Guter Unterricht mit schlechter Literatur: Zweigs Schachnovelle
Lernziel: Interpretationsübung
Dass schlechte Texte als Beispiele für die Schreibdidaktik wichtig sein können, war mir immer klar. Sich zu fragen, warum ein Text schlecht ist, und ihn zu verbessern, ist ein praxisnaher Auftrag: Es ist die tägliche Arbeit aller, die mit Texten arbeiten. Dass auch ein hervorragend geschriebener, raffiniert komponierter, aber literarisch schlechter Text Grundlage guten Unterrichts sein kann, entdeckte ich aus Versehen. Was die Schüler:innen lernten, war so nicht geplant, lässt sich im Nachhinein aber feststellen: Es ging nicht darum, einen Text besser machen zu wollen. Die Schüler:innen lernten demagogische Textstrategien kennen, aber vor allem: Sie lasen einen literarischen Text gegen seinen Autor (und gegen ihren ersten Lektüreeindruck). Dabei lernten sie, dass das, «was der Autor uns sagen will», keineswegs die gültige Lesart eines literarischen Texts ist. Es war eine hervorragende Übung in Textinterpretation, mit einem Fokus auf Erzählperspektiven. Und die Schüler stritten textbasiert – auch das eine hervorragende Interpretationsübung.
Ausgangslage
Während der Covid-19-Pandemie entschied meine Schule kurzfristig, den Präsenzunterricht nach den Ferien eine Woche später beginnen zu lassen. Für diese eine Woche musste ich meiner neunten Klasse (mehrheitlich fünfzehn- und sechzehnjährige Gymnasiast:innen) einen Heimlektüreauftrag erteilen; einen Text von etwa hundert Seiten. Eine Kollegin empfahl mit die Schachnovelle, Stefan Zweigs letztes und meistgelesenes Werk von 1942. Ich erinnerte mich, die Novelle als junger Erwachsener gerne gelesen zu haben, und kaufte einen Klassensatz Bücher. Als ich die Schachnovelle dann, bereits in den Ferien, wiederlas, war ich entsetzt: Was für ein demagogischer, dünkelhafter Text voller antiserbischen Ressentiments, dessen Autor zudem keine Zweifel daran lässt, wo in diesem Text das Gute und wo das Böse sitzen – was er uns sagen will!
Aber gut geschrieben und spannend ist die Schachnovelle allemal und das hatte schon mal den großen Vorteil, dass die Schüler:innen ihn tatsächlich lasen – und gern lasen. (Ich selber fand ihn, so frei von Ambivalenz, langweilig.)
«Was will der Autor uns sagen»?
Was ein Autor oder eine Autorin dem Leser oder der Leserin «sagen will», ist die Frage, mit der die meisten Schüler:innen an einen Text herangehen, wenn sie nach einer Interpretation gefragt werden. Diese Interpretationshaltung ist in den meisten Kommunikationssituationen vernünftig. Wenn ich in einem Gespräch etwas nicht verstehe, überlege ich mir, was die Gesprächspartnerin mir sagen wollte. Wenn ich einen Brief bekomme, will ich wissen, was der Absender mir mitteilen will. Und die Rechtswissenschaft hat ausgeklügelte Methoden entwickelt, um herauszudestillieren, was der Gesetzgeber eigentlich sagen wollte, als er einen Gesetzestext verfasste – als wichtiges (nicht einziges) Kriterium der Auslegung dieses Texts.
Aber in der Literatur passt das nicht, denn Literatur ist Kunst (sollte es sein) und kein einfacher Mitteilungsakt (wenn es «einfache Mitteilungsakte» denn überhaupt gibt – aber das ist ein anderes Thema). Ein Kunstwerk, hat Umberto Eco gesagt, ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen. Das sollen Schüler:innen lernen. Und dazu scheint die Schachnovelle auf den ersten Blick sehr schlecht geeignet, denn der Text winkt mit der richtigen Interpretation seiner selbst wie mit einem Zaunpfahl.
Aber gerade deshalb eignete er sich hervorragend, wie sich herausstellen sollte.
Eine kurze Inhaltsangabe
Mirko Czentovic, geboren zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Sohn eines armen Donauschiffers im Banat, einer Region in Österreich-Ungarn, hat kaum Zugang zu Kultur und Bildung, erweist sich aber als Schach-Wunderkind. Er bringt es bis zum Weltmeister, bleibt dabei aber der kulturlose Bauerntölpel. Sein Schachspiel ist unschlagbar, aber ohne Eleganz, und er lässt sich «mit einer kleinlichen und oft sogar ordinären Habgier» gegen Geld von jedem herausfordern (Profisport, muss man den Schüler:innen sagen, war in den besseren Kreisen sehr verpönt). Um noch einmal Umberto Eco zu erwähnen: Eco hat in einer Analyse der James-Bond-Romane gezeigt, wie deren Autor Ian Fleming seine Bösewichte stets genialisch, aber mit körperlichen Mängeln und «rassisch» minderwertig darstellt. Ebenso stellt Zweig Czentovich dar: «eine groteske und beinahe komische Figur; trotz seinen feierlichen schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte mit einer etwas aufdringlichen Perlennadel und seiner mühsam manikürierten Finger blieb er in seinem Gehaben und in seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf die Stube des Pfarrers gefegt.» Als Serbe («Südslawe»; die Wörter «serbisch« oder «Serbien» kommen im Text nicht vor) ist Czentovic Angehöriger eines Volks, das die kaisertreuen k.-u.-k.-Nostalgiker nicht erst seit dem Mord am Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 verachteten («Serbien muss sterbien!»; das man muss das den Schüler:innen natürlich erklären: hier hier mein Handout als PDF). Sogar Czentovics Name ist fehlerhaft: «Čentović» wäre die korrekte Schreibweise.
B. ist ein kaisertreuer Anwalt aus der Wiener Oberschicht. Nach dem «Anschluss» Österreichs an Nazideutschland wird er von der Gestapo verhaftet, weil er dem abgesetzten Kaiser geholfen hat, Vermögen vor dem Fiskus zu verstecken. Die Gestapo setzt ihn unter Isolationsfolter. Als einzige Ablenkung hat B. ein Schachbuch und so beginnt er, der nie in seinem Leben ein Schachbrett berührt hat, die Partien im Buch auswendig zu lernen, in der Fantasie nachzuspielen, schließlich gegen sich selber zu spielen. Darüber wird er verrückt, wird aus der Haft ins Krankenhaus und schließlich in die Freiheit entlassen.
Auf einer Schiffspassage begegnen sich B. und Czentovic. Ein paar Passagiere (das Gendern erübrigt sich) arrangieren, nachdem ihnen B. seine Geschichte erzählt hat, eine Partie zwischen ihm und dem Weltmeister. B. spielt zum ersten Mal überhaupt gegen einen richtigen Gegner und natürlich gewinnt er. Auch die Revanche läuft zugunsten B.s, als dieser mitten im Spiel aufgibt, um nicht wieder seinem Wahn zu verfallen.
Das ist alles raffiniert konstruiert; die Begrenztheit der Räume (das Zimmer in B.s Gefängnis, das Schiff) spiegelt sich in der Begrenztheit des Schachbretts und so weiter, der Text präsentiert die Charakteristika einer Novelle auf dem Silbertablett und lässt sich nach Strich und Faden auf sein Novelle-Sein zurechtanalysieren, sehr unterrichtstauglich. (Viele Schüler:innen mögen es, wenn es klare Kriterien gibt, an denen man sich beim Lernen festhalten kann; für Lehrpersonen ist es praktisch beim Prüfen. Doch dafür ist mir auch ein Text, den ich so wenig mag wie die Schachnovelle, zu schade.)
Auftrag: Den Text gegen die Intention seines Autors lesen
Meine Klasse las den Text gern, identifizierte sich mit B. und empörte sich über Czentovics Rüpelhaftigkeit. Ich stellte den Schüler:innen einen simplen Auftrag: Lesen Sie die Schachnovelle, als wären Sie Anwalt oder Anwältin Czentovics. Die Schüler:innen erfüllten den Auftrag nicht ohne Widerstand: Sie änderten ungern einmal gefasste Sympathien; sie realisierten nicht gern, dass sie mit den Rachegelüsten des Ich-Erzählers mitgegangen waren. Aber das Detektivische an der Aufgabe wie auch das Spielerische faszinierte sie, mit dem wir nun, als Team von Anwält:innen, den Text gegen seinen Autor lasen.
Die Anwält:innen Czentovics fanden zwar nichts, was Czentovic sympathisch erscheinen ließe – aber zahlreiche Stellen, die zeigen, mit welch unfairen Mitteln alle Erzählinstanzen operieren, die ihn unsympathisch darstellen. Dabei läuft alles auf den Vorwurf hinaus, dass der arme Lümmel sich anmaßte, in eine soziale Schicht aufzusteigen, die ihm nicht zusteht. («Wie sollte ein einundzwanzigjähriger Bauernbursche aus dem Banat nicht den Eitelkeitskoller kriegen, wenn er plötzlich mit ein bisschen Figurenherumschieben auf einem Holzbrett in einer Woche mehr verdient als sein ganzes Dorf daheim mit Holzfällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzen Jahr?»)
Eine Anwältin Czentovics könnte zeigen, wie unvorteilhaft Czentovic eingeführt wird und wie ein Gericht (respektive die Leserin oder der Leser) dieser Einführung misstrauen müsste. Denn der Ich-Erzähler der Novelle erfährt von einem Freund, wer Czentovic sei, und dieser Freund weiß, was er erzählt, aus den Zeitungen. Das umfasst kleinste (und Czentovic stets als unsympathisch erscheinen lassende) Details über Begebenheiten zu einer Zeit, als Czentovic keinem Journalisten bekannt war, kann sich also nur um (böswillige) Erfindung handeln. Noch bevor der Ich-Erzähler Czentovic zum ersten Mal begegnet, hat er sich von ihm sein Bild gemacht. B. hingegen, der positive Held der Novelle, darf seine Geschichte selbst erzählen, als Binnenerzählung in Ich-Form.
Auch das Motiv der Schiffspassagiere, die Schachpartie B. gegen Czentovic zu arrangieren – so könnte Czentovics Anwältin weiter zeigen –, ist ein niederes: «… trieb der Gedanke, den kalten Hochmuts Czentovics zu brechen, uns eine fliegende Hitze durch alle Pulse» – «… wuchs unser Verlangen, einen derart unerschütterlichen Hochmut gedemütigt zu sehen.»
(Eine Zusammenstellung von Textstellen, die Czentovic charakterisieren, hier als PDF.)
Streitfall Literatur
Im Verlauf der Lektionen, in denen wir uns mit der Schachnovelle befassten, zeigte sich, dass sich die Schüler:innen nicht einig waren, ob die Novelle glücklich ende oder nicht. Ich ließ mich für die letzten beiden Lektionen vom Buch Literatur als Streitfall von Ralph Fehlmann und Villö Huszai (hep-Verlag Bern, 2020) inspirieren. Die Schüler:innen nahmen im Klassenzimmer so Platz, dass vorn links diejenigen saßen, die der Meinung waren, die Novelle weise ein Happyend auf, vorn rechts saßen diejenigen, die das Gegenteil fanden, und in den hinteren Reihen die Schüler:innen, die sich (noch) nicht festlegen wollten. Nun begannen die Schüler:innen in den vorderen Reihen miteinander zu debattieren. Ich moderierte nicht, protokollierte aber am Computer, während mein Bildschirm an die Leinwand projiziert war, so dass alle das Protokoll verfolgen konnten. Die Schüler:innen in den hinteren Reihen verfolgten die Debatte. Wer sich von einer der beiden Seiten hatte überzeugen lassen, wechselte in die vorderen Reihen und beteiligte sich an der Debatte. Wer schon vorn saß, konnte seine Meinung ändern und von links nach rechts oder umgekehrt wechseln.
Zwanzig Minuten lang diskutierten die Schüler:innen angeregt. Fanden zu Beginn 6 Schüler:innen, die Novelle habe ein Happyend, während 4 die gegenteilige Meinung vertraten und 14 unentschieden waren, stand es am Schluss 6:11 mit noch 7 Unentschiedenen. Großartig war die Intervention einer Schülerin aus den hinteren Reihen, die zwei Fragen in die Runde warf: «Was sind eure Kriterien dafür, ob ein Ende happy ist oder nicht?» und «Beurteilt ihr die Novelle aus eurer oder aus B.s Perspektive?»
Das Protokoll diente als Basis für die Abschlusslektion, in der wir analysierten, welche Vorstellungen von Literatur den geäußerten Argumenten zugrunde lagen.
Fazit
Nach einer Woche Heimlektüre und sechs gemeinsamen Lektionen hatten die Schüler:innen dank meinem Missgriff bei der Lektüreauswahl einen literarischen Text gelesen, der ihnen gefiel und der raffiniert geschrieben ist. Sie lernten dabei, dass man den selben Text auf sehr unterschiedliche Art und sogar gegen den eigenen Autor lesen kann (eine Fähigkeit, die etwa im Umgang mit Werbung oder politischer Propaganda sehr hilfreich ist); sie übten eine präzise Lektüre und die Analyse von Erzählperspektiven; sie reflektierten ihre eigenen Vorstellungen davon, was gute Literatur sei; und wir verbrachten gemeinsam ein paar höchst unterhaltsame Lektionen.
Was wollten wir mehr.
Dass schlechte Texte als Beispiele für die Schreibdidaktik wichtig sein können, war mir immer klar. Sich zu fragen, warum ein Text schlecht ist, und ihn zu verbessern, ist ein praxisnaher Auftrag: Es ist die tägliche Arbeit aller, die mit Texten arbeiten. Dass auch ein hervorragend geschriebener, raffiniert komponierter, aber literarisch schlechter Text Grundlage guten Unterrichts sein kann, entdeckte ich aus Versehen. Was die Schüler:innen lernten, war so nicht geplant, lässt sich im Nachhinein aber feststellen: Es ging nicht darum, einen Text besser machen zu wollen. Die Schüler:innen lernten demagogische Textstrategien kennen, aber vor allem: Sie lasen einen literarischen Text gegen seinen Autor (und gegen ihren ersten Lektüreeindruck). Dabei lernten sie, dass das, «was der Autor uns sagen will», keineswegs die gültige Lesart eines literarischen Texts ist. Es war eine hervorragende Übung in Textinterpretation, mit einem Fokus auf Erzählperspektiven. Und die Schüler stritten textbasiert – auch das eine hervorragende Interpretationsübung.
Ausgangslage
Während der Covid-19-Pandemie entschied meine Schule kurzfristig, den Präsenzunterricht nach den Ferien eine Woche später beginnen zu lassen. Für diese eine Woche musste ich meiner neunten Klasse (mehrheitlich fünfzehn- und sechzehnjährige Gymnasiast:innen) einen Heimlektüreauftrag erteilen; einen Text von etwa hundert Seiten. Eine Kollegin empfahl mit die Schachnovelle, Stefan Zweigs letztes und meistgelesenes Werk von 1942. Ich erinnerte mich, die Novelle als junger Erwachsener gerne gelesen zu haben, und kaufte einen Klassensatz Bücher. Als ich die Schachnovelle dann, bereits in den Ferien, wiederlas, war ich entsetzt: Was für ein demagogischer, dünkelhafter Text voller antiserbischen Ressentiments, dessen Autor zudem keine Zweifel daran lässt, wo in diesem Text das Gute und wo das Böse sitzen – was er uns sagen will!
Aber gut geschrieben und spannend ist die Schachnovelle allemal und das hatte schon mal den großen Vorteil, dass die Schüler:innen ihn tatsächlich lasen – und gern lasen. (Ich selber fand ihn, so frei von Ambivalenz, langweilig.)
«Was will der Autor uns sagen»?
Was ein Autor oder eine Autorin dem Leser oder der Leserin «sagen will», ist die Frage, mit der die meisten Schüler:innen an einen Text herangehen, wenn sie nach einer Interpretation gefragt werden. Diese Interpretationshaltung ist in den meisten Kommunikationssituationen vernünftig. Wenn ich in einem Gespräch etwas nicht verstehe, überlege ich mir, was die Gesprächspartnerin mir sagen wollte. Wenn ich einen Brief bekomme, will ich wissen, was der Absender mir mitteilen will. Und die Rechtswissenschaft hat ausgeklügelte Methoden entwickelt, um herauszudestillieren, was der Gesetzgeber eigentlich sagen wollte, als er einen Gesetzestext verfasste – als wichtiges (nicht einziges) Kriterium der Auslegung dieses Texts.
Aber in der Literatur passt das nicht, denn Literatur ist Kunst (sollte es sein) und kein einfacher Mitteilungsakt (wenn es «einfache Mitteilungsakte» denn überhaupt gibt – aber das ist ein anderes Thema). Ein Kunstwerk, hat Umberto Eco gesagt, ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen. Das sollen Schüler:innen lernen. Und dazu scheint die Schachnovelle auf den ersten Blick sehr schlecht geeignet, denn der Text winkt mit der richtigen Interpretation seiner selbst wie mit einem Zaunpfahl.
Aber gerade deshalb eignete er sich hervorragend, wie sich herausstellen sollte.
Eine kurze Inhaltsangabe
Mirko Czentovic, geboren zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Sohn eines armen Donauschiffers im Banat, einer Region in Österreich-Ungarn, hat kaum Zugang zu Kultur und Bildung, erweist sich aber als Schach-Wunderkind. Er bringt es bis zum Weltmeister, bleibt dabei aber der kulturlose Bauerntölpel. Sein Schachspiel ist unschlagbar, aber ohne Eleganz, und er lässt sich «mit einer kleinlichen und oft sogar ordinären Habgier» gegen Geld von jedem herausfordern (Profisport, muss man den Schüler:innen sagen, war in den besseren Kreisen sehr verpönt). Um noch einmal Umberto Eco zu erwähnen: Eco hat in einer Analyse der James-Bond-Romane gezeigt, wie deren Autor Ian Fleming seine Bösewichte stets genialisch, aber mit körperlichen Mängeln und «rassisch» minderwertig darstellt. Ebenso stellt Zweig Czentovich dar: «eine groteske und beinahe komische Figur; trotz seinen feierlichen schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte mit einer etwas aufdringlichen Perlennadel und seiner mühsam manikürierten Finger blieb er in seinem Gehaben und in seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf die Stube des Pfarrers gefegt.» Als Serbe («Südslawe»; die Wörter «serbisch« oder «Serbien» kommen im Text nicht vor) ist Czentovic Angehöriger eines Volks, das die kaisertreuen k.-u.-k.-Nostalgiker nicht erst seit dem Mord am Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 verachteten («Serbien muss sterbien!»; das man muss das den Schüler:innen natürlich erklären: hier hier mein Handout als PDF). Sogar Czentovics Name ist fehlerhaft: «Čentović» wäre die korrekte Schreibweise.
B. ist ein kaisertreuer Anwalt aus der Wiener Oberschicht. Nach dem «Anschluss» Österreichs an Nazideutschland wird er von der Gestapo verhaftet, weil er dem abgesetzten Kaiser geholfen hat, Vermögen vor dem Fiskus zu verstecken. Die Gestapo setzt ihn unter Isolationsfolter. Als einzige Ablenkung hat B. ein Schachbuch und so beginnt er, der nie in seinem Leben ein Schachbrett berührt hat, die Partien im Buch auswendig zu lernen, in der Fantasie nachzuspielen, schließlich gegen sich selber zu spielen. Darüber wird er verrückt, wird aus der Haft ins Krankenhaus und schließlich in die Freiheit entlassen.
Auf einer Schiffspassage begegnen sich B. und Czentovic. Ein paar Passagiere (das Gendern erübrigt sich) arrangieren, nachdem ihnen B. seine Geschichte erzählt hat, eine Partie zwischen ihm und dem Weltmeister. B. spielt zum ersten Mal überhaupt gegen einen richtigen Gegner und natürlich gewinnt er. Auch die Revanche läuft zugunsten B.s, als dieser mitten im Spiel aufgibt, um nicht wieder seinem Wahn zu verfallen.
Das ist alles raffiniert konstruiert; die Begrenztheit der Räume (das Zimmer in B.s Gefängnis, das Schiff) spiegelt sich in der Begrenztheit des Schachbretts und so weiter, der Text präsentiert die Charakteristika einer Novelle auf dem Silbertablett und lässt sich nach Strich und Faden auf sein Novelle-Sein zurechtanalysieren, sehr unterrichtstauglich. (Viele Schüler:innen mögen es, wenn es klare Kriterien gibt, an denen man sich beim Lernen festhalten kann; für Lehrpersonen ist es praktisch beim Prüfen. Doch dafür ist mir auch ein Text, den ich so wenig mag wie die Schachnovelle, zu schade.)
Auftrag: Den Text gegen die Intention seines Autors lesen
Meine Klasse las den Text gern, identifizierte sich mit B. und empörte sich über Czentovics Rüpelhaftigkeit. Ich stellte den Schüler:innen einen simplen Auftrag: Lesen Sie die Schachnovelle, als wären Sie Anwalt oder Anwältin Czentovics. Die Schüler:innen erfüllten den Auftrag nicht ohne Widerstand: Sie änderten ungern einmal gefasste Sympathien; sie realisierten nicht gern, dass sie mit den Rachegelüsten des Ich-Erzählers mitgegangen waren. Aber das Detektivische an der Aufgabe wie auch das Spielerische faszinierte sie, mit dem wir nun, als Team von Anwält:innen, den Text gegen seinen Autor lasen.
Die Anwält:innen Czentovics fanden zwar nichts, was Czentovic sympathisch erscheinen ließe – aber zahlreiche Stellen, die zeigen, mit welch unfairen Mitteln alle Erzählinstanzen operieren, die ihn unsympathisch darstellen. Dabei läuft alles auf den Vorwurf hinaus, dass der arme Lümmel sich anmaßte, in eine soziale Schicht aufzusteigen, die ihm nicht zusteht. («Wie sollte ein einundzwanzigjähriger Bauernbursche aus dem Banat nicht den Eitelkeitskoller kriegen, wenn er plötzlich mit ein bisschen Figurenherumschieben auf einem Holzbrett in einer Woche mehr verdient als sein ganzes Dorf daheim mit Holzfällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzen Jahr?»)
Eine Anwältin Czentovics könnte zeigen, wie unvorteilhaft Czentovic eingeführt wird und wie ein Gericht (respektive die Leserin oder der Leser) dieser Einführung misstrauen müsste. Denn der Ich-Erzähler der Novelle erfährt von einem Freund, wer Czentovic sei, und dieser Freund weiß, was er erzählt, aus den Zeitungen. Das umfasst kleinste (und Czentovic stets als unsympathisch erscheinen lassende) Details über Begebenheiten zu einer Zeit, als Czentovic keinem Journalisten bekannt war, kann sich also nur um (böswillige) Erfindung handeln. Noch bevor der Ich-Erzähler Czentovic zum ersten Mal begegnet, hat er sich von ihm sein Bild gemacht. B. hingegen, der positive Held der Novelle, darf seine Geschichte selbst erzählen, als Binnenerzählung in Ich-Form.
Auch das Motiv der Schiffspassagiere, die Schachpartie B. gegen Czentovic zu arrangieren – so könnte Czentovics Anwältin weiter zeigen –, ist ein niederes: «… trieb der Gedanke, den kalten Hochmuts Czentovics zu brechen, uns eine fliegende Hitze durch alle Pulse» – «… wuchs unser Verlangen, einen derart unerschütterlichen Hochmut gedemütigt zu sehen.»
(Eine Zusammenstellung von Textstellen, die Czentovic charakterisieren, hier als PDF.)
Streitfall Literatur
Im Verlauf der Lektionen, in denen wir uns mit der Schachnovelle befassten, zeigte sich, dass sich die Schüler:innen nicht einig waren, ob die Novelle glücklich ende oder nicht. Ich ließ mich für die letzten beiden Lektionen vom Buch Literatur als Streitfall von Ralph Fehlmann und Villö Huszai (hep-Verlag Bern, 2020) inspirieren. Die Schüler:innen nahmen im Klassenzimmer so Platz, dass vorn links diejenigen saßen, die der Meinung waren, die Novelle weise ein Happyend auf, vorn rechts saßen diejenigen, die das Gegenteil fanden, und in den hinteren Reihen die Schüler:innen, die sich (noch) nicht festlegen wollten. Nun begannen die Schüler:innen in den vorderen Reihen miteinander zu debattieren. Ich moderierte nicht, protokollierte aber am Computer, während mein Bildschirm an die Leinwand projiziert war, so dass alle das Protokoll verfolgen konnten. Die Schüler:innen in den hinteren Reihen verfolgten die Debatte. Wer sich von einer der beiden Seiten hatte überzeugen lassen, wechselte in die vorderen Reihen und beteiligte sich an der Debatte. Wer schon vorn saß, konnte seine Meinung ändern und von links nach rechts oder umgekehrt wechseln.
Zwanzig Minuten lang diskutierten die Schüler:innen angeregt. Fanden zu Beginn 6 Schüler:innen, die Novelle habe ein Happyend, während 4 die gegenteilige Meinung vertraten und 14 unentschieden waren, stand es am Schluss 6:11 mit noch 7 Unentschiedenen. Großartig war die Intervention einer Schülerin aus den hinteren Reihen, die zwei Fragen in die Runde warf: «Was sind eure Kriterien dafür, ob ein Ende happy ist oder nicht?» und «Beurteilt ihr die Novelle aus eurer oder aus B.s Perspektive?»
Das Protokoll diente als Basis für die Abschlusslektion, in der wir analysierten, welche Vorstellungen von Literatur den geäußerten Argumenten zugrunde lagen.
Fazit
Nach einer Woche Heimlektüre und sechs gemeinsamen Lektionen hatten die Schüler:innen dank meinem Missgriff bei der Lektüreauswahl einen literarischen Text gelesen, der ihnen gefiel und der raffiniert geschrieben ist. Sie lernten dabei, dass man den selben Text auf sehr unterschiedliche Art und sogar gegen den eigenen Autor lesen kann (eine Fähigkeit, die etwa im Umgang mit Werbung oder politischer Propaganda sehr hilfreich ist); sie übten eine präzise Lektüre und die Analyse von Erzählperspektiven; sie reflektierten ihre eigenen Vorstellungen davon, was gute Literatur sei; und wir verbrachten gemeinsam ein paar höchst unterhaltsame Lektionen.
Was wollten wir mehr.