Marcel Hänggi
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Darf man sich um Schönheit sorgen?

28/6/2025

 
Die Menschheit ist gerade dabei, ihre Lebensgrundlagen zu zerstören. Darf man sich da um  Schönheit sorgen? Man soll. – Republik, 28. Juni 2025

Bild
Gefährdete Schönheit («verletzliche Art» laut Roter Liste von 2016): Alpenbock (Rosalia alpina). CC BY-SA 3.0 Wikimedia
Als ich vor zwanzig Jahren begann, mich als Journalist intensiver mit der menschen­gemachten Klima­erwärmung zu befassen, war ich gerade Vater geworden. Ein fröhlicher kleiner Mensch begann die Welt zu erkunden, und mich, so erinnere ich mich, trieb der Gedanke um: wie traurig, wenn meine Tochter die Alpen dereinst ohne der Gletscher erleben wird! Ich hatte das Bernina­massiv vor Augen.

Ich betrauerte den Verlust von Schönheit.

Mir war, glaube ich, noch nicht bewusst, dass das Abschmelzen der Gletscher für die Schweiz weit gravierendere Auswirkungen haben würde als der Verlust von Schönheit: Wenn die Gletscher fehlen, können sie keine Winter­niederschläge mehr bis in den Sommer speichern. Das bedeutet: mehr Dürren, mehr Konflikte um das knappe Wasser.

​Aber Moment.
Stimmt denn diese Wertung, dass der Verlust von Schönheit weit weniger gravierend ist?

Kein Thema beim Weltklimarat

In der wissenschaftlichen und in der politischen Umwelt­debatte ist der Verlust von Schönem kaum Thema. Auf den mehr als 7000 Seiten des letzten Sachstandsberichts des Weltklimarats finden sich die Wörter beauty oder beautiful viermal, das Wort aesthetic vierzigmal. Der jüngste Waldbericht des Bundes erwähnt zwar, dass zwei Drittel der Wald­eigentümer ein «schönes Waldbild» als Ziel bei der Nutzung ihrer Wälder sehen, verwendet die Worte «schön» und «Schönheit» darüber hinaus aber nicht und spricht lediglich einmal vom «landschafts­ästhetischen Wert» des Waldes.

​Wichtig ist Naturschönheit (oder die Sehnsucht danach) natürlich für Branchen wie den Tourismus; ganze Zeitschriften (etwa die «Landliebe») leben davon, schöne Natur zu zeigen. Doch von der Umwelt­debatte ist das weit weg.

Bilder schöner Natur sind auch in der politischen Kommunikation wichtig. Aber kaum je wird gefordert, zugunsten der Schönheit andere politische Interessen zurück­zustellen. Das Argument der schönen Landschaft, die es zu erhalten gelte, wird derzeit vor allem vorgebracht, wenn Windräder oder Solaranlagen verhindert werden sollen – häufig ausgerechnet von politischen Akteuren, die sich sonst gegen Umweltschutz wehren und deren Liebe zur Schönheit der Landschaft in den Hintergrund tritt, wenn Auto­bahnen gebaut werden sollen.

In ihren Anfängen hatte die Ökologie weniger Berührungs­ängste gegenüber dem Begriff. Aldo Leopold (1887–1948), einer der Begründer der wissenschaftlichen Ökologie und der Naturethik, schrieb: «Eine Handlung ist richtig, wenn sie dazu beiträgt, die Integrität, Stabilität und Schönheit der Natur zu erhalten.»

Rachel Carson (1907–1964), die Autorin des vielleicht einflussreichsten Umwelt­buchs überhaupt, machte ihre Trauer über das Verstummen akustischer Schönheit zum Titel ihres 1962 erschienenen Werks «Der stumme Frühling». «Wo einst am frühen Morgen der herrliche Gesang der Vögel erschallte», schreibt Carson in ihrer Anklage gegen den mörderischen Pestizideinsatz, «ist es merkwürdig still geworden. Die gefiederten Sänger sind jäh verstummt; Schönheit, Farbe und der eigene Reiz, die sie unserer Welt verleihen, sind ausgelöscht.»

Aber heute, in einer Zeit, in der Systeme zu kippen drohen; in der wissenschaftliche Aufsätze beginnen mit Sätzen wie «Wir stehen am Rande einer unumkehrbaren Klimakatastrophe», in der die Regierung Trump die zaghaften klimapolitischen Fortschritte, die es gab, zertrümmert: 

Darf man sich da noch um Schönheit sorgen? Und sollte man? 

Den Verlust erfassen

Es gibt Versuche, den Verlust an Schönheit wissenschaftlich zu erfassen.
Forschende der Eidgenössischen Forschungs­anstalt für Wald, Schnee und Landschaft zum Beispiel untersuchen, wie sich die Landschaften in der Schweiz verändert haben. Sie erfassen objektive Indikatoren wie Waldfläche, Nutzungs­vielfalt, Boden­versiegelung, sie erheben aber auch subjektive Einschätzungen wie die empfundene «landschaftliche Schönheit».

Laut ihrem letzten Bericht von 2022 hat sich die Qualität der Schweizer Landschaften in fast allen objektiven Indikatoren in den letzten Jahren verschlechtert. Die Befragten schätzen die landschaftliche Schönheit ihrer Wohn­gemeinden aber nach wie vor als hoch bis sehr hoch ein. Dieser auf den ersten Blick paradoxe Befund kann nicht wirklich erstaunen: Erstens verändert sich mit der Landschaft auch die Norm, an der ihre Schönheit gemessen wird. Die Sozialwissenschaft spricht von shifting baselines. Zweitens ist die Zersiedelung, die man mit Indikatoren wie Siedlungsfläche objektiv messen kann, für die Menschen, die da leben, subjektiv ja in erster Linie das eigene Haus oder die eigene Wohnung. 

Weiter in die Vergangenheit reicht der Blick des voluminösen Bandes «Die ausgewechselte Landschaft» von Klaus Ewald und Gregor Klaus aus dem Jahr 2009. Ewald war bis 2006 Professor für Natur- und Landschafts­schutz an der ETH Zürich, Klaus ist Wissenschafts­journalist. Zu Beginn ihrer Arbeit an dem Buch hätten sie sich vorgenommen, «möglichst nicht zu werten», schreiben die Autoren. «Es ist uns nicht gelungen! Zu drastisch waren die Eingriffe der letzten 60 Jahre.» Das Buch mit seinen zahlreichen Früher-heute-Gegen­überstellungen anzuschauen, macht traurig.

Wie sich die Landschaft in Zukunft verändern wird, ist Gegenstand von Visualisierungen, etwa im Bericht «+4 °C und mehr: Schweizer Landschaften im Klimawandel» der Eidgenössischen Forschungs­anstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), eine ebenfalls himmel­traurige Lektüre. Viel Grau und Braun statt Grün, viele tote Bäume statt Wäldern. Und wo heute der Aletsch­gletscher liegt, werden sich bis 2085 zahlreiche kleine Seen gebildet haben.

Umgekehrt sorgen Eingriffe, mit denen dem Klimawandel begegnet wird, dafür, dass verlorene Schönheit wiederhergestellt wird: wenn sich die Landwirtschaft wieder stärker auf Vielfalt ausrichtet, um klima­resilienter zu werden; wenn man Städte begrünt, um sie zu kühlen; wenn trockengelegte Feucht­gebiete wieder vernässt werden, um Kohlenstoff zu binden, und Gewässer revitalisiert, um Hochwasser vorzubeugen. Wo das geschieht, sind die Resultate oft verblüffend. Im aufgelichteten Wald bei den revitalisierten Thurauen im Kanton Zürich blühen heute Arten wie der Gefranste Enzian, die Berg-Aster oder das Purpur-Knabenkraut, die dort seit sechs oder sieben Jahrzehnten nicht mehr beobachtet worden waren.

Was ist schön?

Es ist (einigen gegenläufigen Beispielen zum Trotz) nicht schön, wie sich die Schweiz verändert hat. Es ist noch weniger schön, wie sie sich noch verändern wird. 
Doch was ist überhaupt «schön»?
  • Blühende Linden, deren Geruch im Frühsommer meine Heimatstadt selbst an verkehrs­reichen Strassen für drei Wochen in ein riesiges Wohnzimmer verwandelt, sind schön;
  • von Amselgesang geweckt zu werden, ist schön;
  • der Mont Tendre im Waadtländer Jura mit seinen Wytweiden ist schön;
  • die Mauersegler sind schön, deren Rückkehr aus dem Winterquartier immer ein grosses Fest ist und denen ich aus dem Liegestuhl zusehe, wie sie in Gruppen um unser Haus rasen, sirrend-rufend, und sich am Abend immer höher in den Himmel hinauf schrauben.
Wunderschön, sagte mir unlängst eine Bekannte, sei ihre Frühlings­wanderung in der Surselva gewesen: alles voll blühendem Löwenzahn, ganze Wiesen eine gelb leuchtende Pracht!

Kurz darauf besuchte ich einen alten Mann, der in der Surselva aufgewachsen ist. Er zeigte aus dem Küchen­fenster seines Hauses. «Siehst du diese Wiese? Als unser erster Sohn Mitte der Sechzigerjahre zur Welt kam, pflückte ich da einen Blumenstrauss für meine Frau. Innert weniger Minuten hatte ich den prächtigsten Strauss beisammen. Heute wächst da nur noch Löwenzahn.»

Schön ist nicht für alle dasselbe.

Die Frage, was schön ist, ist zu gross; eine ganze philosophische Disziplin. Ich muss kleiner fragen:
  • Gibt es richtiges und falsches Schön?
  • Ist schön gut – und gut schön?
  • Warum ist vom Verlust von Naturschönheit so wenig die Rede?
Ich rufe Marcel Hunziker an. Er verantwortet das bereits erwähnte Forschungs­programm, das untersucht, wie sich Landschaften in der Schweiz verändern. Wir telefonieren an einem Märztag nach Feierabend und beenden unser langes Telefonat kurz vor Sonnenuntergang.

Ist das Naturschöne nur Geschmacks­sache?

Nein, sagt Hunziker. Was Landschaft angeht, gebe es einen breiten und über die Zeit stabilen Konsens: Das ästhetische Ideal ist eine Agrar­landschaft, wie sie vor der Mechanisierung der Landwirtschaft aussah, also vor ungefähr 1950. Im erwähnten Buch von Ewald und Klaus ist auf den Vorher-nachher-Gegen­überstellungen das Vorher-Bild fast immer eines von vor 1950.

Auch weite Landschaften mit einzelnen Bäumen gälten allgemein als schön.
Die Jura-Wytweiden sind solche Landschaften; bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren zahlreiche Dörfer in solche Landschaften eingebettet: in riesige Obstgärten. 15 Millionen Hochstamm-Obstbäume gab es 1951. Kurz darauf begann man, sie gezielt zu zerstören. Im Kampf gegen den Alkoholismus – das Obst wurde vorwiegend zu Schnaps verarbeitet – und weil solche Kulturen als ineffizient galten, subventionierte der Bund das Fällen der Bäume. Heute gibt es nur noch 2 Millionen davon.

Die Studie, die Landschaftsforscher Hunziker verantwortet, erfasst die Kategorie «Schönheit». Hunziker sagt aber, er spreche immer weniger von «Schönheit» oder «Ästhetik» und mehr von «Gefallen» oder «Präferenz». Nachdem 1987 die Rothenthurm-Initiative angenommen worden war, die den Schutz von Mooren und Moor­landschaften «von besonderer Schönheit» in die Verfassung schrieb, habe man ein Inventar der geschützten Landschaften erstellen müssen. Da habe sich gezeigt, dass «besondere Schönheit» kein objektives Kriterium sei. Und dass eine Inventarisierung schwierig sei, welche die subjektive Wahrnehmung durch die Bevölkerung nicht erhebe.
Beim Wort «Schönheit» dächten viele an Kants Ästhetik: Schönheit als interesseloses Gefallen. Aber ästhetisches Gefallen sei nicht interesselos. Ein Bauer finde eine Landschaft schön, die einfach zu bewirtschaften sei. Einen Waldrand fänden die meisten dann schön, wenn der Wald abrupt aufhöre, wo die offene Landschaft beginnt. Damit man am Waldrand sitzen könne, hinter sich die grossen Bäume, vor sich die freie Sicht. Ökologisch wertvoller hingegen wäre ein stufenweiser Übergang. 

Und manchmal hängt, was man schön findet, auch davon ab, was man weiss. Hunziker erzählt, dass Gäste die vielen toten Bäume im Nationalpark hässlich fanden – weil sie dachten, das sei das «Waldsterben». Dann hätten sie gelernt, dass das in einem nicht bewirtschafteten Wald normal sei. Seither störe es sie nicht mehr.

Am Ende unseres Telefonats, die Sonne steht noch knapp über dem Horizont, frage ich: Ist es nicht auch ein Verlust, wenn man das Wort «Schönheit» meidet?

«Ja», antwortet Hunziker ohne Zögern, «auf jeden Fall. Ich würde gern von ‹Schönheit› sprechen, wenn es nicht so viele Miss­verständnisse auslösen würde. Wenn ich gerade jetzt aus dem Fenster schaue, sehe ich die von den letzten Sonnen­strahlen beleuchtete Landschaft. Da gibt es ein Wort, das passt: ‹schön›!»

Arroganz und Klischee

«Schönheitsempfinden ist zu einem Teil angeboren», sagt die Psychologin Alice Hollenstein. Das zeigten Experimente mit Neugeborenen, die beim Betrachten von Gesichtern bereits überein­stimmende ästhetische Präferenzen zeigten. Aber dieses angeborene Schönheits­empfinden werde kulturell überformt.

Ich kontaktiere Hollenstein, nachdem ich einen Vortrag von ihr gehört habe. Die Psychologin befasst sich vor allem mit Schönheit in der Architektur, sagt aber, was sie über das Schönheits­empfinden gegenüber der gebauten Umwelt sage, lasse sich teilweise auf die Natur übertragen.

Die Frage, zu welchen Teilen menschliches Schönheits­empfinden angeboren und zu welchen Teilen es kulturell geformt ist, interessiert mich hier nicht besonders: Ein ästhetisches Urteil ist nicht richtiger, weil die Urteilskraft angeboren oder weil sie kulturell elaboriert ist. Aber Hollenstein bringt einen Punkt ins Spiel, der mich sehr wohl interessiert: das Werten. In vielen Kreisen, sagt Hollenstein, gelte ein «naives» Schönheits­empfinden gegenüber einem «elaborierten» als minderwertig.

Hollensteins Vortrag handelt davon, dass architektonisch nicht gebildete Menschen Gebäude ästhetisch anders bewerten als architektonisch gebildete. Hollenstein erzählt Beispiele von Architekten, die auf Kritik, ihre Häuser seien hässlich, mit der Aufforderung reagierten, die Menschen müssten eben ästhetisch besser geschult werden. Diese Haltung sei problematisch, weil die meisten Menschen, die Häuser betrachten (müssten), keine architektonische Bildung durchlaufen haben.

Man kann nicht über Schönheit sprechen, ohne über Geschmack zu sprechen. Und über Geschmack zu sprechen, ist heikel. Indem man X als schön und Y als hässlich bezeichnet, sagt man auch etwas darüber aus, wie man selber wahrgenommen werden will. Wer sagt: «X ist schön und Y nicht», sagt bis zu einem gewissen Grad immer auch: «Es ist richtig, X und nicht Y schön zu finden.»

Über das Schöne zu sprechen, birgt deshalb Risiken in verschiedene Richtungen. Man kann sich blamieren mit einem zu «simplen» Geschmack oder man kann arrogant wirken, weil man geringschätzt, was anderen gefällt. Die Hemmung, im wissenschaftlichen oder politischen Diskurs von Schönheit zu sprechen, dürfte zu einem guten Teil daher rühren.

Wie tief solche Hemmungen selbst bei Leuten verankert sind, die sich genau mit diesen Werturteilen befassen, illustriert Alice Hollenstein unabsichtlich zu Beginn unseres Gesprächs. Ich frage sie als Erstes: Was ist für Sie besonders schöne Natur?

«Berge», sagt Hollenstein, «Wälder, Lärchen, Moos, Blumen, das Engadin …» Und dann lacht sie etwas verlegen: «Das Klischee halt.»

Natürlich ist keine Landschaft Klischee. Zum Klischee wird eine Landschaft durch die Art, sie zu betrachten. Cliché heisst Abbild; klischiert wird Natur­wahrnehmung, wenn ich als Betrachter einer zum Bild erstarrten Natur gegenübertrete. Darum ist kein Sonnen­untergang kitschig, aber fast jede Fotografie eines Sonnen­untergangs ist es.

Wenn Aussichten «atemberaubend» sind und Sandstrände «traumhaft», werden sie zum Klischee. Im 18. Jahrhundert kam in England – zeitgleich mit der Geburt des Tourismus – die Rede von der «pittoresken» Landschaft auf: das Ideal der Landschaft, die sich vom pittore, dem Künstler, zu einem Bild verwerten lässt, das wiederum dem Kunstideal entspricht. Es gab sogar ein Gerät, das Claude-Glas, mit dem sich Landschaften wie ein Bild einrahmen liessen. Das heutige Äquivalent zum Claude-Glas ist der Handy­bildschirm, das Äquivalent zu «pittoresk» ist instagrammable.
Schweiz Tourismus hat entlang der «Grand Tour of Switzerland» an geeigneten Aussichts­punkten Metallrahmen aufgestellt, mithilfe deren Touristen die Landschaft in das Klischee zurück­verwandeln können, das sie aus der Werbung kennen, die sie zu ihrer Reise inspiriert hat.

Lärchengold und John Lee Hooker
  • Schön sind Sonnenstrahlen auf der Haut in winterlich kalter Luft;
  • schön sind Florfliegen, die sich oft in mein Kinderzimmer verirrten, wenn ich sommers bei offenem Fenster Hausaufgaben machte, und die mir heute nur noch selten begegnen;
  • schön ist das Val dal Spöl im Nationalpark mit seinem Geruch nach Lärchenharz, dem Bartgeier, den ich hier einmal auf wenige Meter Distanz sah, der Kreuzotter, die mir über den Weg kroch, dem Spölbach in der Tiefe – dass er aus einem Stausee fliesst, 2016 bei Revisions­arbeiten an der Staumauer mit hochgiftigem PCB verseucht wurde und bis heute verseucht ist, sieht man ihm nicht an.

Ende 2024 hielt Andreas Fischlin seine Abschieds­vorlesung an der ETH Zürich. Der System­ökologe ist einer der Väter der Umwelt­wissenschaften an der ETH, war jahrelang Teil der Schweizer Verhandlungs­delegation an den Uno-Klima­konferenzen und arbeitete 31 Jahre lang beim Weltklimarat IPCC mit.

In seiner Abschiedsvorlesung sprach er im vollen Saal über die Klima­katastrophe – und über seine langjährigen Forschungen zum Lärchenwickler, einem Falter, dessen Raupen periodisch grosse Schäden in Lärchenwäldern anrichten. Fischlin forschte im Oberengadin, das «so wunderbar aussehen kann wie auf diesem Bild», sagte er und zeigte ein Herbstbild von oberhalb Plaun da Lej, Blickrichtung Maloja, der hinter einem herbstlich gelben Lärchenwald untergehenden Sonne entgegen.

Dieser Lärchenwald wird die Klima­erhitzung nicht überleben. Weisstannen, Buchen und Ahorne werden an seine Stelle treten.

Die Schönheit der Natur, sagt mir Fischlin bei einem Mittagessen einige Wochen nach der Abschieds­vorlesung, sei für ihn eine Motivation gewesen, Wissenschaftler zu werden. Er habe als Kind ein einfaches Mikroskop geschenkt erhalten und dadurch eine Welt zu sehen bekommen, die ihn fasziniert habe. Sie sei unglaublich schön gewesen: «Ich werde die ersten Pantoffel­tierchen im Heuaufguss nie vergessen!» Aber unter dem Mikroskop erkenne man auch die Grausamkeit in der Natur. Zum Beispiel eine Schlupfwespe, die ihr Opfer langsam und unerbittlich aussaugt – sodass es möglichst lange überlebt und frische Nahrung darbietet.

«Die Natur kann auch hässlich sein, ich bin kein Schwärmer», sagt Fischlin. «Aber ich habe die Natur gern, seit ich ein Bub war. Ich kann Wissenschaft nicht nur rational und herzenskalt betreiben.»

In einer Befragung Tausender Biologen und Physikerinnen sagten drei Viertel, sie fänden in ihren Studien­objekten Schönheit. Zwei Drittel sagten, dass das Erleben von Schönheit, Ehrfurcht und Wundern für ihre Arbeit wichtig sei. 

Allerdings kann Schönheit sehr Verschiedenes heissen: In der Mathematik gilt die Formel e[hoch]iπ + 1 = 0 als schön.

Was ist schön?

Fischlin holt etwas aus. Sein Vater war Cellist, er selbst wäre beinahe professioneller Rockmusiker geworden. Als Kind habe er oft erlebt, wie Menschen Konzerte besuchten, deren Musik sie gar nicht verstanden hätten: Sie hätten sich aufgrund ihres sozialen Umfeldes verpflichtet gefühlt, eine gewisse Musik schön zu finden. Und als Werkstudent in einem Gartenbaubetrieb habe er gestaunt, wie viel Aufwand er betreiben musste, um Garageneinfahrten von einzelnen Grashalmen in tagelangem Zupfen zu befreien. «Ästhetik kann offensichtlich auch dazu dienen, Macht zu demonstrieren.» Für ihn selbst habe Schönheit zuallererst mit einer echten, persönlichen Beziehung zu tun. «Die einfache Musik von John Lee Hooker ist schön, weil Hooker ehrliche Musik macht und man das als Zuhörer spürt. Eine ästhetische Wahrnehmung braucht eine persönliche, sich selbst gegenüber ehrliche Beziehung zum Gegenstand, in der Kunst und in der Natur.»

Geruchsschönheit

Natur ist besonders schön, wenn sie es für mehrere Sinne ist: wenn sie schön aussieht, schön klingt, gut riecht und schmeckt, sich gut anfühlt. Mir selber ist der Geruch ein besonders lieber Sinn.

Gerne hätte ich für diese Recherche einen weiteren Wissenschafter getroffen, der die Schönheit der Natur liebt. Roman Kaiser war Geruchsforscher beim Aroma- und Duftstoffhersteller Givaudan in Dübendorf. Ich habe ihn 2000 für die «Weltwoche» porträtiert. Es war eine der faszinierendsten Begegnungen in meinem Journalistenleben. Kaiser verbrachte jedes Jahr mehrere Monate auf Feldforschung auf der Suche nach neuen Gerüchen. Zu Hause im Labor analysierte er die gesammelten Gerüche (mit der Nase, nicht mit technischen Geräten), um einzelne Gerüche oder auch ganze Geruchslandschaften synthetisch nachzubauen. Er verfügte über eine Kartei mit 8000 Karten, auf denen er je einen Geruch mit einer von ihm entwickelten Sprache – plus einem Foto des riechenden Objekts – beschrieben hatte. Jeden der 8000 Gerüche konnte er sich mithilfe der Karte ins Gedächtnis zurückrufen. Nach meinem Besuch in Kaisers Labor stand bei mir im Badezimmer noch lange ein Fläschchen mit «Eau d’Aframomum», dem Duft einer Blüte, die er auf einem seiner Streifzüge in der Wipfelzone des madegassischen Regenwalds gefunden hatte, den er mit einem lenkbaren Ballon erkundete. 

Kaiser war schon damals ein älterer Herr; es ist mir nicht gelungen, ihn jetzt noch einmal zu kontaktieren und ihn zu fragen, welche Bedeutung das Schöne für ihn habe. Aber ich fand eine Antwort in einem Buch, das er nach seiner Pensionierung publiziert hat: Scent of the Vanishing Flora. Darin beschreibt er Gerüche gefährdeter Pflanzen. Beim Durchblättern fallen nebst den vielen Fotografien chemische Strukturformeln und die wissenschaftlichen Pflanzennamen auf: ein durch und durch wissenschaftliches Werk. 
Aber da gibt es eben auch Passagen wie diese über den Diptam (Dictamnus albus, auch Brennender Busch):

«Ich kenne ein paar einzigartige Vorkommen in der Nordostschweiz und in Süddeutschland, die ich jedes Jahr besuche, um die Schönheit in Aussehen und Geruch dieser Pflanze zu feiern. Wer durch ein solches Habitat geht, ist umgeben von einem sehr angenehm zitronigen und leicht kräuterhaften Duft.» 

oder über das früh blühende Europäische Alpenveilchen (Cyclamen purpurascens):

«Auch es gehört zu den Arten, die ich jedes Jahr aufsuche, zwischen Weesen und Quinten am Walensee, am südlichen Vierwaldstättersee oder am Monte San Giorgio im Südtessin, um seine Schönheit in Geruch und Aussehen zu erleben.»
Roman Kaiser war ein Forscher voller Liebe für die Schönheit seines Forschungsgegenstands. 

Raum und Zeit


  • Der Geruch trocknenden Grases beim Heuen ist schön;
  • die Lägern zwischen Baden und Dielsdorf, wo ich als Kind wohnte, deren felsiger Grat wie der Rücken eines riesigen Tiers in der Gegend liegt, das sich hingefläzt hat vor ein paar Millionen Jahren, ist schön;
  • eine Nacht im Wald, wenn die Käuze rufen, ist schön;
  • Fliegengesumm ist schön.
Fliegengesumm? Ja, gewiss! Aber es wäre mir spontan nicht in den Sinn gekommen, hätte ich nicht Marcel Prousts Beschreibung des Fliegen­gesumms gelesen als einer «Art sommerlicher Kammermusik, die freilich nicht die Erinnerung an den Sommer zurückruft, wie menschliche Musik es tut, die man zufällig in der schönen Jahreszeit angehört hat; sie ist mit dem Sommer vielmehr durch ein echteres Band verknüpft: in den schönen Tagen entstanden, nur mit ihnen wieder­erstehend und mit etwas von ihrer Substanz getränkt, führt sie nicht nur die Vorstellung davon in unserem Gedächtnis herauf, sondern bestätigt vielmehr ihre Wiederkehr als tatsächliche, unmittelbar uns umwebende, greifbare Gegenwart.»

Marcel Proust: «In Swanns Welt».Es ist eine der schwindenden Schönheiten: Die Zahl der Insekten ist in den letzten Jahrzehnten um rund vier Fünftel eingebrochen.

Natur ist besonders schön, wenn sie es für mehrere Sinne ist. Die Frage nach Schönheit – oder breiter: nach ästhetischer Wahrnehmung – ist wichtig, weil es die Sinne sind, mit denen wir die Welt wahrnehmen; sie sind die Mittler zwischen unserem Bewusstsein und der Natur. Die Frage, wie wir die Welt sehen, hören, riechen, fühlen, ist die Frage danach, wo wir selber stehen in der Welt.

Und in der Zeit. Denn solange das, was wir sehen, eben keine clichés sind, keine Abbilder, sehen wir es in der Zeit, im Kommen und Gehen, im Werden und Vergehen. Das ist es, was Proust beschreibt: nicht die lineare Zeit, die unseren Alltag strukturiert, sondern eine zyklische Zeit, die alljährliche Wiederkehr. Viele Natur­schönheiten sind jahreszeitliche Naturschönheiten: blühende Obstbäume; Prousts Fliegen­konzert; sich verfärbende Laub- und Lärchenwälder; Schnee.

Der Gedanke begegnet mir immer wieder: Für Rachel Carson kündigt die erste Wanderdrossel im Frühling Millionen von Amerikanern das Ende des Winters an – «ein Ereignis, das in Zeitungen gemeldet und am Frühstücks­tisch eifrig besprochen wird». 

Und der Ökologe Aldo Leopold schreibt über ein Sumpfgebiet, das den ziehenden Kranichen als Ruheplatz dient: «Auf solch einem Ort liegt dick und schwer ein Gefühl der Zeit. Jedes Jahr seit der Eiszeit ist er jeden Frühling mit den Schreien der Kraniche erwacht.» Die meisten dieser Sumpfgebiete sind den Ingenieuren der «Gewässer­korrektionen» (wie man es in der Schweiz nennt) zum Opfer gefallen, und «die Hohepriester des Fortschritts wussten nichts von Kranichen».

Gegen die Ökonomisierung
  • Schön ist der Geruch blühender Weizenfelder, der in meiner Kindheit und Jugend im Dorf normaler Sommergeruch war und mich, seit ich in der Stadt lebe, immer wieder neu überrascht, wenn ich im Sommer mit dem Velo über Land fahre oder wandere;
  • einem Kind einen schönen Käfer zu zeigen, ist schön;
  • Gewitterwolken, die sich mächtig aufbauen, sind schön;
  • der Bibersee bei Marthalen ist schön: 5 Hektaren seichter Stausee, vom Biber aufgestaut, bestanden mit Hunderten abgestorbenen Bäumen, aus deren totem Holz neues Leben sich nährt; eine Schönheit, die ich kaum als schön empfände, wüsste ich nicht, was es ist.
Im Garten neben dem Deutschen Seminar der Universität Zürich treffe ich Claudia Keller. Ab dem kommenden Jahr forscht die Kultur- und Literatur­wissenschaftlerin an der Uni Fribourg über «Biodiversität als Paradigma des Wandels in Wissenschaft und Literatur». Ihr Name ist mir das erste Mal aufgefallen, als sie im «Magazin» einen Essay mit dem Titel «Die Schweiz ist Mist» publizierte.

Kellers Essay beginnt mit der Feststellung, dass das «strahlende Grün der Wiesen» sie bei ihren Wanderungen in der Schweiz stets fasziniert habe. «Geprägt von einem Marketing, das den einzigen Zweck verfolgte, mir die Idealisierung meiner Heimat schmackhaft zu machen», habe sie in diesem Grün ein Symbol dafür gesehen, «dass wir in der Schweiz noch in Einklang mit der Natur leben». Bis sie eines Tages erfuhr, dass dieses satte Grün Ausdruck einer für die Arten­vielfalt katastrophalen Bewirtschaftung ist.

Schön kann täuschen.

«Ich zucke jedes Mal ein bisschen zusammen, wenn ich das Wort ‹schön› höre», sagt Keller, als ich sie nach dem Verlust von Natur­schönheit frage, «weil es so harmlos klingt und doch mit so vielen sozialen Normen verbunden ist.» Lieber frage sie, was für unsere ästhetische Erfahrung verloren gehe – eine Erfahrung, die neben Schönheit Dimensionen wie Staunen, Ehrfurcht, Faszination und Respekt aufweise.

Und was wir verlören, wenn das Ästhetische aus dem Nachdenken über die Natur verschwände. Denn wenn man nur technokratisch über Umwelt­schutz spreche, vergesse man «all das Leben, um das es geht, die Wildbienen, die Farne und die Regenwürmer». Eine Rückbesinnung auf die ästhetische Wahrnehmung könnte ein Gegengewicht bilden zu einer Denkweise, die in der Natur nur deren Nutzen sehe: «Schönheit war nicht zufällig oft mit Metaphysik, Spiritualität und der Idee von Ewigkeit verbunden. Auch heute kann sie mit einer ästhetischen Erfahrung einhergehen, die einen über sich selber enthebt und eine andere Zeitlichkeit auftut.» 

Darum sei es ein Verlust, wenn man – bei aller Schwierigkeit des Begriffs – nicht mehr von Schönheit, sondern nur noch von Ökosystem­leistungen spreche.

Ökosystemleistungen – also die Bereitstellung von Nahrung und sauberem Wasser, Rohstoffen, gesundem Lebensraum für uns Menschen – sind wichtig. Auch Schönheit ist eine solche: Sie fördert die Gesundheit, ist gut für den Tourismus oder den Wert von Wohnliegenschaften mit Alpenblick.

Aber Schönheit ist mehr als nützlich. «Weil Schönheit», sagt Keller, «nach Kant ‹ohne Interesse› ist, hat sie das Potenzial, uns zu überraschen. Und wir können uns auf neue Weise in Beziehung zur Natur setzen.»

Falsche Ästhetik

Zur Geringschätzung des Schönen habe, sagt Keller, aber auch ein Misstrauen der Moderne dem Schönen gegenüber beigetragen, und dieses Misstrauen sei nicht unberechtigt. Es gebe keine unschuldige Schönheit, auch keine unschuldige Natur­schönheit. Es seien schon viele Verbrechen im Namen der Schönheit begangen worden, und Rassismus und andere Formen der Ausgrenzung würden auch durch Schönheits­ideale motiviert und legitimiert.

Solange man das Feld der Ästhetik nicht verlässt, gibt es wohl keine Kriterien, mit denen sich «richtiges» von «falschem» Schön objektiv scheiden liesse (obwohl stets solche Kriterien formuliert wurden). Geht es aber um die Wirkung einer Ästhetik auf das Leben auf dieser Welt, kann eine Ästhetik sehr wohl falsch sein.

Schön ist nicht unbedingt lebensfreundlich. Rasenmäher­roboter-Rasen mit Kirschlorbeer­hecken sind Biodiversitäts­wüsten, aber vielen scheinen sie zu gefallen.
Es gibt Ästhetiken, denen ist Natur suspekt. Wie die spiessbürgerliche Rasenmäher­roboter-Ästhetik das Unkraut, verachtet die modern-avantgardistische Ästhetik das Ornament und liebt die klare Linie. Es gibt die Verachtung gegenüber dem Krummen, dem Unperfekten, dem Werden und dem Vergehen.

Aber auch Ästhetiken, die Natur lieben, sich an ihr orientieren und Naturschutz­bemühungen begründen, können falsch sein.

Was liebte ich als Kind in den 1970er-Jahren die Filme und Fernseh­sendungen Bernhard Grzimeks! Grzimeks Ästhetik war eine koloniale. Am liebsten hätte er die ostafrikanischen Savannen von den dort lebenden Menschen gesäubert – womit er auch die ökologische Rolle dieser Menschen verkannte.

Bernhard Grzimek produzierte Kitsch. Ein gefährliches Wort: Es wertet viel offensichtlicher als «Schönheit». Aber es lässt sich leichter definieren: Kitsch blendet aus, was stört, und überhöht, was gefällt. Tourismus­prospekte verkaufen Kitsch. Eine Zeitschrift wie «Landliebe», mit ihren dank elektronischer Bild­bearbeitung übersatt-farbigen Fotos, ist Kitsch. Kitsch hilft nicht, die Schönheit der Welt zu bewahren, weil Kitsch sich nicht für die Schönheit der Welt interessiert, sondern sie lediglich benutzt, um seine eigene Schönheit zu basteln.

Die elektronische Bildbearbeitung hat es einfach gemacht, einzelne ästhetische Aspekte von Natur zu überhöhen. Innert Sekunden und mit wenigen unbedarften Handgriffen wird mit Instagram der blaue Himmel blauer, das grüne Gras grüner. Wir erschaffen eine künstliche Übernatürlichkeit, die mit natürlicher Schönheit in Konkurrenz tritt. 
In einem Computershop sehe ich einen Werbefilm für das neueste Smartphone, konkret: für dessen Kamera. Der Film zeigt das Gerät mit seiner glänzenden Oberfläche nebst übersatt-farbigen Bildern: grüne Landschaften; blaues Meer vor blauem Himmel; rote Tomaten auf einem Markt.

Mit den Tomaten findet diese Ästhetik ins reale Leben: Tomaten werden diesem Ideal entsprechend gezüchtet, mit wenig Geschmack, aber makellos sattrot. Damit sie auch im Winter verfügbar sind, werden Tomaten angebaut in Landschaften, die vollständig mit Plastik­planen eingehüllt und somit als Landschaften vernichtet sind. Kaum ein Insekt findet Nahrung in solcher Nicht-Landschaft, und keine Vögel singen.
Künstlichkeit kann durchaus bieten, was Natur nicht bietet. Eine vom blühenden Löwenzahn einheitlich und satt goldgelb leuchtende Wiese wird einer solchen Ästhetik gerecht.

Ein Auge, dessen Naturbild von der Künstlichkeit einer überästhetisch abgebildeten Natur geschult ist, mag das Abbild gegenüber echter Natur bevorzugen. Das cliché schiebt sich vor die reale Welt.

Naturethiker Aldo Leopold hat nirgends definiert, was er unter Schönheit verstand, als er sagte: Eine Handlung ist richtig, wenn sie dazu beiträgt, die Schönheit der Natur zu erhalten. Aber er macht klar, dass es keine Schönheit gibt ohne genaue Beobachtung und ohne Empathie auch gegenüber nicht menschlichen Wesen. «Denken wie ein Berg» ist der Titel eines seiner Texte.

Keine Würde ohne Schönheit

Kann man es sich leisten, in Zeiten zusammen­brechender Ökosysteme den Verlust von Schönheit zu beklagen?

Die Frage nach der Schönheit und ihrem Verlust ist keine existenzielle. Menschen können auch in hässlicher Natur überleben.

Aber ein menschliches Leben in Würde ist nicht möglich, wenn neben den existenziellen Überlebens­fragen nichts anderes mehr Platz hat. Eine schöne Natur mag nicht überlebens­notwendig sein; essenziell für ein würdiges Leben ist sie allemal.

Vielleicht brauchen wir das Schöne gerade in solcher Zeit: Um die Umwelt­krisen zu überwinden, schreibt der Weltbiodiversitätsrat IPBES, sei nicht nur entscheidend, «was Menschen tun, sondern auch, wie sie es tun». Dafür müssten «unterschiedliche Visionen, Welt­anschauungen und Werte» berücksichtigt werden. Die unterschiedlichen Werte und Visionen: Sie müssten auch Schönheit umfassen.

Ich finde wenige klare Antworten auf meine Fragen:

Was ist schön? – Zu grosse Frage.

Ist die Schönheit der Natur subjektiv? – Zum Teil.

Gibt es richtiges und falsches Schön? – Aus ökologischer Sicht: ja.

Ist schön gut? – Nicht unbedingt.

Ist gut schön? – Nicht unbedingt.

Schönheit schützt – wahr­scheinlich.

Das Streben nach Schönheit kann zerstören – mit Sicherheit.

Kann Schönheit belastbare Grundlage für Entscheidungen sein? – Schwierig.

Ist die Schönheit der Natur trotzdem wichtig?

Ja!

Weil es ganz offensichtlich nicht gelingt, die Umwelt zu schützen, wenn wir sie nur instrumentell betrachten. Weil die ganzen Appelle, es koste weniger, die Umwelt jetzt zu schützen, als die Folgen ihrer Zerstörung zu bewältigen, die Natur nicht nur auf ihren Nutzen reduzieren, sondern auch nicht fruchten. Weil Schönheit bewegt. Weil Schönheit Heimat bietet. Weil wir, indem wir die Natur schön finden oder erhaben oder auch hässlich – indem wir sie sinnlich wahrnehmen –, unseren Platz in Raum und Zeit finden und uns als Teil unserer Um-Welt wahrnehmen.

Weil es kein würdiges Leben gibt ohne Schönheit.

Es geht um Emotionen: um Liebe zum Schönen und um Trauer, wenn es verschwindet.
«Nur wer wahrhaftig trauert, ist fähig, Verantwortung zu übernehmen, Schuld einzugestehen», hat der Psycho­analytiker Daniel Strassberg jüngst in seiner Republik-Kolumne geschrieben.

Stille

Von einer Form von Schönheit bleibt zu sprechen: von der Abwesenheit störender Sinnesreize. Dunkelheit, Stille. Sie sind seltene Schönheiten geworden.

Wie selten Dunkelheit geworden ist, fällt mir auf, wenn ich in einer zivilisations­fernen Gegend wieder einmal die Milch­strasse deutlich sehe. Wie selten die Stille geworden ist, fiel mir insbesondere während des Covid-Lockdowns auf. In Flughafen­nähe aufgewachsen, bin ich so an den Fluglärm gewöhnt, dass ich glaubte, er störe mich nicht mehr. Aber dann blieb er plötzlich aus und ich staunte, wie ich die Stille genoss. Warum fordert niemand, etwas von dieser Schönheit zu bewahren, mit ein paar flugverkehrs­freien Tagen pro Jahr? Warum scheint für alle so selbst­verständlich zu sein, dass das Recht, jeden beliebigen Tag zu fliegen, mehr gilt als die Schönheit der Stille, wenigstens ab und zu?

Immerhin schützt der Umweltschutz­artikel der Bundes­verfassung nicht nur vor schädlichen, sondern auch vor «lästigen Einwirkungen». Denn, so schrieb der Bundesrat 1970 in seiner Botschaft, «Belästigungen können beim Menschen dazu führen, dass die Leistungsfähigkeit und die Lebensfreude, der Naturgenuss, das Gefühl der Ungestörtheit, das private Leben überhaupt beeinträchtigt werden. Darin liegt ein Angriff auf die Persönlichkeit und damit auf die Freiheit.»

Die Stille ist auch Gegenstand eines der berühmtesten Gedichte überhaupt: «Wandrers Nachtlied» von Goethe.

          Über allen Gipfeln
          Ist Ruh,
          In allen Wipfeln
          Spürest du
          Kaum einen Hauch;
          Die Vögelein schweigen im Walde.
          Warte nur, balde
          Ruhest du auch.

Es ist ein trauriges Gedicht und ein sehr schönes. Das Schweigen der Vögel steht wie bei Rachel Carson für den Tod. Aber während Carson das unwiederbringliche Sterben von Natur beklagt – und ihre Tötung durch den Menschen –, ist Goethes Gedicht ein Memento mori, das den Wanderer – dich! – an seine Sterblichkeit erinnert. Die Vögelein schweigen, weil sie schlafen; noch bevor es zu dämmern beginnt, werden sie wieder singen wie seit Menschengedenken. Du, Wanderer, Wanderin, wirst eines Tages nicht mehr sein – aber die Welt dreht sich weiter und andere werden sich am Vogelgesang erfreuen.
​
Es ist auch diese tröstliche Gewissheit, deren Verlust Carson schon vor über sechzig Jahren betrauert hat.

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    Autor

    Marcel Hänggi
    ​

    Journalist und Buchautor
    dipl. Gymnasiallehrer​
    Dr. phil. h.c.
    ​Mitarbeiter Schweizerische Energie-Stiftung
    ​
    Zürich


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