Festvortrag anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Kultur- und sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Luzern am 7. November 2024
Sehr geehrte Fakultätsangehörige,
Liebe Gäste,
«Habe nun, ach, Philosophie / Juristerey und Medicin / Und leider auch …», … Sie wissen schon.
Liebe Gäste,
«Habe nun, ach, Philosophie / Juristerey und Medicin / Und leider auch …», … Sie wissen schon.
Sie werden nun denken: Um Himmels Willen, jetzt kommt der und zitiert Goethe – und von Goethe ausgerechnet Faust – und vom Faustausgerechnet den Osternacht-Monolog – wie unoriginell! Und Sie haben natürlich Recht.
Aber wenn ich hier als einer, der sich nie als Wissenschafter verstanden und eben nicht Philosophie, Juristerey und Medicin studiert hat, vor der erlauchten Gesellschaft der kultur- und sozialwissenschaftlichen Fakultät einen akademischen Titel entgegennehmen darf und eine Festrede halten soll, fühle ich mich natürlich ein wenig in Legitimationszwang, und da dachte ich: Goethe geht immer.
Und den Faust zu rezitieren, fühle ich mich heute auch ein wenig befugter als noch gestern, denn: «Heiße Magister, heiße Doktor gar» – heisse Doktor h.c. gar, – «Und ziehe nun schon an die zehen Jahr / Herauf, herab und quer und krumm / Meine Schüler an der Nase herum. / Und weiß, dass wir nichts wissen können, / Das will mir schier das Herz verbrennen.»
Und hier übertreibt er ja gewaltig, der Alte; wenig verwunderlich, befindet er sich doch am Tiefpunkt seiner suizidalen Depression. Wir können natürlich nicht nichts wissen und heute würde Faust vielleicht eher darob verzweifeln, wie unheimlich genau wir über den Zustand von Menschheit und Planet Bescheid wissen – und trotzdem sehenden Auges in den Abgrund rennen.
Aber wenn ich hier als einer, der sich nie als Wissenschafter verstanden und eben nicht Philosophie, Juristerey und Medicin studiert hat, vor der erlauchten Gesellschaft der kultur- und sozialwissenschaftlichen Fakultät einen akademischen Titel entgegennehmen darf und eine Festrede halten soll, fühle ich mich natürlich ein wenig in Legitimationszwang, und da dachte ich: Goethe geht immer.
Und den Faust zu rezitieren, fühle ich mich heute auch ein wenig befugter als noch gestern, denn: «Heiße Magister, heiße Doktor gar» – heisse Doktor h.c. gar, – «Und ziehe nun schon an die zehen Jahr / Herauf, herab und quer und krumm / Meine Schüler an der Nase herum. / Und weiß, dass wir nichts wissen können, / Das will mir schier das Herz verbrennen.»
Und hier übertreibt er ja gewaltig, der Alte; wenig verwunderlich, befindet er sich doch am Tiefpunkt seiner suizidalen Depression. Wir können natürlich nicht nichts wissen und heute würde Faust vielleicht eher darob verzweifeln, wie unheimlich genau wir über den Zustand von Menschheit und Planet Bescheid wissen – und trotzdem sehenden Auges in den Abgrund rennen.
Um die Frage des Wissen-Könnens will ich heute ein wenig kreisen. Auch als Wissenschaftsjournalist habe ich mich ja immer der Anmassung von Wissen schuldig gemacht und mal über Teilchenphysik, am nächsten über Kunstgeschichte geschrieben und jetzt auch noch ein Buch über die Juristerey, die ich nicht studiert habe. Ein Kollege von mir, Wissenschaftschef einer grossen Sonntagszeitung, hat einmal geschrieben, Wissenschaftsjournalisten sollten aufhören, kritisch sein zu wollen, denn sie hätten es ja immer mit Leuten zu tun, die von ihrem Fach viel mehr verstünden als wir Journalist:innen. Wer kritisiere, mache sich nur lächerlich. Das ist natürlich eine Bankrotterklärung eines Journalisten (trotzdem war der Kollege als Journalist erfolgreicher als ich). Journalismus muss immer kritisch sein, ob er über Politik schreibt oder über Wirtschaft oder über Wissenschaft. Und eine wissenschaftskritische Haltung ist, so glaube ich, auch das beste Antidot gegen Wissenschaftsleugnung – denn Wissenschaftsleugnung funktioniert am besten vor der Folie eines unkritischen Szientismus: Szientismus und Antiszientismus sind beide Ausdruck simpler Schwarzweiss-Weltbilder.
Sie werden nicht sehr überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, dass man als Wissenschaftsjournalist viel schlechte Wissenschaft zu sehen bekommt, und natürlich muss es die Aufgabe des Journalismus sein, schlechte Wissenschaft schlechte Wissenschaft zu nennen. (Vielleicht überrascht es Sie nicht einmal, wenn ich sage, dass das schlechteste Stück Wissenschaft, das ich je zu sehen bekommen habe, aus einem mit dieser Universität assoziierten Institut stammt – ein Papierchen, das freilich einen äusserst imposanten Impact erzielen konnte, als es dank den richtigen personellen Verbindungen direkt einen weitreichenden Bundesratsentscheid auslöste).
Ich will also, habe ich gesagt, um die Frage des Wissen-Könnens kreisen, «in weitem Schneckenkreise», so wie Mephisto, als er, in Gestalt eines Pudels, Faust zum ersten Mal begegnet, und inhaltlich um das Thema, das mich am meisten umtreibt: Nachhaltigkeit – also die Frage, wie wir unsere Lebensgrundlagen bewahren können. Und wenn ich mich das so sagen höre, denke ich: Ginge es nicht auch eine Nummer kleiner? Tatsächlich hätte ich es gern ab und zu ein paar Nummern kleiner, würde mich gern mit Schöngeistigem befassen, und manchmal tu ich das auch; würde lieber über, sagen wir, «Metaphern der Unbeschwertheit im Spätwerk Georg Büchners» schreiben als darüber, ob wir das Schlimmste noch abwenden können. Aber das scheint mir dann manchmal ein wenig frivol, und es scheint mir besonders frivol in einer Zeit, in der wissenschaftliche Fachartikel so beginnen wie der vor einem Monat publizierte 2024 State of the Climate Report, dessen erste Sätze lauten: «We are on the brink of an irreversible climate disaster. This is a global emergency beyond any doubt. Much of the very fabric of life on Earth is imperiled.» Und es scheint mir frivol in Zeiten, in denen eine solche Nachricht aus den Wissenschaftenn medial kaum zur Kenntnis genommen wird.
In weitem Schneckenkreise also, eine Bewegung, die nicht nur die dramaturgische Bewegung meiner Ausführungen heute Abend sein soll, sondern die auch meine bevorzugte Arbeitsbewegung ist: eine Bewegung, die wenig Rücksichten zulässt auf Gärtchen und Gartenzäunchen.
Sie werden nicht sehr überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, dass man als Wissenschaftsjournalist viel schlechte Wissenschaft zu sehen bekommt, und natürlich muss es die Aufgabe des Journalismus sein, schlechte Wissenschaft schlechte Wissenschaft zu nennen. (Vielleicht überrascht es Sie nicht einmal, wenn ich sage, dass das schlechteste Stück Wissenschaft, das ich je zu sehen bekommen habe, aus einem mit dieser Universität assoziierten Institut stammt – ein Papierchen, das freilich einen äusserst imposanten Impact erzielen konnte, als es dank den richtigen personellen Verbindungen direkt einen weitreichenden Bundesratsentscheid auslöste).
Ich will also, habe ich gesagt, um die Frage des Wissen-Könnens kreisen, «in weitem Schneckenkreise», so wie Mephisto, als er, in Gestalt eines Pudels, Faust zum ersten Mal begegnet, und inhaltlich um das Thema, das mich am meisten umtreibt: Nachhaltigkeit – also die Frage, wie wir unsere Lebensgrundlagen bewahren können. Und wenn ich mich das so sagen höre, denke ich: Ginge es nicht auch eine Nummer kleiner? Tatsächlich hätte ich es gern ab und zu ein paar Nummern kleiner, würde mich gern mit Schöngeistigem befassen, und manchmal tu ich das auch; würde lieber über, sagen wir, «Metaphern der Unbeschwertheit im Spätwerk Georg Büchners» schreiben als darüber, ob wir das Schlimmste noch abwenden können. Aber das scheint mir dann manchmal ein wenig frivol, und es scheint mir besonders frivol in einer Zeit, in der wissenschaftliche Fachartikel so beginnen wie der vor einem Monat publizierte 2024 State of the Climate Report, dessen erste Sätze lauten: «We are on the brink of an irreversible climate disaster. This is a global emergency beyond any doubt. Much of the very fabric of life on Earth is imperiled.» Und es scheint mir frivol in Zeiten, in denen eine solche Nachricht aus den Wissenschaftenn medial kaum zur Kenntnis genommen wird.
In weitem Schneckenkreise also, eine Bewegung, die nicht nur die dramaturgische Bewegung meiner Ausführungen heute Abend sein soll, sondern die auch meine bevorzugte Arbeitsbewegung ist: eine Bewegung, die wenig Rücksichten zulässt auf Gärtchen und Gartenzäunchen.
Ich ziehe meinen Schneckenkreis nun ein wenig enger, bleibe aber noch einen Moment beim Schöngeist und wechsle vom Faust I zum Faust II. Faust II wird viel weniger gelesen und gespielt als Faust I, was auch sehr verständlich ist, denn der Faust II ist es eben über weite Strecken nicht – nicht verständlich –; zumindest verstehe ich ihn über weite Strecken nicht, was aber natürlich daran liegen wird, dass ich nur Doktor h.c. bin und kein richtiger Doktor.
Was ich aber verstanden habe, verdanke ich zu guten Teilen der wunderbaren Faust-Interpretation des vor sechs Jahren verstorbenen Ökonomen Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie. Binswanger liest den Faust, vor allem seinen zweiten Teil, geldtheoretisch.
Binswanger vertrat ein paar unkonventionelle Ansichten. Dass er als FDP-Politiker der renommierteste Kritiker des Wirtschaftswachstumszwangs war, ist ja schon mal eher ungewöhnlich. Oder dass er als HSG-Professor der Meinung war, Goethe habe die moderne Geldwirtschaft besser verstanden als Adam Smith.
In Geld und Magie vertritt er nun die These, die Ökonomie sei die Fortsetzung der Magie mit anderen Mitteln. Binswanger beobachtet, dass sich in der frühen Neuzeit die europäischen Fürstenhöfe Alchemisten hielten, die ihnen Gold machen sollten. (Aus heutiger Sicht kann man finden, diese Fürsten seien schön blöd gewesen, so lange auf die Alchemie zu setzen, die doch nichts zustande brachte, aber mich erinnert es ein wenig daran, wie wir heute seit Jahrzehnten Milliarden in die Kernfusion stecken.)
Im frühen 18. Jahrhundert jagte dann der französische Königshof unter Prinzregent Philipp von Orléans die Alchemisten in dem Moment zum Teufel, als er einen Ökonomen engagierte: den zum Tode verurteilten Glücksspieler und Spielbetrüger John Law. Er liess ihn aus dem Kerker holen und vertraute ihm königliches Kapital an, um die Banque générale zu gründen, die Papiergeld herausgab – eine Public Private Partnership mit weitreichenden Privilegien. Law gründete auch die Mississippi-Kompanie, die viele Parisiens, die deren Aktien kauften, innert kurzer Zeit sehr reich machte – die dann ihren Reichtum 1720, als die Blase platzte, aber in noch kürzerer Zeit wieder verloren. Um nicht am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft zu werden, musste Law aus Paris flüchten.
(Nebenbemerkung: Die Geschichte klingt nach «Wie gewonnen, so zerronnen», nach Nullsummenspiel, aber das war sie natürlich nicht, denn die Blase hatte sehr wohl eine realwirtschaftliche Grundlage: nämlich eine skrupellose Ausbeutung von Land und Menschen – einheimischen und importierten Sklav:innen – in den nordamerikanischen Kolonien der französischen Krone. Amitav Ghosh, der diesen Festvortrag vor einem Jahr halten durfte, nannte das «Omnizid».)
Normalerweise sieht man ja die Chemie und nicht die Ökonomie als die Erbin der Alchemie; ich würde nun sagen, beide haben jeweils unterschiedliche Erbteile übernommen. Die Chemie begann, vereinfacht gesagt, als wissenschaftliche Disziplin mit den Experimenten Lavoisiers, der nachweisen konnte, dass die Gesamtmasse der beteiligten Reagenzen bei chemischen Reaktionen stets gleich bleibt. Masse kann weder verschwinden noch ex nihilo entstehen. Daraus wurde die Chemie. Das, was die Chemie abspaltete – der magische Glaube, dass Schöpfung aus dem Nichts und unendliches Wachstum in einer endlichen Welt möglich sei –, wurde zur Ökonomie, die so schöne Konzepte wie «fiat money» erfand – was für ein Begriff! Die Chemie beerbte die materielle Seite der Alchemie und gab die Magie auf; die Ökonomie beerbte die magische Seite der Alchemie und vergass die materielle Grundlage.
Im Faust II ist es der als Hofnarr verkleidete Mephisto, der dem Kaiser, der pleite ist, aus der Patsche hilft, indem er das Papiergeld erfindet. (Die Tragödie ist eine rabenschwarze Satire!) Von einem Tag auf den anderen ist der Kaiser seine Schulden los, indem er Geld drucken lässt. Neu am Papiergeld ist, dass man nicht nur Wert, den man schon besitzt, sondern auch Wert, den man dereinst besitzen wird, zum Zahlen benutzen kann. Nachdem es den Alchemisten nicht gelungen war, Gold zu schaffen, schuf Mephisto Geld, das durch das Gold gedeckt war, das noch unter dem Boden lag. Vorher musste man Gold zuerst ausgraben, um es als Zahlungsmittel verwenden zu können. Jetzt konnte man noch auszugrabendes Gold zum Zahlen einsetzen. Aber damit das nicht wie bei John Law endete, musste man tatsächlich etwas ausgraben – nicht unbedingt Gold; Kohle (und später Erdöl usw.) passte auch. Und tatsächlich wurde das Wirtschaftswachstum des Fossilenergiezeitalters ja durch Ausgegrabenes befeuert. (Und wer jetzt mit der neoklassischen Wachstumshypothese sagt, der wahre Wachstumsmotor sei die menschliche Innovationskraft, dem antworte ich: kann schon sein – aber es waren doch in erster Linie die Innovationen, die helfen, noch mehr auszugraben, die das Wirtschaftswachstum angetrieben haben.)
Also kurz: Man musste Mehrwert schaffen. Die Geldwirtschaft, sagt Binswanger, brachte den Wachstumszwang.
Goethe hat den Faust II 1831, kurz vor seinem Tod, fertiggeschrieben, am Anfang des Zeitalters der fossilen Energien, und er beschreibt hellsichtig die zerstörerische Dynamik, die die Wachstumswirtschaft auslöste. Der Kaiser gibt dem Wachstumszwang statt, indem er Krieg führt und die Umwelt ausbeutet. Letzteres tut er, indem er Faust die Lizenz gibt, dem Meer Land abzugewinnen, was Faust mit Mephistos Hilfe rücksichtslos umsetzt. Die kapitalistische Dynamik, die alles platt macht, was sich ihr entgegenstellt, kulminiert im Faust II in der Geschichte von Philemon und Baucis, die in ihrem Häuschen in bescheidener Subsistenzwirtschaft leben und Faust im Wege stehen.
In der antiken Sage sind Philemon und Baucis die einzig tugendhaften unter lauter gierigen und geizigen Menschen. Die erzürnten Götter lassen ihre sündhafte Stadt im Sumpf versinken, einzig Philemon und Baucis entgehen dem Zorn der Götter und ihr armseliges Häuschen verwandelt sich in einen prunkvollen Palast. Goethe dreht diese Sage nun um: Faust beauftragt er Mephisto, ihm das Paar aus dem Wege zu schaffen. Mephisto fackelt die Hütte von Philemon und Baucis kurzerhand ab – samt ihrer Bewohner. Faust ist empört – so will er es dann doch nicht gemeint haben –, aber die Empörung dauert nur kurz.
Es folgt die rabenschwarze Pointe, als Faust, alt und erblindet, Schaufelgeräusche hört und glaubt, das seien die Bauarbeiten für sein Entwässerungswerk. Entzückt ruft er aus: «Es kann die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehn!» Tatsächlich aber hört er Mephistos Gehilfen, die ihm sein Grab schaufeln.
Und es gibt eine noch bitterere Pointe, von der Goethe noch nichts wissen konnte: Heute bedroht der Meeresspiegelanstieg die Entwässerungswerke an den Küsten und es wird wohl keine Äonen gedauert haben, bis sie untergehn.
Was ich aber verstanden habe, verdanke ich zu guten Teilen der wunderbaren Faust-Interpretation des vor sechs Jahren verstorbenen Ökonomen Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie. Binswanger liest den Faust, vor allem seinen zweiten Teil, geldtheoretisch.
Binswanger vertrat ein paar unkonventionelle Ansichten. Dass er als FDP-Politiker der renommierteste Kritiker des Wirtschaftswachstumszwangs war, ist ja schon mal eher ungewöhnlich. Oder dass er als HSG-Professor der Meinung war, Goethe habe die moderne Geldwirtschaft besser verstanden als Adam Smith.
In Geld und Magie vertritt er nun die These, die Ökonomie sei die Fortsetzung der Magie mit anderen Mitteln. Binswanger beobachtet, dass sich in der frühen Neuzeit die europäischen Fürstenhöfe Alchemisten hielten, die ihnen Gold machen sollten. (Aus heutiger Sicht kann man finden, diese Fürsten seien schön blöd gewesen, so lange auf die Alchemie zu setzen, die doch nichts zustande brachte, aber mich erinnert es ein wenig daran, wie wir heute seit Jahrzehnten Milliarden in die Kernfusion stecken.)
Im frühen 18. Jahrhundert jagte dann der französische Königshof unter Prinzregent Philipp von Orléans die Alchemisten in dem Moment zum Teufel, als er einen Ökonomen engagierte: den zum Tode verurteilten Glücksspieler und Spielbetrüger John Law. Er liess ihn aus dem Kerker holen und vertraute ihm königliches Kapital an, um die Banque générale zu gründen, die Papiergeld herausgab – eine Public Private Partnership mit weitreichenden Privilegien. Law gründete auch die Mississippi-Kompanie, die viele Parisiens, die deren Aktien kauften, innert kurzer Zeit sehr reich machte – die dann ihren Reichtum 1720, als die Blase platzte, aber in noch kürzerer Zeit wieder verloren. Um nicht am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft zu werden, musste Law aus Paris flüchten.
(Nebenbemerkung: Die Geschichte klingt nach «Wie gewonnen, so zerronnen», nach Nullsummenspiel, aber das war sie natürlich nicht, denn die Blase hatte sehr wohl eine realwirtschaftliche Grundlage: nämlich eine skrupellose Ausbeutung von Land und Menschen – einheimischen und importierten Sklav:innen – in den nordamerikanischen Kolonien der französischen Krone. Amitav Ghosh, der diesen Festvortrag vor einem Jahr halten durfte, nannte das «Omnizid».)
Normalerweise sieht man ja die Chemie und nicht die Ökonomie als die Erbin der Alchemie; ich würde nun sagen, beide haben jeweils unterschiedliche Erbteile übernommen. Die Chemie begann, vereinfacht gesagt, als wissenschaftliche Disziplin mit den Experimenten Lavoisiers, der nachweisen konnte, dass die Gesamtmasse der beteiligten Reagenzen bei chemischen Reaktionen stets gleich bleibt. Masse kann weder verschwinden noch ex nihilo entstehen. Daraus wurde die Chemie. Das, was die Chemie abspaltete – der magische Glaube, dass Schöpfung aus dem Nichts und unendliches Wachstum in einer endlichen Welt möglich sei –, wurde zur Ökonomie, die so schöne Konzepte wie «fiat money» erfand – was für ein Begriff! Die Chemie beerbte die materielle Seite der Alchemie und gab die Magie auf; die Ökonomie beerbte die magische Seite der Alchemie und vergass die materielle Grundlage.
Im Faust II ist es der als Hofnarr verkleidete Mephisto, der dem Kaiser, der pleite ist, aus der Patsche hilft, indem er das Papiergeld erfindet. (Die Tragödie ist eine rabenschwarze Satire!) Von einem Tag auf den anderen ist der Kaiser seine Schulden los, indem er Geld drucken lässt. Neu am Papiergeld ist, dass man nicht nur Wert, den man schon besitzt, sondern auch Wert, den man dereinst besitzen wird, zum Zahlen benutzen kann. Nachdem es den Alchemisten nicht gelungen war, Gold zu schaffen, schuf Mephisto Geld, das durch das Gold gedeckt war, das noch unter dem Boden lag. Vorher musste man Gold zuerst ausgraben, um es als Zahlungsmittel verwenden zu können. Jetzt konnte man noch auszugrabendes Gold zum Zahlen einsetzen. Aber damit das nicht wie bei John Law endete, musste man tatsächlich etwas ausgraben – nicht unbedingt Gold; Kohle (und später Erdöl usw.) passte auch. Und tatsächlich wurde das Wirtschaftswachstum des Fossilenergiezeitalters ja durch Ausgegrabenes befeuert. (Und wer jetzt mit der neoklassischen Wachstumshypothese sagt, der wahre Wachstumsmotor sei die menschliche Innovationskraft, dem antworte ich: kann schon sein – aber es waren doch in erster Linie die Innovationen, die helfen, noch mehr auszugraben, die das Wirtschaftswachstum angetrieben haben.)
Also kurz: Man musste Mehrwert schaffen. Die Geldwirtschaft, sagt Binswanger, brachte den Wachstumszwang.
Goethe hat den Faust II 1831, kurz vor seinem Tod, fertiggeschrieben, am Anfang des Zeitalters der fossilen Energien, und er beschreibt hellsichtig die zerstörerische Dynamik, die die Wachstumswirtschaft auslöste. Der Kaiser gibt dem Wachstumszwang statt, indem er Krieg führt und die Umwelt ausbeutet. Letzteres tut er, indem er Faust die Lizenz gibt, dem Meer Land abzugewinnen, was Faust mit Mephistos Hilfe rücksichtslos umsetzt. Die kapitalistische Dynamik, die alles platt macht, was sich ihr entgegenstellt, kulminiert im Faust II in der Geschichte von Philemon und Baucis, die in ihrem Häuschen in bescheidener Subsistenzwirtschaft leben und Faust im Wege stehen.
In der antiken Sage sind Philemon und Baucis die einzig tugendhaften unter lauter gierigen und geizigen Menschen. Die erzürnten Götter lassen ihre sündhafte Stadt im Sumpf versinken, einzig Philemon und Baucis entgehen dem Zorn der Götter und ihr armseliges Häuschen verwandelt sich in einen prunkvollen Palast. Goethe dreht diese Sage nun um: Faust beauftragt er Mephisto, ihm das Paar aus dem Wege zu schaffen. Mephisto fackelt die Hütte von Philemon und Baucis kurzerhand ab – samt ihrer Bewohner. Faust ist empört – so will er es dann doch nicht gemeint haben –, aber die Empörung dauert nur kurz.
Es folgt die rabenschwarze Pointe, als Faust, alt und erblindet, Schaufelgeräusche hört und glaubt, das seien die Bauarbeiten für sein Entwässerungswerk. Entzückt ruft er aus: «Es kann die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehn!» Tatsächlich aber hört er Mephistos Gehilfen, die ihm sein Grab schaufeln.
Und es gibt eine noch bitterere Pointe, von der Goethe noch nichts wissen konnte: Heute bedroht der Meeresspiegelanstieg die Entwässerungswerke an den Küsten und es wird wohl keine Äonen gedauert haben, bis sie untergehn.
Jetzt will ich aber meinen Schneckenkreis noch enger ziehen und vom Faust und seiner Interpretation durch Binswanger weg endlich zu einem Beispiel meiner eigenen Arbeit kommen. In meinem Buch Fortschrittsgeschichten habe ich zwölf Geschichten technischen Wandels erzählt. Das Beispiel, von dem ich heute sprechen will, ist die Dampfmaschine.
Und nun werden Sie denken: die Dampfmaschine? Die ist ja ungefähr so originell, als würde jemand einen Vortrag mit einem Goethe-Zitat beginnen, und von Goethe ausgerechnet Faust und vom Faust … Sie wissen schon. Die Dampfmaschine gilt ja – etwa neben dem Buchdruck oder dem Rad, über welche beiden Techniken ich ebenfalls geschrieben habe – als technische Innovation schlechthin.
Gerade darum interessiert sie mich.
Die Dampfmaschine interessierte mich gerade, weil sie so ikonisch ist und man an ihr Technikmythen dekonstruieren kann. Denn ich habe das Buch geschrieben, weil ich mich ärgerte um ein auch in meinem Umfeld weit verbreitetes naives Verständnis von Technik und die damit verbundene naive Hoffnung, der – tatsächlich beeindruckende – Fortschritt etwa der Photovoltaik oder anderer «sauberer» Techniken würden uns von alleine retten.
In der Jugendsprache meiner Töchter könnte ich sagen: Die Dampfmaschine ist total überschätzt. Aber sie ist gleichzeitig auch unterschätzt.
Die Dampfmaschine ist überschätzt, wenn es heisst, sie habe die industrielle Revolution ausgelöst (und das heisst es oft). Es ist das Denkmuster, wonach es technische Erfindungen sind, die gesellschaftlichen Wandel auslösen.
Als die industrielle Revolution in England anhob, gab es zwar schon Dampfmaschinen – Thomas Newcomen hat die erste funktionierende Dampfmaschine der westlichen Welt 1712 gebaut –, aber sie waren nicht industrietauglich; dafür musste sie zuerst von James Watt neu erfunden werden, und bis sie einige Bedeutung erlangt hatte, war die industrielle Revolution schon im Gang. Die Dampfmaschine hat also die industrielle Revolution keineswegs ausgelöst, sie gab ihr aber schon bald eine bestimmte Richtung. Interessant ist übrigens, dass andere Techniken, die für die industrielle Revolution ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger waren, nie diese Prominenz erreicht haben: die Techniken des Webens und Spinnens oder des Entkernens der Baumwollkapseln mit der Egreniermaschine, der Spinning Jenny oder dem Jaquard-Webstuhl. In der Überbewertung der Dampfmaschine zeigt sich ein Bias, den wir heute auch beispielsweise in der energiepolitischen Debatte sehen: den Bias hin zum Grosstechnischen, Imposanten. Es zeigt sich hier, wie ich vermute, auch ein Gender-Bias: Das Bereitstellen von Energie ist – solange es sich nicht um Nahrungsenergie handelt – typischerweise männlich assoziiert, Textiltechniken typischerweise weiblich.
Aber ich sage, dass die Dampfmaschine auch unterschätzt ist. Denn sie hat das fossilenergetische Zeitalter begründet, und war somit so etwas wie der Startschuss zu dem Zerstörungswerk, das wir am Erdsystem anrichten, und das kann man gar nicht überschätzen. Die ersten Dampfmaschinen konnten ja nur eine Bewegung: auf und ab, resp. hin und her. (Erst Watt schaffte die Übersetzung in die Drehbewegung, und Voraussetzung dazu war übrigens eine auch meist unterschätzte Technik: die Präzisionsbohrmaschine, die Wilkinson erfunden hatte – nicht um präzise Dampfmaschinen, sondern um präzise Schusswaffen zu bauen.) Die Dampfmaschine wurde zu Beginn eingesetzt, um zu pumpen. Und verkörpert sie zumindest symbolisch einen enorm wichtigen Paradigmenwechsel: den vom Prinzip des abnehmenden Grenznutzens, das jedes Wachstum limitiert, zum Skaleneffekt, der Wachstum begünstigt.
England erlebte nach dem Brand von London 1666 einen Kohleboom, weil man viel Wärmeenergie brauchte, um Ziegel zu brennen und die Stadt feuerfest wiederaufzubauen, und weil die Wälder bereits weitgehend verfeuert worden waren, nutzte man Kohle. Aber dieser Boom wäre schon bald an sein Ende gekommen: Je tiefer man in einem Bergwerk gräbt, desto grösser wird nämlich der Grundwasserdruck, deston mehr muss man pumpen, um weitergraben zu können – bis es sich nicht mehr lohnt. Das ist das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens. Nun kam aber die Dampfmaschine und verbrannte Kohle, um Wasser zu pumpen und noch mehr Kohle zu fördern – das war das Skalenprinzip, das Gegenteil des abnehmenden Grenznutzens! Kohle machen mit Kohle, das tun die Banken ja heute noch – wobei die heutigen Baken, dank Mephistos Erfindung des Papiergelds, auch Kohle verbrennen können, die es noch gar nicht gibt, solange sie nur glaubhaft versprechen können, dass es diese Kohle dereinst geben wird. Wird das Versprechen nicht mehr geglaubt, platzt die Blase – wie 1720 … oder 1929 … oder 2008.
Die Dampfmaschine ist aber auch technisch eine Skalenmaschine: Die ersten Dampfmaschinen hatten lausige Wirkungsgrade, weil ihre Kessel so viel Wärmeenergie verloren. Je grösser nun aber ein Kessel ist, desto günstiger ist sein Verhältnis von Oberfläche zu Volumen, das heisst: grössere Dampfmaschinen sind weniger ineffizient – ein Skaleneffekt!
Es gibt noch ein paar weitere Technikmythen, die sich anhand der Dampfmaschine demontieren lassen.
Zum Beispiel: Technischer Fortschritt beginnt mit wissenschaftlicher Erkenntnis, die in Erfindungen übersetzt wird. Bei der Dampfmaschine war es umgekehrt: Die erste thermodynamische Maschine ist älter als die Theorie der Thermodynamik, die Nicolas Sadi-Carnot ja gerade entwickelte, indem er mit der Dampfmaschine experimentierte. Die Dampfmaschinenerfinder Newcomen und Watt waren nicht Wissenschafter, sondern Handwerker.
Anderes Beispiel: Technischer Fortschritt ist Antwort auf ein praktisches Bedürfnis. Ein Patent für eine Dampfmaschine hatte 1698 bereits der Physiker Denis Papin erhalten, wenn es ihm dann auch nicht gelang, eine funktionstüchtige Maschine zu bauen. Papin hatte zuvor schon den Dampfkochtopf erfunden – und das Sicherheitsventil, nachdem einer seiner Töpfe während einer Demonstration der ehrwürdigen britischen Royal Society um die Ohren geflogen war. Er korrespondierte mit dem Chef-Gartenbauer des Kurfürsten von Hannover und späteren König George von England – Gottfried Wilhelm von Leibniz, besser bekannt in seinem Zweitberuf als Philosoph – und bot ihm an, einen mit Dampf betriebenen Springbrunnen zu bauen, der höher als 27 Meter zu speien vermag. Warum 27 Meter? Weil die Fontäne von Versailles so hoch spie, angetrieben von der grössten Wasserkraftanlage jener Zeit in Marly-le-Roi mit ihren 10 Wasserrädern und 259 Pumpen (so wie übrigens die grösste Staumauer der Antike beim heutigen Subiaco dazu diente, die Wasserspiele in Kaiser Neros Palast und Garten zu betreiben.) Der erste Versuch, in Europa eine Dampfmaschine zu bauen, und das grösste Kraftwerk der frühen Neuzeit galten nicht einem «praktischen» Zweck, sondern einem Wettbewerb unter den adeligen Buben Europas, wer höher spritzen kann!
Oder zum Beispiel: die Vorstellung, dass sich die überlegene Technik auf dem Markt durchsetzt; sehr relevant für jede Technologiepolitik. Auch dieser Mythos ist falsch: Die ersten Dampfmaschinen waren anderen Energieanwendungen keineswegs überlegen. Sie kamen nur in Kohlebergwerken zum Einsatz; sobald man die Kohle zuerst hätte transportieren müssen, hätte es sich nicht mehr gelohnt (das änderte dann ein Jahrhundert später, als man Dampfmaschinen auf Räder und die Räder auf Schienen zu stellen begann; ein weiterer Skaleneffekt). Aber sogar in den Kohlebergwerken lohnten sich die Dampfmaschinen nur in England, und zwar wegen einer (unbeabsichtigten) staatlichen Förderung. Denn in England waren die Landbesitzer – die Lords – politisch sehr stark und setzten Gesetze durch, die die Getreidepreise hoch hielten. Getreide war, als Pferdefutter, die Primärenergie der Konkurrenztechnik zur Dampfmaschine: des Pferdegöpels. Die Getreidepreis-Politik wirkte als eine Förderung der Dampfkraft. Als 1783 der preussische König Friedrich II eine Dampfmaschine in einem Bergwerk in Böhmen aufstellen liess, wo die Getreidepreise tiefer waren, hörte er nicht auf seine Berater, die ihm davon abrieten, sondern gab seinem Drang nach prestigereicher Technik nach. Die Maschine war nicht lange in Gebrauch. Aber weil sich die Maschine in England lohnte, konnte sie sich dort so weiterentwickeln, dass sie eines Tages auch ausserhalb Englands konkurrenzfähig war. Ähnliches geschah anderthalb Jahrhunderte später mit den ersten Dampfbooten: Dass sie auch bei Flaute fuhren, war ein grosser ökonomischer Vorteil – aber der hätte nicht ausgereicht, den Nachteil der sehr hohen Kosten wettzumachen. Doch dem Militär waren die Kosten egal, und so entwickelte sich die Technik, bis sie auch kommerziell tauglich war (während die Briten gleichzeitig in ihren Kolonien jede fossilenergetische Entwicklung unterbanden – eine Information, die ich das erste Mal bei Amitav Ghosh erfahren habe). Ganz ähnlich lief es in unserer Zeit mit der Photovoltaik und ihrer Förderung durch die deutsche Einspeisevergütung.
Und schliesslich der wichtigste Mythos, den die Dampfmaschine widerlegt: die Vorstellung, neue, bessere Techniken würden alte, schlechtere verdrängen. Die Dampfmaschine, liest man immer wieder, habe die Menschen von mühseliger körperlicher Arbeit befreit. Das Gegenteil ist richtig. Die Zahl der Sklavinnen und Sklaven in den USA hat sich in den fast hundert Jahren zwischen Watts Neuerfindung der Dampfmaschine und der Abschaffung der Sklaverei in den USA nach dem Sezessionskrieg versechsfacht: Dank der Dampfmaschine konnte man in England nun viel mehr Baumwolle verarbeiten. Diese Baumwolle wurde mit menschlicher Zwangsarbeit produziert.
Das ist ein typisches Muster in der Technikgeschichte: Ein vermeintliches Substitut ersetzt seine Vorgängertechnik nicht nur nicht, sondern tritt zu ihr hinzu und vermehrt sie sogar noch. Die Eisenbahn verdrängte die Pferdekutschen nicht, sondern die Eisenbahngesellschaften waren im frühen 20. Jahrhundert die grössten Pferdekutschenbesitzer, weil die Eisenbahn die Transportnachfrage explodieren liess, die Zubringertransporte zu den Bahnhöfen aber nach wie vor auf Pferdekutschen angewiesen waren. (Das ist, wie wenn heute jemand auf die absurde Idee käme, die Autobahnen auszubauen, um das restliche Strassennetz zu entlasten: Das würde auch nicht funktionieren!). Am meisten Kohle verbrannte die Menschheit nicht im Kohlezeitalter, dem 19. Jahrhundert, sondern im Jahr 2023, und wir verbrauchen heute – pro Kopf! – viel mehr Eisen als in der Eisenzeit, viel mehr Kupfer als in der Bronzezeit und sehr, sehr viel mehr Steine als in der Steinzeit.
Und da komme ich nun zu meinem politischen Engagement: An dessen Anfang stand die Erkenntnis, dass für die Begrenzung der Klimakrise nicht zählt, wie schnell wir die erneuerbare Energieversorgung ausbauen, sondern einzig, wie schnell wir die fossile loswerden, und dass das eine nicht automatisch zum anderen führt. Substituieren heisst: Etwas hinzutun und etwas anderes wegnehmen. In der Politik ist fast nur vom Hinzutun die Rede. Wir riskieren, dass wir die erneuerbaren Energien am Ende nicht an Stelle der fossilen, sondern zusätzlich zu ihnen nutzen.
Das war eigentlich die Hauptbotschaft, die ich in die Politik einbringen wollte. In dieser Hinsicht bin ich gescheitert.
Und nun werden Sie denken: die Dampfmaschine? Die ist ja ungefähr so originell, als würde jemand einen Vortrag mit einem Goethe-Zitat beginnen, und von Goethe ausgerechnet Faust und vom Faust … Sie wissen schon. Die Dampfmaschine gilt ja – etwa neben dem Buchdruck oder dem Rad, über welche beiden Techniken ich ebenfalls geschrieben habe – als technische Innovation schlechthin.
Gerade darum interessiert sie mich.
Die Dampfmaschine interessierte mich gerade, weil sie so ikonisch ist und man an ihr Technikmythen dekonstruieren kann. Denn ich habe das Buch geschrieben, weil ich mich ärgerte um ein auch in meinem Umfeld weit verbreitetes naives Verständnis von Technik und die damit verbundene naive Hoffnung, der – tatsächlich beeindruckende – Fortschritt etwa der Photovoltaik oder anderer «sauberer» Techniken würden uns von alleine retten.
In der Jugendsprache meiner Töchter könnte ich sagen: Die Dampfmaschine ist total überschätzt. Aber sie ist gleichzeitig auch unterschätzt.
Die Dampfmaschine ist überschätzt, wenn es heisst, sie habe die industrielle Revolution ausgelöst (und das heisst es oft). Es ist das Denkmuster, wonach es technische Erfindungen sind, die gesellschaftlichen Wandel auslösen.
Als die industrielle Revolution in England anhob, gab es zwar schon Dampfmaschinen – Thomas Newcomen hat die erste funktionierende Dampfmaschine der westlichen Welt 1712 gebaut –, aber sie waren nicht industrietauglich; dafür musste sie zuerst von James Watt neu erfunden werden, und bis sie einige Bedeutung erlangt hatte, war die industrielle Revolution schon im Gang. Die Dampfmaschine hat also die industrielle Revolution keineswegs ausgelöst, sie gab ihr aber schon bald eine bestimmte Richtung. Interessant ist übrigens, dass andere Techniken, die für die industrielle Revolution ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger waren, nie diese Prominenz erreicht haben: die Techniken des Webens und Spinnens oder des Entkernens der Baumwollkapseln mit der Egreniermaschine, der Spinning Jenny oder dem Jaquard-Webstuhl. In der Überbewertung der Dampfmaschine zeigt sich ein Bias, den wir heute auch beispielsweise in der energiepolitischen Debatte sehen: den Bias hin zum Grosstechnischen, Imposanten. Es zeigt sich hier, wie ich vermute, auch ein Gender-Bias: Das Bereitstellen von Energie ist – solange es sich nicht um Nahrungsenergie handelt – typischerweise männlich assoziiert, Textiltechniken typischerweise weiblich.
Aber ich sage, dass die Dampfmaschine auch unterschätzt ist. Denn sie hat das fossilenergetische Zeitalter begründet, und war somit so etwas wie der Startschuss zu dem Zerstörungswerk, das wir am Erdsystem anrichten, und das kann man gar nicht überschätzen. Die ersten Dampfmaschinen konnten ja nur eine Bewegung: auf und ab, resp. hin und her. (Erst Watt schaffte die Übersetzung in die Drehbewegung, und Voraussetzung dazu war übrigens eine auch meist unterschätzte Technik: die Präzisionsbohrmaschine, die Wilkinson erfunden hatte – nicht um präzise Dampfmaschinen, sondern um präzise Schusswaffen zu bauen.) Die Dampfmaschine wurde zu Beginn eingesetzt, um zu pumpen. Und verkörpert sie zumindest symbolisch einen enorm wichtigen Paradigmenwechsel: den vom Prinzip des abnehmenden Grenznutzens, das jedes Wachstum limitiert, zum Skaleneffekt, der Wachstum begünstigt.
England erlebte nach dem Brand von London 1666 einen Kohleboom, weil man viel Wärmeenergie brauchte, um Ziegel zu brennen und die Stadt feuerfest wiederaufzubauen, und weil die Wälder bereits weitgehend verfeuert worden waren, nutzte man Kohle. Aber dieser Boom wäre schon bald an sein Ende gekommen: Je tiefer man in einem Bergwerk gräbt, desto grösser wird nämlich der Grundwasserdruck, deston mehr muss man pumpen, um weitergraben zu können – bis es sich nicht mehr lohnt. Das ist das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens. Nun kam aber die Dampfmaschine und verbrannte Kohle, um Wasser zu pumpen und noch mehr Kohle zu fördern – das war das Skalenprinzip, das Gegenteil des abnehmenden Grenznutzens! Kohle machen mit Kohle, das tun die Banken ja heute noch – wobei die heutigen Baken, dank Mephistos Erfindung des Papiergelds, auch Kohle verbrennen können, die es noch gar nicht gibt, solange sie nur glaubhaft versprechen können, dass es diese Kohle dereinst geben wird. Wird das Versprechen nicht mehr geglaubt, platzt die Blase – wie 1720 … oder 1929 … oder 2008.
Die Dampfmaschine ist aber auch technisch eine Skalenmaschine: Die ersten Dampfmaschinen hatten lausige Wirkungsgrade, weil ihre Kessel so viel Wärmeenergie verloren. Je grösser nun aber ein Kessel ist, desto günstiger ist sein Verhältnis von Oberfläche zu Volumen, das heisst: grössere Dampfmaschinen sind weniger ineffizient – ein Skaleneffekt!
Es gibt noch ein paar weitere Technikmythen, die sich anhand der Dampfmaschine demontieren lassen.
Zum Beispiel: Technischer Fortschritt beginnt mit wissenschaftlicher Erkenntnis, die in Erfindungen übersetzt wird. Bei der Dampfmaschine war es umgekehrt: Die erste thermodynamische Maschine ist älter als die Theorie der Thermodynamik, die Nicolas Sadi-Carnot ja gerade entwickelte, indem er mit der Dampfmaschine experimentierte. Die Dampfmaschinenerfinder Newcomen und Watt waren nicht Wissenschafter, sondern Handwerker.
Anderes Beispiel: Technischer Fortschritt ist Antwort auf ein praktisches Bedürfnis. Ein Patent für eine Dampfmaschine hatte 1698 bereits der Physiker Denis Papin erhalten, wenn es ihm dann auch nicht gelang, eine funktionstüchtige Maschine zu bauen. Papin hatte zuvor schon den Dampfkochtopf erfunden – und das Sicherheitsventil, nachdem einer seiner Töpfe während einer Demonstration der ehrwürdigen britischen Royal Society um die Ohren geflogen war. Er korrespondierte mit dem Chef-Gartenbauer des Kurfürsten von Hannover und späteren König George von England – Gottfried Wilhelm von Leibniz, besser bekannt in seinem Zweitberuf als Philosoph – und bot ihm an, einen mit Dampf betriebenen Springbrunnen zu bauen, der höher als 27 Meter zu speien vermag. Warum 27 Meter? Weil die Fontäne von Versailles so hoch spie, angetrieben von der grössten Wasserkraftanlage jener Zeit in Marly-le-Roi mit ihren 10 Wasserrädern und 259 Pumpen (so wie übrigens die grösste Staumauer der Antike beim heutigen Subiaco dazu diente, die Wasserspiele in Kaiser Neros Palast und Garten zu betreiben.) Der erste Versuch, in Europa eine Dampfmaschine zu bauen, und das grösste Kraftwerk der frühen Neuzeit galten nicht einem «praktischen» Zweck, sondern einem Wettbewerb unter den adeligen Buben Europas, wer höher spritzen kann!
Oder zum Beispiel: die Vorstellung, dass sich die überlegene Technik auf dem Markt durchsetzt; sehr relevant für jede Technologiepolitik. Auch dieser Mythos ist falsch: Die ersten Dampfmaschinen waren anderen Energieanwendungen keineswegs überlegen. Sie kamen nur in Kohlebergwerken zum Einsatz; sobald man die Kohle zuerst hätte transportieren müssen, hätte es sich nicht mehr gelohnt (das änderte dann ein Jahrhundert später, als man Dampfmaschinen auf Räder und die Räder auf Schienen zu stellen begann; ein weiterer Skaleneffekt). Aber sogar in den Kohlebergwerken lohnten sich die Dampfmaschinen nur in England, und zwar wegen einer (unbeabsichtigten) staatlichen Förderung. Denn in England waren die Landbesitzer – die Lords – politisch sehr stark und setzten Gesetze durch, die die Getreidepreise hoch hielten. Getreide war, als Pferdefutter, die Primärenergie der Konkurrenztechnik zur Dampfmaschine: des Pferdegöpels. Die Getreidepreis-Politik wirkte als eine Förderung der Dampfkraft. Als 1783 der preussische König Friedrich II eine Dampfmaschine in einem Bergwerk in Böhmen aufstellen liess, wo die Getreidepreise tiefer waren, hörte er nicht auf seine Berater, die ihm davon abrieten, sondern gab seinem Drang nach prestigereicher Technik nach. Die Maschine war nicht lange in Gebrauch. Aber weil sich die Maschine in England lohnte, konnte sie sich dort so weiterentwickeln, dass sie eines Tages auch ausserhalb Englands konkurrenzfähig war. Ähnliches geschah anderthalb Jahrhunderte später mit den ersten Dampfbooten: Dass sie auch bei Flaute fuhren, war ein grosser ökonomischer Vorteil – aber der hätte nicht ausgereicht, den Nachteil der sehr hohen Kosten wettzumachen. Doch dem Militär waren die Kosten egal, und so entwickelte sich die Technik, bis sie auch kommerziell tauglich war (während die Briten gleichzeitig in ihren Kolonien jede fossilenergetische Entwicklung unterbanden – eine Information, die ich das erste Mal bei Amitav Ghosh erfahren habe). Ganz ähnlich lief es in unserer Zeit mit der Photovoltaik und ihrer Förderung durch die deutsche Einspeisevergütung.
Und schliesslich der wichtigste Mythos, den die Dampfmaschine widerlegt: die Vorstellung, neue, bessere Techniken würden alte, schlechtere verdrängen. Die Dampfmaschine, liest man immer wieder, habe die Menschen von mühseliger körperlicher Arbeit befreit. Das Gegenteil ist richtig. Die Zahl der Sklavinnen und Sklaven in den USA hat sich in den fast hundert Jahren zwischen Watts Neuerfindung der Dampfmaschine und der Abschaffung der Sklaverei in den USA nach dem Sezessionskrieg versechsfacht: Dank der Dampfmaschine konnte man in England nun viel mehr Baumwolle verarbeiten. Diese Baumwolle wurde mit menschlicher Zwangsarbeit produziert.
Das ist ein typisches Muster in der Technikgeschichte: Ein vermeintliches Substitut ersetzt seine Vorgängertechnik nicht nur nicht, sondern tritt zu ihr hinzu und vermehrt sie sogar noch. Die Eisenbahn verdrängte die Pferdekutschen nicht, sondern die Eisenbahngesellschaften waren im frühen 20. Jahrhundert die grössten Pferdekutschenbesitzer, weil die Eisenbahn die Transportnachfrage explodieren liess, die Zubringertransporte zu den Bahnhöfen aber nach wie vor auf Pferdekutschen angewiesen waren. (Das ist, wie wenn heute jemand auf die absurde Idee käme, die Autobahnen auszubauen, um das restliche Strassennetz zu entlasten: Das würde auch nicht funktionieren!). Am meisten Kohle verbrannte die Menschheit nicht im Kohlezeitalter, dem 19. Jahrhundert, sondern im Jahr 2023, und wir verbrauchen heute – pro Kopf! – viel mehr Eisen als in der Eisenzeit, viel mehr Kupfer als in der Bronzezeit und sehr, sehr viel mehr Steine als in der Steinzeit.
Und da komme ich nun zu meinem politischen Engagement: An dessen Anfang stand die Erkenntnis, dass für die Begrenzung der Klimakrise nicht zählt, wie schnell wir die erneuerbare Energieversorgung ausbauen, sondern einzig, wie schnell wir die fossile loswerden, und dass das eine nicht automatisch zum anderen führt. Substituieren heisst: Etwas hinzutun und etwas anderes wegnehmen. In der Politik ist fast nur vom Hinzutun die Rede. Wir riskieren, dass wir die erneuerbaren Energien am Ende nicht an Stelle der fossilen, sondern zusätzlich zu ihnen nutzen.
Das war eigentlich die Hauptbotschaft, die ich in die Politik einbringen wollte. In dieser Hinsicht bin ich gescheitert.
In meiner jüngsten Arbeit befasste ich mich mit Recht – mit der Juristerey, die ich nicht studiert habe. Ich habe als Dilettant gearbeitet – wie ich auch Politik gemacht habe als Dilettant. Ich bin gerne Dilettant – in dem Sinne, wie auch Goethe sich einen Dilettanten nannte. Auch Binswanger war Dilettant: ein Schneckenkreiser ohne viel Respekt gegenüber Gärtchen und Gartenzäunchen. Allerdings habe ich schon den Anspruch, mich um das beste verfügbare Wissen zu bemühen und mir der Grenzen meines Wissens bewusst zu sein und ihnen mit Demut zu begegnen, sonst wäre ich kein Dilettant, sondern ein Schwurbler.
Ich glaube, wir brauchen einen aufgeklärten Dilettantismus.
Sein – sehr aufgeklärter – Dilettantismus machte Binswangers Stimme so wertvoll. Binswanger war in den 1970er Jahren Mitglied einer von Bundesrat Kurt Furgler geleiteten Expertenkommission zur Totalrevision der Bundesverfassung, und da war er für die wirtschaftspolitischen Aspekte zuständig. Der Verfassungsentwurf, der 1977 präsentiert wurde, sah Schranken für den Kapitalismus vor – verfasst vom, ich erinnere daran, freisinnigen Wirtschaftsprofessor. Überlebt haben diese Schranken den Widerstand der Wirtschaftslobbys dann nicht, ganz im Gegensatz zur Präambel, für den Entwurf von 1977 verfasst von Adolf Muschg, einem meiner Lehrer an der ETH, die dann 1999 Eingang in die geltende BV fand – Goethe zitierend (wir werden Goethe heute nicht mehr los).
Den aufgeklärten Dilettantismus habe ich mir immer versucht, zur Methode zu machen. Schon 1988, als ich meine Matura machte, wollte ich Dilettant werden. Der Rektor meiner Schule sagte an der Maturfeier: «Sie haben nun die grösste Breite Ihres Wissens erreicht. Sie werden sich nun studieren und sehr viel Wissen in Ihrer Disziplin erwerben, aber die Breite, die Sie heute erlangt haben, werden Sie nie wieder erreichen.»
Ich dachte trotzig: doch!
Und so kreise ich denn heute durch fremde Gärtchen, und das Schöne dabei ist, dass ich nie als lächerlich wahrgenommen werde, wie es mein eingangs zitierter Journalistenkollege behauptete, im Gegenteil: Die meisten Gartenbesitzerinnen und Gartenbesitzer, in deren Gärtchen ich trete,sind nicht verärgert, sondern interessiert (es ist schon vorgekommen, dass man mir dafür einen akademischen Titel verlieh!).
Und gerade der dilettantische Blick von aussen mag mitunter etwas zu sehen, was Fachleute nicht sehen. Wenn mir ein Wissenschafter oder eine Wissenschafterin in einem Interview sagt: «So habe ich das noch nie gesehen!», dann hatten wir beide (und, hoffentlich, auch meine Leserinnen und Leser) etwas von der Begegnung. Und das gilt nicht nur für den Blick auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, sondern auch beispielsweise auf die Politik, in der ich mich ein paar Jahre getummelt habe – immer im Versuch, wissenschaftliche Expertise in den politischen Prozess einzubringen.
Ich glaube, wir brauchen einen aufgeklärten Dilettantismus.
Sein – sehr aufgeklärter – Dilettantismus machte Binswangers Stimme so wertvoll. Binswanger war in den 1970er Jahren Mitglied einer von Bundesrat Kurt Furgler geleiteten Expertenkommission zur Totalrevision der Bundesverfassung, und da war er für die wirtschaftspolitischen Aspekte zuständig. Der Verfassungsentwurf, der 1977 präsentiert wurde, sah Schranken für den Kapitalismus vor – verfasst vom, ich erinnere daran, freisinnigen Wirtschaftsprofessor. Überlebt haben diese Schranken den Widerstand der Wirtschaftslobbys dann nicht, ganz im Gegensatz zur Präambel, für den Entwurf von 1977 verfasst von Adolf Muschg, einem meiner Lehrer an der ETH, die dann 1999 Eingang in die geltende BV fand – Goethe zitierend (wir werden Goethe heute nicht mehr los).
Den aufgeklärten Dilettantismus habe ich mir immer versucht, zur Methode zu machen. Schon 1988, als ich meine Matura machte, wollte ich Dilettant werden. Der Rektor meiner Schule sagte an der Maturfeier: «Sie haben nun die grösste Breite Ihres Wissens erreicht. Sie werden sich nun studieren und sehr viel Wissen in Ihrer Disziplin erwerben, aber die Breite, die Sie heute erlangt haben, werden Sie nie wieder erreichen.»
Ich dachte trotzig: doch!
Und so kreise ich denn heute durch fremde Gärtchen, und das Schöne dabei ist, dass ich nie als lächerlich wahrgenommen werde, wie es mein eingangs zitierter Journalistenkollege behauptete, im Gegenteil: Die meisten Gartenbesitzerinnen und Gartenbesitzer, in deren Gärtchen ich trete,sind nicht verärgert, sondern interessiert (es ist schon vorgekommen, dass man mir dafür einen akademischen Titel verlieh!).
Und gerade der dilettantische Blick von aussen mag mitunter etwas zu sehen, was Fachleute nicht sehen. Wenn mir ein Wissenschafter oder eine Wissenschafterin in einem Interview sagt: «So habe ich das noch nie gesehen!», dann hatten wir beide (und, hoffentlich, auch meine Leserinnen und Leser) etwas von der Begegnung. Und das gilt nicht nur für den Blick auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, sondern auch beispielsweise auf die Politik, in der ich mich ein paar Jahre getummelt habe – immer im Versuch, wissenschaftliche Expertise in den politischen Prozess einzubringen.
Meiner These, wir bräuchten mehr aufgeklärten Dilettantismus, begegnete ich in meiner jüngsten Arbeit in den Berichten des Weltklimarats IPCCund des Weltbiodiversitätsrats IPBES wieder. Und so versuche ich nun, zu einer Synthese zu gelangen zwischen den beiden Zentren meines Kreisens: dem Wissen-Können und der Nachhaltigkeit.
Ich habe mich zuletzt mit der Frage befasst, was Gesellschaften in den gegenwärtigen und kommenden Krisen resilient macht. Denn um nachhaltig zu sein, genügt es nicht mehr, die Umwelt zu schützen: Wir müssen auch uns und unsere Institutionen vor der Umwelt schützen, wenn diese aus den Fugen gerät. Wir müssen die grossen Umweltkrisen soweit wie möglich zu begrenzen versuchen, aber verhindern können wir sie nicht mehr. Die Verhinderung einer «gefährlichen anthropogenen Störung des Klimasystems», wie es das UN-Rahmenabkommen zum Klimawandel von 1992anstrebt, haben wir schon verpasst. Von neun wissenschaftlich bestimmten «planetaren Grenzen», die eingehalten werden müssten, damit die Ökosysteme stabil bleiben, sind heute sechs überschritten und eine siebente fast. Nachhaltigkeit muss heute deshalb auch danach fragen, wie man Resilienz schafft. Dazu haben wir uns auch völkerrechtlich verpflichtet, denn das ist eines der Ziele des Übereinkommens von Paris.
Und vielleicht sind einige von ihnen zusammengezuckt, als ich «Resilienz» sagte, denn dieser Begriff leidet wie die «Nachhaltigkeit» unter seiner inflationären Verwendung. Ich halte aber Resilienz wie auch Nachhaltigkeit für zu wertvolle Konzepte, um sie aufzugeben. Man muss einfach auf ihrer Bedeutung beharren.
Ich verstehe gesellschaftliche Resilienz als die Fähigkeit sozialer Systeme, sich zu transformieren, ohne ihre Funktionsfähigkeit als System zu verlieren. Oder in den Worten des IPCC: «Climate resilient development is a process of implementing greenhouse gas mitigation and adaptation options to support sustainable development for all in ways that support human and planetary health and well-being, equity and justice.» Nun lesen nicht allzu viele Leute und vor allem nicht allzu viele Politikerinnen und Politiker den IPCC-Bericht bis auf Seite 2734 seines zweiten Teils [IPCC AR6 WG2, 2022], wo man das genannte Zitat findet, und wenn man von Anpassung spricht, meint man meist Dinge wie Hochwasserverbauungen, Unwetterwarnsysteme oder die Züchtung trockenheitsresistenter Nutzpflanzensorten. Es stellt sich aber bis heute in der Politik noch praktisch niemand die Frage, wie die gesellschaftlichen Systeme als ganze die Schocks schwerer Umweltkrisen überstehen können.
Und hier ist unser Wissen wenig robust. Wir wissen zwar unheimlich genau, was wir mit unserem Planeten gerade anrichten, aber wir wissen sehr wenig über die Zukunft unserer Gesellschaften. Zukunft hatte immer schon die Eigenschaft, unbekannt zu sein, aber zukünftige Zukünfte, wenn Sie mir diese Formulierung erlauben – Zukünfte in einer Epoche, in der wir Menschen unsere Lebensbedingungen innert Jahrzehnten so sehr verändern, wie es sonst nur in geologischen Zeiträumen geschieht –, solche Zukünfte sind noch viel ungewisser. Die Moderne ging stets davon aus, dass sich Kultur wandelt, während Natur gegeben ist. Diese Trennung von Kultur und Natur ist überholt; es hat sie, wie Bruno Latour festgestellt hat, auch nie wirklich gegeben.
Resilienz schaffen im Zeitalter des Anthropozän heisst immer auch Handeln unter den Bedingungen sehr unvollständigen Wissens.
Was der IPCC-Bericht über die klimaresiliente Entwicklung sagt, ist einigermassen vage und abstrakt, aber immerhin: Erstens braucht es systemische Transformationen statt Symptombekämpfungen, und als Grundlage dafür erst einmal ein Systemverständnis.
Zweitens braucht es einen adaptiven Umgang mit Nichtwissen. Es braucht keine perfekten Lösungen – solche gibt es nicht (man kann die Klimakrise nicht «lösen») –, sondern die Fähigkeit, unperfekte Lösungen immer wieder nachzujustieren.
Drittens gilt es, es eine Vielzahl von Perspektiven und Wissensformen, darunter namentlich indigene, zu berücksichtigen.
Etwas salopp gesagt: Es braucht eine grosse Portion Dilettantismus und (um noch eine Begriff von Lévi-Strauss zu droppen) Bricolage.
Ich habe mich zuletzt mit der Frage befasst, was Gesellschaften in den gegenwärtigen und kommenden Krisen resilient macht. Denn um nachhaltig zu sein, genügt es nicht mehr, die Umwelt zu schützen: Wir müssen auch uns und unsere Institutionen vor der Umwelt schützen, wenn diese aus den Fugen gerät. Wir müssen die grossen Umweltkrisen soweit wie möglich zu begrenzen versuchen, aber verhindern können wir sie nicht mehr. Die Verhinderung einer «gefährlichen anthropogenen Störung des Klimasystems», wie es das UN-Rahmenabkommen zum Klimawandel von 1992anstrebt, haben wir schon verpasst. Von neun wissenschaftlich bestimmten «planetaren Grenzen», die eingehalten werden müssten, damit die Ökosysteme stabil bleiben, sind heute sechs überschritten und eine siebente fast. Nachhaltigkeit muss heute deshalb auch danach fragen, wie man Resilienz schafft. Dazu haben wir uns auch völkerrechtlich verpflichtet, denn das ist eines der Ziele des Übereinkommens von Paris.
Und vielleicht sind einige von ihnen zusammengezuckt, als ich «Resilienz» sagte, denn dieser Begriff leidet wie die «Nachhaltigkeit» unter seiner inflationären Verwendung. Ich halte aber Resilienz wie auch Nachhaltigkeit für zu wertvolle Konzepte, um sie aufzugeben. Man muss einfach auf ihrer Bedeutung beharren.
Ich verstehe gesellschaftliche Resilienz als die Fähigkeit sozialer Systeme, sich zu transformieren, ohne ihre Funktionsfähigkeit als System zu verlieren. Oder in den Worten des IPCC: «Climate resilient development is a process of implementing greenhouse gas mitigation and adaptation options to support sustainable development for all in ways that support human and planetary health and well-being, equity and justice.» Nun lesen nicht allzu viele Leute und vor allem nicht allzu viele Politikerinnen und Politiker den IPCC-Bericht bis auf Seite 2734 seines zweiten Teils [IPCC AR6 WG2, 2022], wo man das genannte Zitat findet, und wenn man von Anpassung spricht, meint man meist Dinge wie Hochwasserverbauungen, Unwetterwarnsysteme oder die Züchtung trockenheitsresistenter Nutzpflanzensorten. Es stellt sich aber bis heute in der Politik noch praktisch niemand die Frage, wie die gesellschaftlichen Systeme als ganze die Schocks schwerer Umweltkrisen überstehen können.
Und hier ist unser Wissen wenig robust. Wir wissen zwar unheimlich genau, was wir mit unserem Planeten gerade anrichten, aber wir wissen sehr wenig über die Zukunft unserer Gesellschaften. Zukunft hatte immer schon die Eigenschaft, unbekannt zu sein, aber zukünftige Zukünfte, wenn Sie mir diese Formulierung erlauben – Zukünfte in einer Epoche, in der wir Menschen unsere Lebensbedingungen innert Jahrzehnten so sehr verändern, wie es sonst nur in geologischen Zeiträumen geschieht –, solche Zukünfte sind noch viel ungewisser. Die Moderne ging stets davon aus, dass sich Kultur wandelt, während Natur gegeben ist. Diese Trennung von Kultur und Natur ist überholt; es hat sie, wie Bruno Latour festgestellt hat, auch nie wirklich gegeben.
Resilienz schaffen im Zeitalter des Anthropozän heisst immer auch Handeln unter den Bedingungen sehr unvollständigen Wissens.
Was der IPCC-Bericht über die klimaresiliente Entwicklung sagt, ist einigermassen vage und abstrakt, aber immerhin: Erstens braucht es systemische Transformationen statt Symptombekämpfungen, und als Grundlage dafür erst einmal ein Systemverständnis.
Zweitens braucht es einen adaptiven Umgang mit Nichtwissen. Es braucht keine perfekten Lösungen – solche gibt es nicht (man kann die Klimakrise nicht «lösen») –, sondern die Fähigkeit, unperfekte Lösungen immer wieder nachzujustieren.
Drittens gilt es, es eine Vielzahl von Perspektiven und Wissensformen, darunter namentlich indigene, zu berücksichtigen.
Etwas salopp gesagt: Es braucht eine grosse Portion Dilettantismus und (um noch eine Begriff von Lévi-Strauss zu droppen) Bricolage.
Ich will nun hier noch ein Fensterchen öffnen, das ich im Zusammenhang mit meiner jüngsten Arbeit – meinem Buch Weil es Recht ist – entdeckt habe und hier nur streifen kann. Die Verfassung Ecuadors enthält den Satz «naturaleza o Pacha Mama tiene derechos», also: Die Natur oder Pachamama hat Rechte. Dass die Natur selber Rechtssubjekt ist, ist an sich schon interessant, aber was bedeutet dieser quechua-sprachige Begriff «Pacha Mama», der in der spanischsprachigen Verfassung offensichtlich ein Fremdkörper ist? Pacha Mama bezeichnet ungefähr das, was wir Natur nennen, fasst es aber ganz anders auf: als ein Netz von Beziehungen. Ein Wesen – Tier, Mensch, Pflanze, Landschaft – ist, was es ist, durch seine Beziehungen zu den anderen Wesen. Während die schweizerische Bundesverfassung fordert, es sei ein «ausgewogenes Verhältnis» zu schaffen zwischen «der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits», kennt Pacha Mama kein solches Einerseits-Andererseits.
Ich fand das, als ich das erst Mal davon hörte, interessant, aber auch ziemlich exotisch und ohne Relevanz für das schweizerische Rechtssystem, bis ich zwei Dinge realisierte:
Erstens hat sich das okzidentale Rechtssystem bereits einmal ganz entscheidend von indigenen Denken beeinflussen lassen. Die Aufklärerinnen und Aufklärer lasen Schriften europäischer Missionare, die bei Indigenen in Nordamerika gelebt hatten; diese Schriften waren populär und transportierten indigenes Gedankengut. Und es gab demokratisch verfasste indigene Gesellschaften in Nordamerika, während die Demokratie im Europa des Absolutismus einen schlechten Ruf hatte. Auch die Gründerväter der USA liessen sich von indigenen Denken beeinflussen (was sie nicht daran hinderte, die First Nations als Primitive anzusehen, die man entweder assimilieren oder vertreiben wollte).
Zweitens hat sich auch die Biologie der letzten gut 25 Jahre stark in die Richtung des Pacha-Mama-Verständnisses entwickelt – ich denke an Biologinnen wie Donna Haraway oder Robin Wall Kimmerer oder, schon älter, Lynn Margulis. Im späten 20. Jahrhundert hätten viele Biologen noch gesagt, ein Lebewesen werde durch sein Genom definiert. Heute weiss man, dass alle Lebewesen Symbiosen sind und ein einzelnes Genom noch kein lebensfähiges Wesen definiert. Pacha Mama ist viel weniger exotisch, als es auf der ersten Blick aussieht, und die ecuadorianische Verfassung ist den Verfassungen Europas eine Nasenlänge voraus.
Langfristig werden wir die Umweltkrisen nur bewältigen, wenn wir unser Verhältnis zur Umwelt – deren Teil wir sind – neu definieren. Pacha Mama kann eine Richtung vorgeben.
Ich fand das, als ich das erst Mal davon hörte, interessant, aber auch ziemlich exotisch und ohne Relevanz für das schweizerische Rechtssystem, bis ich zwei Dinge realisierte:
Erstens hat sich das okzidentale Rechtssystem bereits einmal ganz entscheidend von indigenen Denken beeinflussen lassen. Die Aufklärerinnen und Aufklärer lasen Schriften europäischer Missionare, die bei Indigenen in Nordamerika gelebt hatten; diese Schriften waren populär und transportierten indigenes Gedankengut. Und es gab demokratisch verfasste indigene Gesellschaften in Nordamerika, während die Demokratie im Europa des Absolutismus einen schlechten Ruf hatte. Auch die Gründerväter der USA liessen sich von indigenen Denken beeinflussen (was sie nicht daran hinderte, die First Nations als Primitive anzusehen, die man entweder assimilieren oder vertreiben wollte).
Zweitens hat sich auch die Biologie der letzten gut 25 Jahre stark in die Richtung des Pacha-Mama-Verständnisses entwickelt – ich denke an Biologinnen wie Donna Haraway oder Robin Wall Kimmerer oder, schon älter, Lynn Margulis. Im späten 20. Jahrhundert hätten viele Biologen noch gesagt, ein Lebewesen werde durch sein Genom definiert. Heute weiss man, dass alle Lebewesen Symbiosen sind und ein einzelnes Genom noch kein lebensfähiges Wesen definiert. Pacha Mama ist viel weniger exotisch, als es auf der ersten Blick aussieht, und die ecuadorianische Verfassung ist den Verfassungen Europas eine Nasenlänge voraus.
Langfristig werden wir die Umweltkrisen nur bewältigen, wenn wir unser Verhältnis zur Umwelt – deren Teil wir sind – neu definieren. Pacha Mama kann eine Richtung vorgeben.
Das lasse ich jetzt aber einfach so stehen und will, damit mein Schneckenkreis ein Kreis sei, mit Goethes Faust enden – mit einer Pointe, die für mich letztes Jahr sehr überraschend war. Dazu wechsle ich vom indigenen andinen zum mehr oder weniger indigenen alpinen Denken. Ich war im Abstimmungskampf für das KlG engagiert; mein Hauptgegner war der Walliser SVP-Nationalrat Michael Graber. Nach meinem Sieg und seiner Niederlage wollte ich ihn kennenlernen und für das Magazin der Tamedia-Zeitungen porträtieren. Mich interessierte, was das für ein Mensch ist. Zu meiner Überraschung sagte er zu. Wir sprachen sehr lange, da war sogar so etwas wie Sympathie. Und wir sprachen über Faust.
Jetzt erinnern Sie sich bitte an Hans Christoph Binswangers Faust-Lektüre von der kapitalistischen Geld- und Wachstumswirtschaft, die platt macht, was sich ihr entgegenstellt, und der Kulmination in der Geschichte von Philemon und Baucis. Goethe beendete seine Arbeit am Faust II 1831, die Ära der fossilen Energien hatte gerade begonnen – die Ära, deren Ende ich beschleunigen wollte, wogegen sich wiederum Michael Graber wehrte.
Nachdem Graber zum dritten oder vierten Mal Faust zitiert hatte, fragte ich ihn, ob er den ganzen Faust gelesen habe, auch Faust II. Er antwortete: Ja, er habe den ganzen Faust gelesen und finde ihn grossartig, und:
«Manchmal komme ich mir als Walliser vor wie Philemon und Baucis.»
Jetzt erinnern Sie sich bitte an Hans Christoph Binswangers Faust-Lektüre von der kapitalistischen Geld- und Wachstumswirtschaft, die platt macht, was sich ihr entgegenstellt, und der Kulmination in der Geschichte von Philemon und Baucis. Goethe beendete seine Arbeit am Faust II 1831, die Ära der fossilen Energien hatte gerade begonnen – die Ära, deren Ende ich beschleunigen wollte, wogegen sich wiederum Michael Graber wehrte.
Nachdem Graber zum dritten oder vierten Mal Faust zitiert hatte, fragte ich ihn, ob er den ganzen Faust gelesen habe, auch Faust II. Er antwortete: Ja, er habe den ganzen Faust gelesen und finde ihn grossartig, und:
«Manchmal komme ich mir als Walliser vor wie Philemon und Baucis.»