umberto Eco (1932 - 2016) gesagt, ist «eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen.» Die Kunstform der Sprache ist die Literatur.
Ein literarisches Werk hat also immer mehrere gültige Interpretationen. Jede Interpretation ist selber eine kreative Leistung.
Die Literaturwissenschaften haben eine Reihe von Schulen hervorgebracht, die je ihre eigenen Interpretationsmethoden haben: die werkimmanente, die hermeneutische, die strukturalistische, die poststrukturalistische, die psychoanalytische, die feministische … Die brauchen Sie nicht gross zu kümmern (es sei denn, Sie studieren dereinst Literaturwissenschaften).
Literarische Werke (oder auch Filme oder Werke der bildenden Kunst) zu interpretieren ist keine Geheimwissenschaft und keine Suche nach einem Sinn, die die Autorin oder der Autor wie Ostereier in seinem oder ihrem Werk versteckt hat. Interpretieren ist nicht einmal die Kunst, «zwischen den Zeilen zu lesen», wie man sagt. Nein: Sie brauchen nichts «zwischen den Zeilen» zu lesen, Sie müssen nur genau lesen, was in den Zeilen steht.
Dabei wird jede Leserin und jeder Leser zu einer etwas anderen Interpretation gelangen, und die Interpretationen verändern sich mit der Zeit: Shakespeares Richard III. bedeutet heute gewissermaßen etwas anderes als zur Zeit seiner Uraufführung kurz nach 1600, Beethovens Klaviersonate Nr. 32 Op. 111 ist heute ein anderes Werk als bei ihrer Uraufführung 1823 (es gibt in der Passage, die tönt für heutige Ohren nach Boogie-Woogie. Zeitgenoss:innen Beethovens konnten diese Assoziation nicht haben, weil Boogie-Woogie ein Musikstil des 20. Jahrhunderts ist). Das bedeutet aber nicht, dass jede beliebige Interpretation richtig wäre.
Wie interpretiert man also – und was zeichnet eine richtige gegenüber einer falschen Interpretation aus?
4.5.1 Techniken der Interpretation
Eine Anleitung «Literatur interpretieren für Dummys» erhalten Sie hier nicht. Interpretieren ist eine Technik, die man üben muss. Viele Wege führen zum Ziel, einige Grundsätze sollte man aber beachten.
Jede Interpretation beginnt mit genauem Lesen, mit einer Aufmerksamkeit für die vielen Zeichen eines Texts und die Beziehungen zwischen diesen Zeichen – und ihre Beziehungen zur Welt außerhalb des Texts. Man könnte sagen: Die Zeichen (Figuren, Eigenschaften, Handlungselemente) eines Texte sprechen miteinander und mit der Welt. Dabei erhalten die Zeichen im Kontext Bedeutungen, die sie ohne diesen Kontext nicht hätten. «Son of York» kann man als «Sohn von York» wie als «Sonne von York» verstehen; weil aber der Satz die Wörter «winter» und «summer» enthält, wird Richard – in seiner unbescheidenen Selbstdarstellung – zur Sonne, die den Unterschied zwischen dem «Winter unsers Missvergnügens» und dem «gloriosen Sommer» ausmacht. (Überlegen Sie sich Beispiele aus der Ihnen bekannten Literatur!)
Aber nicht nur die Zeichen innerhalb eines Texts sprechen miteinander; auch verschiedene Texte, Filme, Kunstwerke «sprechen» miteinander und verweisen aufeinander. Man nennt dieses Verweisen Intertextualität. Mit dieser Technik kann sich ein Werk Bedeutungen von anderen Werken gewissermaßen ausleihen.
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) hat betont, dass das Verstehen eines Texts immer eine Annäherungsbewegung ist und nie vollständig ans Ziel gelangt: Jede Interpretation ist vorläufig. Gadamer beschrieb das Verstehen als eine Spiralbewegung auf das Ziel hin – den hermeneutischen Zirkel (Hermeneutik – nicht zu verwechseln mit Hermetik – ist die Teildisziplin der Philosophie, die sich mit dem Verstehen befasst).
Der Gedanke des hermeneutischen Zirkels geht von dem Paradox aus, dass man ein Ganzes nur verstehen kann, wenn man seine Teile versteht, und die Teile nur, wenn man das Ganze versteht. Will man einen Text interpretieren, versucht man zuerst seine Teile zu verstehen – so gut das eben geht, wenn man den ganzen Text noch nicht kennt. Dann betrachtet man den ganzen Text und kehrt danach zu den Teilen zurück, die man nun besser versteht – und so weiter.
Gadamer zufolge geht jedes Verstehen von einem Vorurteil aus – ein Vorurteil war für ihn nichts Negatives, denn vorurteilsfreies Verstehen gibt es laut Gadamer gar nicht. Das Vorurteil überprüft man am Text, um es zu revidieren und zu einem besseren Urteil zu gelangen, das man wiederum am Text überprüft – auch das eine Suchbewegung, die sich dem «richtigen» Verständnis des Texts spiralförmig nähert, ohne jemals ganz ans Ziel zu gelangen.
Wichtig bei jeder Interpretation ist, dass Inhalt und Form zusammenspielen (wobei sich gar nicht scharf trennen lässt, was Form ist und was Inhalt). Form und Inhalt können sich gegenseitig bestärken, aber auch widersprechen. In der Kunstform der Sprache, der Literatur, sind Form und Inhalt gezielt aufeinander bezogen. In der Alltagssprache ist die Form aber ebenso wichtig: Sagt man etwas laut oder leise, schnell oder langsam, einfach oder kompliziert; mit welchen Gesten und welcher Mimik begleitet man seine Wörter – und so weiter. Im alltäglichen Sprechen sind wir uns – sowohl als Sprecher:in wie als Zuhörer:in – der Form oft nicht bewusst; unbewusst wirkt die Form des Gesagten aber nur umso intensiver.
Auch beim Lesen von Literatur wirkt die Form der Sprache oft unbewusst: Sie trägt zum Genuss des Lesens auch dann bei, wenn ich mir dazu keine Gedanken mache. Interpretieren heißt auch, solche Wirkungen bewusst zu machen.
4.5.2 Wozu Literatur interpretieren?
Man kann Literatur (und jede andere Kunstform) lesen respektive wahrnehmen und genießen, ohne irgendwelche bewusste Interpretationsarbeit zu leisten, und in den weitaus meisten Fällen werden Sie tatsächlich so lesen. Ein bewusstes Interpretieren kann mehrere Vorteile bringen:
- Das Interpretieren selbst kann eine lustvolle, spielerische Tätigkeit sein, gerade, wenn man es nicht alleine betreibt. Der gleiche Text zeigt sich in immer wieder neuer Gestalt; er fordert einen hinaus, Bedeutungen zu suchen, mit eigenen Welterfahrungen in Bezug zu setzen und somit die Welt mit anderen Augen zu sehen.
- Bewusstes Interpretieren ist eine Übung. Wer das Interpretieren übt, wird danach auch bei solchen Texten, die er oder sie «nur zum Vergnügen» und ohne bewusste Interpretationsleistung liest, mehr Facetten wahrnehmen. Wenn ich das Interpretieren von Kunst einmal geübt habe, erscheint mir jede Kunst reicher. Und ich kann literarische Techniken auch in nicht-literarischen Botschaften leichter erkennen.
- Ein literarisches Werk ist immer auch ein Dokument seiner Zeit und der Gesellschaft, in der es entstanden ist. Interpretieren heißt auch, die Aussagen wahrzunehmen, die ein Werk über seine Zeit und sein Umfeld macht – Aussagen, die der Autorin oder dem Autor selber beim Schreiben oft gar nicht bewusst waren.
4.5.3 «Was will der Autor / die Autorin uns sagen?»
Wenn Sie einen Brief bekommen, interessiert es Sie, was Ihnen der Absender oder die Absenderin mitteilen will. Der Kommunikationszweck der Kunst (und also auch der Literatur) ist aber nicht die Übermittlung von Informationen, sondern ein ästhetischer. Es kann schon sein, dass eine Autorin oder ein Autor mit einem Werk etwas Bestimmtes sagen will – aber das darf Ihnen als Leser:in egal sein: Entscheidend ist, was die Autorin oder der Autor tatsächlich sagt (respektive schreibt) – nicht, was sie oder er sagen will.
Wenn ein:e Autor:in das eigene Werk interpretiert, so ist das auch nur eine Interpretation unter vielen möglichen.
Beim Schreiben fließt vieles in das Werk ein, dessen sich der Autor oder die Autorin gar nicht bewusst ist. Franz Kafka hat in seinem Tagebuch über seine berühmte Erzählung Die Verwandlung (1915) nachgedacht. Ihm war aufgefallen, dass der Name der Hauptfigur, Gregor Samsa, seinem eigenen Namen ähnelt: je fünf Buchstaben, je an zweiter und fünfter Stelle ein a, je an erster und vierter Stelle der selbe Konsonant. Kafka staunte und fragte sich, was das zu bedeuten habe: Der Autor interpretierte das eigene Werk – und fand Überraschendes.
4.5.4 Richtige und falsche Interpretationen
Ein Kunstwerk lässt immer viele Interpretationen zu, und ob eine Interpretation gültig sei oder nicht, lässt sich nicht immer eindeutig sagen: Dem einen mag eine Interpretation einleuchten, der anderen nicht.
Trotzdem gibt es ein einfaches Kriterium, an dem man die Gültigkeit jeder Interpretation messen kann: Wird sie durch das Werk gestützt? Das heißt für Sie: Wenn Sie einen Text interpretieren, müssen Sie diese Interpretation mit dem Text belegen können. Wenn der Text Sie zu Überlegungen inspiriert, die vom Text wegführen, so ist das ein schöner Effekt der Literatur – aber diese Überlegungen sind nicht mehr Teil der Interpretation.
4.5.5 «Gegen Interpretation»
1966 veröffentlichte die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag (1933-2004) einen Aufsatz mit dem Titel «Against Interpretation»[1]. Sontag polemisiert darin nicht so sehr gegen das Interpretieren an und für sich – sie selber war eine brillante Interpretin – als vor allem gegen eine bestimmte Weise, Kunstwerke zu betrachten. Diese bis heute weit verbreitete Betrachtungsweise sieht Kunstwerke gewissermaßen als Behälter für Bedeutung. Interpretieren bedeutet, diese Bedeutung zu finden; der Behälter und seine Form sind dabei unwichtig.
Für Sontag geht es hingegen darum, ein Kunstwerk zunächst einmal wahrzunehmen, wie es ist (da könnte man einwenden, dass eine Wahrnehmung ganz ohne Interpretation gar nicht möglich sei). Die Form ist dabei ganz entscheidender Teil des Werks. Kunst führt, wenn man sich auf sie einlässt und sie sinnlich wahrnimmt, zu ästhetischen Erfahrungen, und zur Kunsterfahrung gehört auch das Nicht-Verstehen.[2]
Der Essay endet mit dem Satz «Statt einer Hermeneutik [Interpretationstheorie] brauchen wir eine Erotik der Kunst.»
[1] Deutsch erstmals publiziert im Band Kunst und Antikunst, Reinbek bei Hamburg 1968.
[2] Sontag hat sich auch in ihrem späteren Werk immer wieder mit dem Nicht-Interpretieren befasst. Eines ihrer bekanntesten Bücher ist Krankheit als Metapher (1978), worin Sontag dagegen anschreibt, Krankheiten als Symbole für irgendwas zu sehen. Und im Essay Das Leiden anderer betrachten (2003) beschreibt Sontag eine inszenierte Kunstfotografie von Jeff Wall, das tote Soldaten zeigt, die fröhlich miteinander plaudern. Der Clou dieses Werk liegt laut Sontag gerade darin, dass wir Lebenden es nicht verstehen können. Die Toten sind tot, sie interessieren sich nicht mehr für die Welt der Lebenden, sie gehen uns nichts mehr an.