«Kein Reich, keine Religion, kein Stern hatte grösseren Einfluss auf die menschlichen Angelegenheiten als Buchdruck, Schiesspulver und Kompass», schrieb Francis Bacon 1620. Auch vier Jahrhunderte später gilt der (europäische) Buchdruck vielen als eine der bedeutendsten Erfindungen. Er ermöglichte die billige Produktion von Schriften in grosser Auflage, verhalf so den Ideen der Reformation und des Humanismus zu schneller Verbreitung und beendete das Mittelalter: das Musterbeispiel einer Technik, die sozialen Wandel schafft. |
Buchdruck und Schriftkultur Technischer Wandel ist kein linearer Vorgang. Ob sich eine neue Technik als Fortschritt herausstellt, hängt meist mehr von gesellschaftlichen als von technischen Faktoren ab. Das zeigt die NZZ-Serie «Alles neu?» anhand von historischen Beispielen auf. Teil I meiner monatlichen Technikkolumne in der NZZ. Wie Begriffe unsere Erwartungen an die Technik prägen. NZZ vom 25. April 2012
Interview mit dem Technikhistoriker David Edgerton – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 2. September 2010 ![]() David Edgerton ist einer der führenden Technikhistoriker. Er ist Professor am Centre for the History of Science, Technology and Medicine am Imperial College in London, das er aufgebaut hat. In seinem Buch «The Shock of the Old» plädiert er dafür, die Geschichte der Technik in erster Linie als eine Geschichte der Verwendung der Dinge zu betrachten statt als eine Geschichte der Innovationen. Und er verweist darauf, dass ein übertriebener Glaube an Innovationen paradoxerweise das Gegenteil von fortschrittlich sein kann: Die Idee, die Technik werde es schon richten, werde beispielsweise in der Klimadebatte gegen die Notwendigkeit sozialen Wandels ausgespielt. – Zuletzt erschienen: «The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900», London 2006.
Am 14. September 1909 meldeten Fritz Haber und Carl Bosch beim deutschen Reichspatentamt ein Verfahren an, mit dem sich in industriellem Massstab der Gestank ungepflegter Pissoirs reproduzieren liess. Es sollte sich als eine der folgenreichsten Erfindungen der Menschheit herausstellen. Fritz Haber war es gelungen, Ammoniak (NH3) künstlich herzustellen – ein ätzendes, giftiges und stark übel riechendes Gas, das in der Natur beim Abbau von Harnstoff entsteht. Zusammen mit Carl Bosch entwickelte er die Ammoniaksynthese zu einem Industrieverfahren weiter, ohne das der erste Weltkrieg anders verlaufen und die Bevölkerung im 20. Jahrhundert nicht in dem bekannten Ausmaß explodiert wäre. Die Welt im frühen 21. Jahrhundert sähe der Welt des frühen 20. Jahrhunderts sehr viel ähnlicher, gäbe es kein synthetisches Ammoniak.
Interview mit David Sarasin – «WOZ Die Wochenzeitung» sowie «Telepolis» vom 12. Februar 2009 ![]() Unter den unzähligen Büchern, die im «Darwinjahr» 2009 erscheinen, gehört «Darwin und Foucault» des Historikers Philipp Sarasin* zweifellos zu den originellsten. Im Vorwort nennt es Sarasin ein «Experiment», zwei der «aggresivsten ‹Säuren› der Theoriebildung in eine Schale zu giessen». Für Sarasin stammt Michel Foucault, wie es auf dem Klappentext heißt, «von Darwin ab». Weder Darwin noch Foucault hätten zwischen Natur und Kultur eine scharfe Grenze gezogen – und so liegt denn die ironische Pointe des Buchs darin, dass Sarasin Foucault gegen die (foucaultianischen) KulturalistInnen liest, für die alle Realitäten letztlich nur Zeichen und Diskurse sind, und Darwin gegen die (darwinistischen) BiologistInnen, die glauben, der Mensch lasse sich allein aus der Biologie respektive der Evolution heraus verstehen. Das wird etwa dort besonders lustvoll, wo Sarasin dem Turbo-Darwinisten und missionarischen Atheisten Richard Dawkins nachweist, dass er in seinem Weltbild eigentlich nicht auf einen Gott verzichten könne … Er war Kunstmäzen, Nietzsche-Jünger, Aristokrat und Kommunist, Kriegsverherrlicher und Pazifist – und vor allem: Jahrhundertprotokollant. Reisebericht von einer 10.000-Seiten-Tagebuchlektür: Harry Graf Kessler (1868 - 1937) – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 12. Februar 2009
Das Auto, das durch alle Stummfilme tuckert, hat das Gesicht der USA verändert, der industriellen Produktion - und damit der ganzen Welt. Ein Interview mit dem Automobil-Historiker Kurt Möser. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 25. September 2008
Kurt Möser: Das Model T wurde bis 1927 produziert, galt aber schon in den letzten Jahren der Produktion als veraltet. Wenn Stan und Ollie 1929 ein Model T fahren, signalisieren sie Unmodernität und vielleicht Armut. Um 1930, als die Weltwirtschaftskrise ihren Tiefpunkt erreichte, beauftragte die US-Regierung die Fotografin Dorothea Lange, die Auswirkungen der Krise zu dokumentieren. Auf ihren Bildern sieht man immer wieder verarmte «Okies», die Ford T fahren.
![]() Das August-Folio «Was wäre, wenn ...» widmet sich der kontrafaktischen Geschichtsschreibung. Oft hätte nur wenig gefehlt, und eine historische Entwicklung wäre ganz anders verlaufen. Auf die Frage einer Journalistin, weshalb die Autoindustrie nicht «umweltfreundlichere» Autos baue, sagte der Chef des Verbands der Deutschen Automobilindustrie im letzten Herbst: «Müsliautos interessieren keinen.» Nein, mit Herzblut sind die Autobauer noch nicht dabei, wenn es darum geht, vom Verbrennungsmotor wegzukommen. Aber immerhin: Sie arbeiten daran. Elektroautos sind am Kommen. Die technische Knacknuss dabei ist der Energietransport. Heutige Batterien können, gemessen an ihrem Gewicht, nur ein Hundertstel soviel Energie speichern wie ein Benzintank. Die Energiedichte von Erdöl ist unschlagbar. Diese ist aber wichtig, wenn man starke, schnelle und schwere Autos bauen will, die mit einmal Tanken viele hundert Kilometer weit fahren können. Dabei hätte es anders kommen können. Um 1900 standen drei Antriebsarten miteinander in Konkurrenz: Dampfmaschine, Elektro- und Verbrennungsmotor. Elektroautos dominierten um 1900, und langsam waren sie auch nicht: Das erste Auto, das 100 Stundenkilometer erreichte, war 1899 ein elektrisches. Interview mit Rolf Peter Sieferle, Professor für Geschichte an der Universität St. Gallen. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 22. November 2007 ![]() Vorbemerkung: Rolf Peter Sieferle, der 2016 starb, hat sich in seinen jüngsten öffentlichen Aussagen und Publikationen wie «Finis Germania» (postum 2017; laut «Tages-Anzeiger» eine «besonders perfide antisemitische Schrift») als rechtsradikaler Autor geoutet. Ich wusste, als ich Sieferle 2007 interviewte, nichts von seiner Gesinnung, und ich merkte auch nichts davon bei der Lektüre seiner umwelthistorischen Schriften oder beim Interview. Entwerten spätere unsägliche Äusserungen eines Autors das, was er früher sagte? Auf jeden Fall ist Sieferle ein Beispiel für den Umstand, der mich erschreckt, dass ein ökologisches Denken, das ich für richtig und wichtig halte, zu kulturpessimistischen bis menschenverachtenden Ansichten führen kann. Von seinem Schreibtisch der Universität St. Gallen aus sieht Rolf Peter Sieferle einen Bauernhof mit Futtersilo. Um so bodenständige Dinge wie Futter – allgemeiner: um Energie- und Materialflüsse – dreht sich die Arbeit des Historikers. Sieferle gehört zu den Begründern des Konzepts des «gesellschaftlichen Stoffwechsels». Grob lassen sich gemäss diesem Konzept in der Geschichte drei grosse Energiesysteme ausmachen: Jäger- und Sammlergesellschaften schöpften Energie aus den solaren Energieflüssen, indem sie der Natur essbare Pflanzen, Fleisch und Brennholz entnahmen. Die Agrargesellschaften griffen gezielt in diese Energieflüsse ein, bauten Pflanzen an, züchteten Tiere, stauten Flüsse. Als es im 18. Jahrhundert erstmals gelang, Steinkohle im grösseren Stil abzubauen, und die Dampfmaschine erfunden wurde, begann das fossile Energieregime. Heute deuten die hohen Ölpreise darauf hin, dass dieses Zeitalter bald vorbei sein könnte; der Klimawandel zeigt, dass es vorbei sein müsste. Doch wie könnte eine postfossile Gesellschaft aussehen?
Vor 700 Jahren begann die Zerschlagung des Ordens der Tempelritter – einer der mächtigsten Organisationen ihrer Zeit. Damit nahm eine Verschwörungstheorie um das Streben nach der Weltherrschaft ihren Lauf, die noch heute durch viele Köpfe geistert. – «Der kleine Bund» vom 22. September 2007 Im Morgengrauen des 13. Oktobers öffneten Vertreter der königlichen Macht in ganz Frankreich Abschriften des selben Briefes. Der Brief war datiert vom 14. September, versiegelt und mit der Order versehen, das Siegel nicht vor besagtem 13. Oktober zu erbrechen. Er erhielt klare Befehle. In ganz Frankreich machten sich an diesem Morgen die Vertreter des Königs daran, Hunderte von Mitgliedern des Ordens der Tempelritter zu verhaften. Sie – Ritter, die den Türken die Stirn geboten hatten, militärische Grossmacht, Staat im Staat – liessen sich abführen ohne Widerstand. Es war die grösste Polizeiaktion, die die Welt je gesehen hatte.
Beginnen so Thriller? Beginnen so Verschwörungstheorien? Sie waren Händler, Fabrikanten, finanzierten den englischen Staatshaushalt und die neapolitanische Armee: die italienischen Multis des 14. Jahrhunderts. Doch dann kam es zum grossen Knall. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 04. Januar 2007 sowie (gekürzt): «Die Zeit» Nr. 40/2008 ![]() Hätten sie die Mentalität des 20. Jahrhunderts gehabt und wäre es nicht verboten gewesen, sich das Leben zu nehmen (es war auch verboten, Zins zu nehmen, aber dieses Verbot liess sich leichter umgehen) – es hätten sich in den 1340er Jahren vielleicht einige Bardi, Peruzzi oder Acciaiuoli vom Baugerüst des Campanile in die Gassen der Finanzmetropole Florenz gestürzt – so, wie VerliererInnen des «Schwarzen Freitags» von 1929 aus Bürohochhäusern von Manhattan sprangen. Die Welt erlebte den umfassendsten Bankencrash der Geschichte. Zwischen Ende 1343 und Anfang 1346 gingen die drei grössten Finanzdienstleister der Christenheit, allesamt mit Hauptsitz in Florenz, bankrott. Während der zwei Jahrzehnte zuvor hatten bereits eine Reihe kleinerer und mittelgrosser Häuser den Geist aufgegeben. Interview mit Gerd Grasshoff über Alfred Einstein – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 13. Januar 2005 Gerd Grasshoff ist Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Bern und präsidiert das Exekutivkomitee «Forum Einstein 2005 Bern». Zusammen mit Ann M. Hentschel hat er «Albert Einstein. Jene glücklichen Berner Jahre» sowie den Führer zum Einstein-Pfad Bern herausgegeben.
Geschichtswissenschaft und Krieg – Die Belagerung ist vorbei. Doch das intellektuelle Klima Sarajevos hat seit dem Friedensschluss nichts gewonnen. – «WOZ Die Wochenzeitung» vom 26. Februar 2004 ![]() Für November 1992 war in Sarajevo eine Tagung über die Geschichte der Juden in Bosnien geplant. Anlass war ein trauriger Jahrestag: 500 Jahre zuvor vertrieb das Königreich Spanien seine Juden. Viele dieser sephardischen Juden flüchteten auf den Balkan, unter anderem nach Bosnien. Es ist eine grausame Ironie des Schicksals, dass zum Zeitpunkt der Tagung Sarajevo selbst Opfer eines Kriegs war, in dem Menschen aufgrund ihrer ethnisch-religiösen Identität vertrieben wurden, in dem Kriegsparteien versuchten, «feindliche» Kulturen zu zerstören wie seinerzeit die katholischen Könige das spanische Judentum. Armut und Krankheit, politische Gewalt und ökonomische Gewalt, Heiratsverbot und Zwangspsychiatrisierung, Kinderkriegen und Kindersterben: Wie viel lässt sich vom Leben zufällig ausgewählter Menschen aus dem 19. Jahrhundert rekonstruieren? – «WOZ Die Wochenzeitung vom 18.12.2003 Es war ein trister Frühling nach einem zu langen Winter. Wenn Johann Kumschick, Leonz Oetterli oder auch Kaspar Pfenniger keine Wolke und keinen der seltenen Sonnenstrahlen zu Gesicht bekamen, so drang das Wetter doch mit seiner Kälte und Feuchtigkeit bis zu ihnen vor: in die Luzerner Jesuitenkirche. Zwei Monate verbrachten sie hier, in der in ein Notgefängnis umfunktionierten, mit Stroh ausgelegten, zum barocken Stuck- und Freskohimmel stinkenden Kirche, einen offenen Bottich als Abort in ihrer Mitte. Ausgerechnet in der Jesuitenkirche waren sie eingesperrt, zusammen mit hunderten, die wie sie am 31. März ausgezogen waren, um gegen die Berufung der Jesuiten zu kämpfen und gegen die konservative Regierung; ausgerechnet hier also sassen sie für ihre liberale Gesinnung oder für die Gesinnung derer, von denen sie abhingen auf Gedeih und Verderb.
Das Jahr 1846 gilt als das Geburtsjahr der schmerzfreien Operation, und schon bald nach dem «Durchbruch» in den USA operierten auch Chirurgen in Europa mithilfe von Schwefeläther schmerzfrei – Schweizer Ärzte gehörten zu den ersten.
Allerdings sieht bei näherer Betrachtung alles etwas anders aus: Es gab selbstverständlich eine Vorgeschichte, und es gab schon vor 1846 Chirurgen, die schmerzfrei operierten. Als die Anästhesie Ende 1846 dann «offiziell» wurde, war der Jubel in den Medien groß – aber keineswegs war es so, dass ab sofort kein Operationspatient mehr Schmerzen leiden musste (und wollte!). Die Geschichte der Anästhesie in der Schweiz zeigt einerseits große regionale Unterschiede. Sie zeigt andererseits, wie auch die Geschichte der Anästhesie eine Geschichte widerstrebender Interessen ist. Und einige Quellen korrigieren das Bild der einhelligen Begeisterung über die neue Errungenschaft. Meine Lizenziatsarbeit entstand bei Jakob Tanner an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft der Universität Zürich. > PDF zum Download |
AutorMarcel Hänggi Themen
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