Die Empörung, die das Urteil in breiten Kreisen der Schweizer Politik auslöste, ging dann nicht wirklich mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem umfassenden und mit 16 gegen 1 Stimme sehr deutlich gefällten Urteil einher.
Nach dieser Medienmitteilung erwarteten Beobachterinnen gespannt den Bericht, mit dem der Bundesrat innert sechs Monaten nach der Urteilsverkündung gegenüber dem Europarat Stellung nehmen musste. Darin, so nahm man an, würde er kaum über die zentralen Punkte des Urteils hinweggehen können. So einfach, dachte man, würde er es sich nicht machen können.
Doch nun weiss man: Er hat es sich so einfach gemacht.
Der Europarat hat die Stellungnahme aus der Schweiz vergangene Woche publiziert. Sie trägt das Datum vom 27. September. An diesem Tag löste sich im Südosten der USA gerade Hurrikan Helene auf, nachdem er über 200 Todesopfer gefordert hatte, über Nepal baute sich ein Extremmonsun auf, der ähnlich viele Menschen töten sollte, und Rauch von Waldbränden bedeckte einen Grossteil des Amazonasbeckens, dessen Flüsse austrockneten.
Die bundesrätliche Stellungnahme ist 12 Seiten dünn. Und auf den zentralen Punkt des Urteils geht sie gar nicht erst ein.
Konzentration auf Nebenschauplätze
Dieser zentrale Punkt des Urteils lautet: Die Art und Weise, wie die Schweiz ihre Klimaziele begründe, weise «kritische Lücken» auf. Denn die Schweiz lege ihre Klimaziele nicht aufgrund eines CO2-Budgets fest.
Soll die Erwärmung begrenzt werden, darf insgesamt weltweit nur noch eine bestimmte Menge CO2 emittiert werden. Die Grösse dieses Budgets hängt von der Erwärmung ab, die nicht überschritten werden soll, und von der Wahrscheinlichkeit, mit der man dieses Limit einhalten will. Ihren Anteil an diesem globalen Budget, schreibt das Gericht, müssten die Staaten «auf der Grundlage der Gerechtigkeit und entsprechend ihren Möglichkeiten» festlegen.
Das hat die Schweiz bisher nicht getan. Darum hat der EGMR sie verurteilt.
Doch das tut die Schweiz auch mit ihrer Stellungnahme zum Urteil nicht. Vielmehr macht sie darin im Wesentlichen drei Dinge:
- Sie kritisiert den EGMR und seine «weite Auslegung der EMRK, was den Klimaschutz angeht».
- Sie argumentiert, der EGMR stütze sein Urteil auf den Stand des 14. Februar 2024. Seither habe die Schweiz klimapolitisch gehandelt. Damit erfülle sie ihre Verpflichtungen.
- Sie greift den zentralen Punkt des Urteils – das CO2-Budget – auf, unternimmt aber keinen Versuch aufzuzeigen, wie sie die im Urteil monierten «kritischen Lücken» stopfen will.
Zur Kritik des Bundesrats am Gerichtshof gilt es Folgendes festzuhalten: Die Richter zu kritisieren, ist das gute Recht einer verurteilten Partei; an der Pflicht, das Urteil ernst zu nehmen, ändert solche Kritik nichts. Die Schweizer Politik will aber weiter gehen, als nur zu kritisieren: Der Bundesrat befürwortet eine Motion des FDP-Ständerats Andrea Caroni, die den Bundesrat verpflichten will, «darauf hinzuwirken, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an seine Kernaufgabe erinnert». Die Begründung der Motion argumentiert mit dem Urteil vom 9. April.
Zum Argument, die Schweiz werde mit ihren Beschlüssen seit dem 14. Februar ihrer vom Gericht eingeforderten Verpflichtung gerecht: Hier verweist der Bericht auf das CO2-Gesetz für die Jahre 2025 bis 2030, welches das Parlament in seiner Frühlingssession verabschiedet hat, auf das Stromgesetz, das im Juni vom Volk angenommen wurde, auf die neue CO2-Verordnung sowie auf die Klimaschutzverordnung, die der Bundesrat demnächst beschliessen wird; ferner auf klimapolitische Beschlüsse der Kantone.
Aber: Nichts von dem hätte das Gericht veranlasst, anders zu urteilen. Denn:
- Das Stromgesetz ist für die Energiewende und somit für die Klimapolitik wichtig, setzt aber keine Klimaziele und ändert nichts an der klimapolitischen Ambition der Schweiz. Auch kantonale Klimamassnahmen erhöhen die Ambition der Schweiz nicht. Tun die Kantone mehr, kann der Bund sich weniger anstrengen.
- Das neue CO2-Gesetz schreibt tatsächlich ein Emissionsziel für 2030 fest, allerdings nur das Ziel, zu dem sich die Schweiz gegenüber den Vereinten Nationen schon lange verpflichtet hat. Es lautet: minus 50 Prozent Treibhausgas-Emissionen bis 2030 (gegenüber dem Wert von 1990). Doch das CO2-Gesetz schreibt eben gerade nicht vor, zu welchem Anteil dieses Ziel durch tatsächliche Reduktionen erreicht werden muss und wie viel im Ausland eingekaufte Zertifikate dazu beitragen sollen. Das Klimaübereinkommen von Paris lässt den Kauf von Zertifikaten zwar zu, doch ist dieser aus Klimasicht höchst fragwürdig: Denn die Staaten, denen die Schweiz Zertifikate abkauft, dürfen die damit verbundenen Emissionsreduktionen natürlich nicht mehr als eigene ausgeben. Das senkt die Bereitschaft dieser Länder, sich ambitionierte Reduktionsziele zu geben.
- Die CO2- und die Klimaschutzverordnung definieren keine Ziele, sondern bestimmen, wie die gesetzlichen Ziele erreicht werden sollen; tatsächlich setzen sie die gesetzlichen Bestimmungen lückenhaft um und schwächen die klimapolitische Ambition der Schweiz mithin, statt sie zu stärken.
- Der Bericht führt sogar die im neuen CO2-Gesetz vorgesehene Förderung von Nachtzügen und elektrischen Bussen und Booten ins Feld – obwohl der Bundesrat, wenige Tage bevor er diesen Bericht abschloss, entschieden hatte, ebendiese Förderungen zu streichen, und weitere finanzielle Kürzungen bei den Klimaschutzmassnahmen ankündigte.
Mehr Emissionen als der Weltdurchschnitt
Und schliesslich zum CO2-Budget: Tatsächlich gibt es keine allgemein anerkannte Methode, wie das verbleibende globale Budget «auf der Grundlage der Gerechtigkeit» auf die Staaten aufzuteilen sei. So schreibt der Bundesrat in seinem Bericht an den Europarat, die Kriterien zur Bestimmung der nationalen Budgets könnten «zum Beispiel die historische Verantwortung, aktuelle oder erwartete Emissionen, Pro-Kopf-Emissionen, die Wirtschaftsleistung oder die Kosten von Klimaschutzmassnahmen betreffen». Es sei den Staaten überlassen, diese Kriterien «zu verwenden, zu kombinieren und zu gewichten».
Genau dies tut der Bericht dann aber nicht. Stattdessen tut er das Umgekehrte dessen, was der EGMR gefordert hat: Statt auf der Grundlage der Gerechtigkeit festzulegen, wie viel die Schweiz fairerweise noch emittieren darf, und Emissionsziele daraus abzuleiten, rechnet der Bericht einfach vor, wie viel Treibhausgase die Schweiz insgesamt noch ausstossen wird, wenn sie ihre Ziele einhält: 660 Megatonnen CO2-Äquivalente. Darin eingerechnet sind eingekaufte Zertifikate – tatsächlich plant die Schweiz also, mehr als 660 Megatonnen zu emittieren. Die Emissionen der Luftfahrt sind nicht mit eingerechnet.
Darüber, ob und inwiefern 660 Megatonnen einem fairen Anteil entsprechen, äussert sich der Bericht nicht explizit. Er rechnet lediglich vor, dass sie 1,3 Promille dessen entsprächen, was weltweit noch emittiert werden darf, wenn die Erwärmung mit einer Fifty-fifty-Wahrscheinlichkeit auf 1,5 Grad begrenzt werden soll. In der Schweiz leben 1,1 Promille der Weltbevölkerung. Der Bundesrat beansprucht also für die Schweiz, mehr zu emittieren als der Weltdurchschnitt.
Das Bundesamt für Umwelt bestätigt auf Nachfrage die hier genannten Punkte. Der Bericht an den Europarat diskutiere «keine möglichen Erhöhungen der [klimapolitischen] Ambition der Schweiz», habe der Bundesrat doch schon in seiner Medienmitteilung vom 28. August «kommuniziert, dass er der Auffassung ist, dass die Schweiz die klimapolitischen Anforderungen des Urteils erfüllt». Die 660 Megatonnen CO2-Äquivalente ergäben sich aus den Zielen des CO2- und des Klimaschutzgesetzes. «Ob und in welchem Ausmass dies einem ‹fair share› entspricht, ist nicht Gegenstand der Stellungnahme.»
Man kann das als Ausdruck helvetischer Arroganz lesen; einer Je-m’en-fous-Haltung der Weltgemeinschaft gegenüber. Oder man kann es als Ausdruck von Ehrlichkeit lesen: als implizites Eingeständnis, dass die schweizerische Klimapolitik von einem angemessenen Beitrag zur globalen Bewältigung der Klimakrise meilenweit entfernt ist.
Greenpeace – die Organisation, die die Klimaseniorinnen bei ihrer Beschwerde unterstützt – hat Berechnungen angestellt, wie viel die Schweiz fairerweise noch emittieren dürfte. Wenn man die neuesten verfügbaren Zahlen verwendet, die Emissionen der Luftfahrt mitberücksichtigt und das globale CO2-Budget gleichmässig auf die Weltbevölkerung aufteilt, umfasste der Anteil der Schweiz noch etwa die Hälfte der 660 Megatonnen. Legte man den Berechnungen ein Budget zugrunde, mit dem die 1,5-Grad-Limite mit einer Zweidrittelswahrscheinlichkeit eingehalten würde, hätte die Schweiz ihren Anteil heute schon aufgebraucht. Zöge man auch noch in Betracht, dass die Schweiz als reiches Land mehr leisten muss als ärmere Länder, wäre das Budget schon seit Jahren aufgebraucht.
Die Schweiz dürfte aus Sicht von Greenpeace also fairerweise keine Treibhausgase mehr emittieren. Nun ist Greenpeace nicht neutral, sondern Partei im Streit. Doch vor einem halben Jahr kam in Deutschland der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der die Bundesregierung berät, zu einem ähnlichen Befund: Deutschland habe sein Budget für einen 1,5-Grad-Kurs aufgebraucht.
Greenpeace-Campaigner Georg Klingler fordert deshalb, dass die reichen Länder ihre Emissionen im Inland so schnell wie möglich senken und gleichzeitig die Transition zu einer klimaverträglichen Wirtschaft in den ärmeren Ländern mitfinanzieren – ohne sich mit diesem Engagement von den eigenen Verpflichtungen freizukaufen.
Wie reagiert der Europarat?
Nun muss das Ministerkomitee des Europarats beraten, ob es die Stellungnahme der Schweiz akzeptiert. Das wird es frühestens im März 2025 tun. Bis dahin können alle interessierten Personen und Organisationen die Stellungnahme kommentieren. Akzeptiert das Ministerkomitee den Bericht nicht, kann es ihn zur Nachbesserung zurückweisen. Oder noch einmal das Gericht anrufen.
Zu einer angemessenen Klimapolitik zwingen kann die Schweiz niemand.
Transparenzhinweis: Journalist und Republik-Autor Marcel Hänggi war bis März 2024 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Vereins Klimaschutz Schweiz, wo er sich in der Kampagne für das Klimaschutzgesetz engagierte und dabei auch mit Greenpeace und den Klimaseniorinnen zusammenarbeitete.